Vortrag, IKETH, Bad Boll 31. Juli 2009

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Vortrag, IKETH, Bad Boll 31. Juli 2009:
Selbstkritische Impulse und Möglichkeiten, einen Wandel
innerhalb des Christentums herbeizuführen
von Dr. Hanna Stenström
Ich möchte mich zunächst für die Einladung bedanken, hier zum Thema „Selbstkritische
Impulse und Möglichkeiten für Wandel innerhalb des Christentums“ vorzutragen und in
Dialog mit euch allen zu treten. Es ist eine Ehre für mich und ich bin mir der damit
verbundenen Verantwortung bewusst. Ich hoffe, dass ich dem Thema gerecht werden kann
und uns ein wenig Inspiration für unsere weitere Reflexion und Arbeit gebe.
Des weiteren muss ich einige Bemerkungen vorweg schicken und ein wenig über mich
erzählen. Dem „Christentum“ in 45 Minuten gerecht zu werden ist unmöglich. Daher muss
ich mein Thema weiter eingrenzen. Vorträge der Art, wie ich sie hier halten soll, können
einem von zwei Modellen folgen: Entweder können sie eine Gesamtdarstellung der
selbstkritischen Beiträge wagen, die feministische christliche TheologInnen an das
Christentum herangetragen haben. Dies würde entweder mit einer kurzen Bemerkung zu einer
dominanten Form feministischer christlicher Theologie geschehen, oder aus einem Versuch
bestehen, den kleinsten gemeinsamen Nenner der feministischen christlichen Theologien zu
bestimmen. Oder ich könnte kurz skizzieren, warum das Christentum aus feministischer
Perspektive problematisch erscheint und dann einige feministische Positionen evaluieren, weil
sie mir selbst hilfreich scheinen. Diese Positionen wären dann entweder diejenigen, die am
bekanntesten oder einflussreichsten sind und damit einen Anknüpfungspunkt für weitere
Reflexionen bieten. Ich habe mich für die zweite Vorgehensweise entschieden und hoffe, dass
dies unsere Diskussionen anregen wird und anderen die Möglichkeit bietet andere Positionen
zu formulieren.
Noch einige Worte zu meiner eigenen Position: Ich bin eine Christin aus einer der
skandinavischen lutherischen Kirchen und eine Exegetin. Ich bin ordiniert und habe
Erfahrung in der Gemeindearbeit. Und ich bin eine feministische Theologin.
Dies bedeutet, dass ich in meinem Vortrag nicht auf die christlich-orthodoxen Traditionen
eingehen werde, da ich nur sehr rudimentäres Wissen auf diesem Gebiet habe und da
innerhalb dieser Traditionen bisher keine feministische Reflexion stattgefunden hat. Ich werde
auf eine römisch-katholische Theologin Bezug nehmen, aber ich kann nicht als ein „Insider“
dieser Tradition sprechen.
Ich bin Mitglied der Schwedischen Kirche, also eine Protestantin, die durch ihre Erziehung
und die Ausbildung zur Pfarrerin in der Lutherischen Kirche geprägt wurde. Die Lutherische
Kirche in Schweden hat eine sehr lose Bindung an das Erbe Luthers. Die Theologie und
Praxis meiner Kirche wird von vielen ökumenischen Einflüsse bestimmt, von Bewegungen
innerhalb der Kirche, der Universitätstheologie in Schweden und den Beziehungen von
Kirche und Gesellschaft in Schweden. „Lutherisch sein“ ist nur ein Teil eines größeren
Ganzen.
Die Schwedische Kirche ist seit der Reformation im 16. Jahrhundert eine Staatskirche: d.h. sie
ist einflussreichste Kirche mit enger Bindung an den Staat und großem Einfluss auf die
Geschichte und Kultur Schwedens. Heute ist die Schwedische Kirche keine Staatskirche
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mehr. Ihr Einfluss ist zurückgegangen, größtenteils durch populäre Erweckungsbewegungen
im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, die zur Formierung anderer Kirchen und
Konfessionen führten, durch Säkularisierung und die Entwicklung anderer gesellschaftlicher
und politischer Bewegungen, die ohne Religion auskommen. Dies sind Bewegungen, die das
gesellschaftliche und öffentliche Leben während des größten Teils des 20. Jahrhunderts
bestimmt haben und es gegenwärtig immer noch tun. In den letzen Jahrzehnten haben
Immigranten aus der ganzen Welt begonnen, unsere bis dahin eher homogene in eine
multikulturelle Gesellschaft zu verwandeln.
Ich stamme aus einem Land, in dem die Gleichberechtigung von Frauen und Männern ein
hohes Gut ist, das durch einige politische Reformen der letzten fünfzig Jahre gefördert wurde.
Dennoch können FeministInnen erkennen, dass patriarchale Normen und Strukturen immer
noch gelten. In der Schwedischen Kirche werden Frauen seit fünfzig Jahren ordiniert. Heute
sind Homosexuelle und Lesben offen auf allen Ebenen der Kirchenhierarchie vertreten, und
wahrscheinlich wird meine Kirche in diesem Herbst Ritualen für gleichgeschlechtliche Ehen
zustimmen.
Ich möchte betonen, dass mir klar ist, dass ich Einiges sagen werde, was spezifisch auf das
Christentum zutrifft. Andere meiner Ausführungen werden von Angehörigen anderer
Religionen vielleicht mit der Reaktion begrüßt: „Ach, das gibt es bei uns auch“ - wenn auch
vielleicht ein wenig anders. Wenn das passiert, würde ich mich sehr freuen. Ich habe bewusst
keine Vergleiche gezogen, sondern diese für euch alle offen gelassen, weil ich erstens zu
wenig Zeit für Vergleiche habe und zweitens zu wenig über die anderen religiösen
Traditionen der Menschheit weiß. Wenn ich betone, dass das Christentum in sehr
verschiedenen Formenen existiert und sich historisch gewandelt hat, dann behaupte ich nicht,
dass dies eine besondere Eigenschaft des Christentums ist, und dass das Judentum und der
Islam homogen und statisch wären – sie sind es nicht. Ich behaupte keinesfalls, dass
grundlegende ethische Einsichten oder die Überzeugung, dass Menschen von Gott geschaffen
wurden und vor Gott verantwortlich sind, einzig christliche Erkenntnisse und Überzeugungen
wären. Ich sage nur, dass es sie in meiner Tradition gibt und nicht, dass sie woanders nicht
auch vorhanden sind.
Schließlich, ich spreche von feministischer Theologie oder besser, Theologien, d.h. Theologie
aus einer bestimmten Perspektive, die sich auf die Machtverhältnisse konzentriert, die durch
bestimmte Verständnisse von Männlichkeit und Weiblichkeit bestehen. Ich spreche nicht von
„Frauen, die Theologie betreiben“. Frauen sind verschieden und sie verstehen sich als
Feministinnen oder auch nicht. Darüber hinaus gibt es auch Männer, die feministische
Überzeugungen teilen.
Nun zur eigentlichen Präsentation: Gibt es selbstkritische Impulse und Möglichkeiten einen
Wandel im Christentum herbeizuführen?
Zunächst sollte ich sagen, dass ich „Wandel“ folgendermaßen interpretiere: einmal als
„Erneuerung, die den Weg zur Gendergerechtigkeit ermöglicht“, um das Tagungsprogramm
zu zitieren, aber auch als eine Veränderung hin zu einem Christentum, das die Werte, die im
Zentrum anderer Religionen stehen, erkennt und respektiert. Wenn es einfach nur um eine
Frage nach der Möglichkeit für einen generellen „Wandel“ des Christentums ginge, dann
wäre es überhaupt keine richtige Frage, da das Christentum sich immer verändert hat, durch
die Geschichte hindurch und durch sein Eindringen in neue kulturelle Kontexte überall auf der
Welt, die seine verschiedenen Ausprägungen nachhaltig beeinflusst haben.
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Ich weise darauf hin, weil Aufrufe von FeministInnen für genderbezogene Änderungen in
Theologie und kirchlicher Praxis in meiner Erfahrung oft mit der folgenden Entgegnung
gekontert werden: Solche Änderungen seien nicht mit dem „klassischen Christentum“
vereinbar. In solchen Äußerungen wird das Christentum als eine Reihe von Dogmen
beschrieben, die durch die Generationen hindurch unverändert weitergegeben werden. Das
einzige, was sich verändert sind die Sprachen, in denen sie formuliert wird und die
kirchlichen Strukturen, die die Dogmen verwalten. Mit diesem Verständnis des Christentums
verbindet sich dann die Anklage, dass seit der Neuzeit einige liberale Christen und, in
unserem apokalyptischen Zeitalter auch noch einige FeministInnen daherkommen, und das
Christentum zu zerstören suchen.
Eigentlich braucht es jedoch nur einen Einführungskurs in die neutestamentliche
Wissenschaft und die Kirchengeschichte, um zu verstehen, dass das Christentum seit seinen
Anfängen vielfältig ist. Dass die großen Kirchen sich auf einige Dinge geeinigt haben, wie
z.B. die Bezeugung des biblischen Kanons und die altkirchlichen Glaubensbekenntnisse, ist
das Ergebnis eines langen Prozesses – und von Machtkämpfen. Der Kanon und die
Glaubensbekentnisse gewähren keinen Einblick in ein „reines“ Christentum an seinem
ruhmreichen Anfang bevor die Ketzer es zerstörten. Die Geschichte zeigt auch, dass das
Christentum deshalb überlebt hat, weil es sich an verschiedene Situationen anpassen konnte.
Wenn wir uns öffnen wollen für eine Änderung der Genderstrukturen, dann müssen wir diese
grundlegende Lektion wiederholen: Das Christentum hat sich immer dann verändert, wenn es
mit neuen kulturellen Kontexten zusammentraf. Von seinen Anfängen als eine apokalyptische
jüdische Bewegung, zu seiner Wandlung in eine der vielen synkretistischen Bewegungen der
hellenistisch-römischen Welt, und noch weiter bis heute. Das Christentum war und ist immer
vielfältig. Die Möglichkeit zur Veränderung und Vielfalt an sich sind eigentlich kein Thema.
Aber was ist dann das Thema oder was sind die Themen?
Es geht im Grunde genommen darum, ob Gender eine solch einzigartige Kategorie ist, dass
eine Änderung der Genderbeziehungen, eine Änderung im Vokabular und in den Bildern, die
für Gott benutzt werden usw., eine Veränderung des Christentums bedeutet, die sich von allen
vorhergehenden Wandeln unterscheidet.
Ich würde diese Frage einfach mit „Ja“ beantworten, denn feministische Forschungen in den
verschiedenen Gebieten der Religionswissenschaft und Theologie haben dies bereits gezeigt.
Obwohl es Unterschiede zwischen den einzelnen Kirchen und Konfessionen gibt – heute und
historisch betrachtet – sind ihnen allen die Strukturen patriarchaler Dominanz und femininer
Subordination gemein, ebenso wie androzentrische Denkstrukturen und eine androzentrische
Symbolik der Organisation und Gedankenwelten aller Kirchen und Konfessionen zugrunde
liegen.
Ich möchte darauf hinweisen, dass ich nicht behaupte, dass es eine homogene, statische
Patriarchie gibt, die zu allen Zeiten und an allen Orten identisch ist. Ich übersehe nicht, dass
es Unterschiede zwischen verschiedenen Epochen und Kulturen gibt, und dass an vielen Orten
sich die Situation bereits ändert. Dennoch ist es möglich, patriarchalische und androzentrische
Strukturen in Gesellschaft und Denkweisen zu identifizieren – auch in Kirchen wie meiner, in
der wir uns doch schon ein ganzes Stück in die Richtung der Gendergleichberechtigung
bewegt haben. Daher würde ich sagen, dass eine Kritik solcher Theologien und der Praktiken,
die sich auf sie stützen auf die Wurzel des Christentums zielt, und dies in einer Art, wie es
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Diskussionen über, sagen wir, das „Dogma der Versöhnung“, die sich nicht mit Genderfragen
auseinandersetzen, nicht tun.
Nach drei bis vier Jahrzehnten feministischer Forschung in den Disziplinen der Theologie und
der Religionswissenschaft wissen wir sehr genau, dass es nicht möglich ist, einen „guten“
oder „befreienden“ Inhalt einer Botschaft zeitloser Bedeutung von seiner kulturell bedingten
„schlechten“ oder „patriarchalen“ Form zu trennen. Die Beziehung zwischen „Form und
Inhalt“, zwischen dem kulturell bedingten und dem, was von weiterreichender Bedeutung ist,
ist wesentlich komplexer. Eine grundlegende Veränderung der Substanz hin zur
Gendergerechtigkeit in christlichen Kirchen und Konfessionen wird ein Wandel auf einer
tieferen Ebene sein mit wichtigen Konsequenzen für Theorie und Praxis, Grundstrukturen und
Details.
Es folgt, dass die selbstkritischen Impulse im Christentum heute, zumindest in den westlichen
Traditionen, aus der feministischen Forschung stammen und aus der Begegnung von
feministischer Arbeit an der Universität mit feministischem Aktivismus in den Kirchen, sowie
aus der Zusammenarbeit von feministischen ChristInnen mit denjenigen, die innerhalb der
Kirchen Macht haben. Es ist wichtig, dass Feministinnen ihr Recht zur Mitbestimmung von
Theologie und Praxis einfordern, und dass ihre Anliegen auf die Tagesordnung der
theologischen Diskussion im Christentum weltweit gesetzt werden. Doch der Widerstand
gegen die Veränderung des Christentums durch Feminismus ist ebenfalls wichtig. Ich nehme
an, dass ihr alle Beispiele dafür nennen könnt.
Die norwegische Gelehrte Kari Elisabeth Bǿrresen benennt drei Veränderungen der
Weltanschauung, die große Herausforderungen für das Christentum bedeutet haben. Der
Wechsel von einem geozentrischen zu einem heliozentrischen Weltbild; den Durchbruch des
Darwinismus, der lehrt, dass die Menschheit nicht das Zentrum des Schöpfung ist, sondern
eine Kreatur innerhalb eines komplexen Biosystems, das durch Evolution entstanden ist.
Obwohl es in den Kirchen immer noch Gegner der Evolutionstheorie gibt, ist sie von den
großen Kirchen akzeptiert worden. Dennoch ist es ein weiter Weg bis neue biologische
Erkenntnisse in ihren theologischen Konsequenzen bedacht werden.
Die dritte und radikalste Änderung der Weltanschauung ist der Zusammenbruch des
androzentrischen Verständnisses der Welt, das grundlegend für viele Kulturen in Ost und
West ist und daher auch zur Basis des Christentums gehört. Ein androzentrische
Weltanschauung durchdringt die Bibel und auch die christliche Tradition so stark, dass ihr
Zusammenbruch überall seine Spuren hinterlassen und das Christentum in den Grundfesten
erschüttern wird. Das Überleben des Christentums wird damit zum zentralen Thema. Eine
Herausforderung für ChristInnen heute ist die Frage, ob es noch ein „Christentum“ geben
wird, wenn das androzentrische Weltbild endgültig zerstört worden ist.
Das Ende des Androzentrismus wird nicht durch einen natürlichen Prozess herbeigeführt
werden, der sozusagen von selbst passiert. Es wird das Ergebnis von menschlicher Arbeit und
menschlichen Konflikten sein. Ebenso steht es mit der Frage nach dem Überleben des
Christentums. Kann es überleben? Ist es wichtig, dass es überlebt? Ist es wichtig, dass es nicht
nur überlebt, sondern seinen Weg zu einem erneuerten Leben findet, das bisher unbekannte
Möglichkeiten öffnet?
Diejenigen von uns, die ChristInnen sind und eine feministische Kritik des Christentums
angemessen finden und die Herausforderung annehmen, eine Antwort zu finden auf die Frage
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nach einem dem Androzentrismus folgenden Christentum, wir sind gefordert, die
grundlegendste Arbeit für eine Änderung unserer eigenen Tradition aufzunehmen. Wir sind
mit Herausforderungen konfrontiert, die radikaler sind als alle Herausforderungen, die unsere
Vorfahren bewältigten, z.B. während der Reformation. Vielleicht stehen wir der radikalsten
Herausforderung gegenüber, die dem Christentum jemals begegnet ist. Dies ist die Größe
unserer Leben als feministische ChristInnen, und die Ursache unseres großen Schmerzes und
unserer tiefen Freude.
Mit weiteren Beispielen kann gezeigt werden, dass feministische Theologien und
TheologInnen auf etwas tieferes zielen, auf etwas intensiveres und daher radikaleres, das
schwieriger zu erreichen ist (die folgende Aufzählung ist unvollständig):
Wie feministische Gelehrte, die mit biblischen Texten arbeiten sehr gut wissen, ist es nicht
schwierig biblische Texte zu finden, die soziale Gerechtigkeit verlangen, soziale
Gerechtigkeit im Allgemeinen, besonders in der Hebräischen Bibel, dass es aber sehr
schwierig ist, Texte zu finden, die für speziell für Gendergerechtigkeit plädieren. Ein
prophetischer Text, den man als Aufruf zur wirtschaftlichen Gerechtigkeit verstehen kann,
kann dennoch Genderbilder benutzen, die frauenfeindlich sind. Frauenfeindliche weiblichsexuelle Bilder werden von den prophetischen Büchern an die Visionen im Buch der
Offenbarung am Ende des christlichen Kanons weitergereicht, wo Gottes Sieg über das Böse
als das Töten und Verbrennen einer Prostituierten beschrieben wird.
Dieses Problem gibt es nicht nur mit biblischen Texten. Der radikale Charakter feministischer
Theologie zeigt sich auch in der feministischen Kritik einer progressiven christlichen
Bewegung, an der die feministische Theologie in gewissem Sinne teilhat: die
Befreiungstheologie. Die Befreiungstheologie – oder besser, die Befreiungstheologien –
haben selbstverständlich zur Selbstkritik und Erneuerung der christlichen Tradition
beigetragen, so wie zu Theologien und Praktiken, die Gerechtigkeit fördern. Sie gab
Menschen, die nicht weiß, westlich und wohlhabend waren, das Recht Subjekt einer
Theologie zu sein, und von den Machthaben in Kirchen und Universitäten gehört zu werden.
Dennoch haben feministische BefreiungstheologInnen gezeigt, dass die Gründerväter der
Befreiungstheologie Anliegen im Bereich der Sexualität, der reproduktiven Gesundheit und
des Rechts auf Fortpflanzung zunächst nicht in ihre Überlegungen und ihren Kampf für
Gerechtigkeit einschlossen – Anliegen, die für beide Geschlechter wichtig sind, jedoch
besonders für Frauen. Gendergerechtigkeit wurde nicht als wichtiger Teil der sozialen
Gerechtigkeit verstanden. Die Kritik der androzentrischen Weltanschauung und die Folgen
dieser Kritik für das christliche Gottesbild, christliche Anthropologie, christliche
Interpretation der Bibel usw. ist bei den großen Befreiungstheologen nicht vorhanden. Daher
fordert die Befreiungstheologie nicht nur die traditionelle Theologie heraus, sie läßt auch
einige Ungerechtigkeiten unberührt, sowie Grundstrukturen des Denkens, die Folgen haben
für soziale Strukturen und tatsächliches Leben.
Die jüngst verstorbene Marcella Althaus-Reid hat diese feministische Kritik vielleicht am
radikalsten formuliert. In ihren theologischen Werken bedenkt sie Menschen und
Erfahrungen, die nicht in die Befreiungstheologie miteinbezogen worden waren – die ganz
verarmten Frauen in den Städten, die auf eine Weise überleben, die nicht als „anständig“
angesehen wird, und ihre Erfahrungen der sexuellen Misshandlung. Sie arbeitet den
unterdrückenden Charakter des gesellschaftlichen „Anstands“ heraus, der von den
Befreiungstheologen nicht angezweifelt wird. Sie bezieht in ihre „unanständige“ und „queer“
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Theologie Frauen und Männer ein, die AußenseiterInnen sind, nicht nur für die
Befreiungstheologie, sondern auch für viele feministische Theologien, weil sie nicht den
Normen von Gender und Sexualität entsprechen, einschließlich Lesben, Schwulen, Bisexuelle
und Trans-Persons (d.h. Transgender und Transvestiten).
Daher gehen die Herausforderungen, die feministische Theologien an die christliche
Theologie richten, tiefer als die der Befreiungstheologie – sie weiten das Verständnis von
Gerechtigkeit aus und zeigen die blinden Flecken und Auslassungen sogar in den Theologien,
die behaupten, für Veränderung und Gerechtigkeit zu arbeiten. Feministische Theologie ist
dabei auch eine vielfältige Bewegung mit einem andauernden Prozess der Selbstkritik.
Womanist TheologInnen entblößen die rassistischen Gedankengebäude weißer FeministInnen
und fordern eine wirkliche Einbeziehung schwarzer Frauen. Jüdische FeministInnen weisen
auf die antijüdischen Elemente christlicher feministischer Theologien hin. Queer
TheologInnen fordern andere TheologInnen heraus, sexuelle Erfahrungen zu reflektieren, die
als unanständig gebrandmarkt und unter Schloss und Riegel gehalten wurden. Zu dieser Liste
müssen weitere theoretische Vorannahmen und Denkgebäude hinzugezählt werden, die die
Verschiedenheit feministischer Theorie widerspiegelen, sowie unterschiedliche Strategien,
einen Wandel herbeizuführen.
Wenden wir uns nun den „Werkzeugen für eine Erneuerung auf dem Weg zur
Gendergerechtigkeit“ in der christlichen Tradition zu, und betrachten einige Vorschlägen
christlicher FeministInnen dazu, wie ihre Tradition von innen heraus verändert werden kann.
Dabei spreche ich nicht primär als eine Akademikerin, sondern als christliche Theologin, die
versucht, Einsichten aus der Forschung in konstruktive theologische Arbeit zu integrieren.
Daher werde ich auch Überlegungen vortragen, über die wir höchst wahrscheinlich
verschiedener Meinung sind.
Um zu meinem eigentlichen Anliegen zu kommen, möchte ich erst klarstellen, warum ich so
viel Zeit auf die Probleme verwendet habe.
Erstens möchte ich mich von allen Formen der Apologetik distanzieren. Es ist meine ethische
Pflicht, ich sehe es als meine Verantwortung an als Akademikerin präzise zu benennen, was
die heutige Forschung unterstützen kann. Es ist auch meine ethische Pflicht zu sagen, dass
eine Verteidigung des Christentums durch eine Reduzierung der Probleme oder durch das
Argument, dass das Wesentliche des Christentums befreiend ist, dies aber durch patriarchale
Interpreten korrumpiert wurde, keine Strategie ist, die christlichen FeministInnen zur
Verfügung steht. Des weiteren bin ich davon überzeugt, dass Veränderung damit beginnt, die
Probleme in all ihrer Komplexität zu konfrontieren.
Zweitens habe ich mich so lange mit diesen Problemen beschäftigt, weil ich zeigen wollte,
dass das Christentum trotz des allgemeinen Androzentrismus ein dynamisches Phänomen ist,
das sich immer weiter verändert und von großer Verschiedenheit ist. Dies gibt mir Hoffnung,
dass neue Veränderungen, die weiter reichen als das, was bisher möglich war, in der Zukunft
möglich werden. Daher sind essentialistische Interpretationen des Christentums, seien sie
„patriarchal“ oder „feministisch“, nicht zu verteidigen.
Welche Strategien können wir verwenden, wenn wir uns nun also der konstruktiven Arbeit
einer „Erneuerung aus den christlichen Traditionen heraus“ zuwenden, mit dem Ziel
Gendergerechtigkeit herbeizuführen?
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Es gibt viele verschiedene Arten, die Möglichkeiten christlicher FeministInnen zu benennen.
Ich habe mich entschieden, zwei Wege zu präsentieren. Selbstverständlich sind diese beiden
Möglichkeiten Modelle, die die Dinge recht einfach und eindeutig erscheinen lassen. Es ist
klar, dass die verschiedenen feministischen Positionen oftmals wesentlich komplexer und
anspruchsvoller sind. Dennoch können uns vereinfachendes Modelle helfen, die
Möglichkeiten, die uns offen stehen, besser zu benennen, und es kann ein Ausgangspunkt für
eine Diskussion sein, die Nuancen und Variationen mit einbezieht. Mir ist klar, dass einige
Eigenschaften der Modelle spezifisch für das Christentum gelten, aber ich hoffe, dass sie auch
Elemente enthalten, die so angepasst werden können, dass sie wenigstens z.T. auch für andere
Traditionen relevant werden können, sowie für die feministische interreligiöse Arbeit
verschiedenster Art.
Das erste Modell orientiert sich an der Vergangenheit. Die Rechtfertigung für heutige
feministische Kämpfe wird in der Vergangenheit verortet, in der Gründerzeit des
Christentums, primär im Leben Jesu und seinen Praktiken. In biblischen Texten wird nach
Interpretationen gesucht, die aufdecken, was lange durch die patriarchale Auslegungstradition
begraben wurde. Selbst wenn eine nicht geringe Anzahl biblischer Texte aus feministischer
Perspektive problematisch sind ist es möglich, einen Kern biblischer Texte zu finden, die,
wenn richtig verstanden, gut und befreiend für Frauen sind.
Obwohl es eine Übersimplifizierung riskiert, würde ich behaupten, dass solche feministische
Strategien ein essentialistisches Verständnis des Christentums propagieren, das die
konservativen Interpretationen des „klassischen Christentums“ widerspiegelt, obwohl diese
feministische Version das „wahre“ Christentum – oft durch die Predigt und Praxis Jesu – als
befreiend für Frauen ansieht und Gendergerechtigkeit unterstützt. Diese Strategie ist sehr
einflussreich und hat vielen Feministinnen (und pro-feministischen Männern) ermöglicht,
ihren christlichen Glauben mit feministischen Überzeugungen zusammenzubringen. Dieses
Modell hat seine akademischen Versionen, obwohl ich denke, dass es heute ausserhalb der
Universitäten, in der Arbeit an den Grasswurzeln populärer ist. Dennoch ist es ein
problematisches Modell.
Leider habe ich keine Zeit, hier alle wichtigen Argumente vorzutragen. Feministische
Forschung über das frühe Christentum hat gezeigt, dass die historischen Realitäten wesentlich
schwieriger zu erfassen sind, als wir in den 1970er Jahren glaubten, und dass die Grundlagen
der kritischen Forschung, die die Jesusbewegung und das frühe Christentum als egalitär
beschrieben, zu instabil sind. Das Bild ist komplexer und kann nicht unhinterfragt verwendet
werden. Z.B. haben einige Frauen vermutlich sehr wohl geistliche/spirituelle Autorität
verliehen bekommen – aber die Voraussetzung dafür war wahrscheinlich, dass sie ein
asketisches Leben führten, Sexualität und Mutterschaft und damit ihre Weiblichkeit hinter
sich ließen, um „männliche Frauen“ zu werden.
Des weiteren lässt sich diese Position am einfachsten vertreten, wenn ChristInnen in Isolation
leben, was wir heute selbstverständlich nicht tun, Gott-sei-dank. Das Bild von „Jesus dem
Feministen“, der sich hell auf dem dunklen Hintergrund des patriarchalen Judentums abhebt,
verlor an Attraktivität für viele christliche FeministInnen, mich eingeschlossen, als jüdische
FeministInnen zeigten, dass dies nichts anderes ist als eine weitere Version christlicher
Selbstgerechtigkeit, als eine Version der grundlosen christlichen Idee christlicher
Überlegenheit; und als Gelehrte des frühen Judentums zeigten, dass die Situation der Frauen
im Judentum nicht so schlecht war, wie ChristInnen oft geglaubt haben, obwohl sie in einer
patriarchalen Kultur lebten, genau wie ihre nicht-jüdischen Schwestern. Ich denke auch, dass
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dieses Verständnis der Botschaft und Praxis Jesu zu Schwierigkeiten führen kann, wenn
Muslime und Christen zusammenleben. Dieses Modell kann dazu verwendet werden,
christliche Selbstgerechtigkeit im Bezug auf den Islam unterstützen, weil es bestimmte
islamische Frauenverständnisse als dem Christentum unterlegen ansieht.
Dazu kommt, dass ein solch „essentialistisches“ Verständnis des Christentums unserem
historischen Wissen diametral entgegensteht: wir wissen um den allgegenwärtigen Einfluss
des Androzentrismus und die Vielfalt des Christentums in so vielen Bereichen.
Daher sehe ich in der zweiten Möglichkeit einen besseren Weg vorwärts, einen Weg, der sich
besser mit unserem Wissen aus der Forschung integrieren lässt und auch, wie ich hoffe, besser
mit der inter-religiösen Arbeit kompatibel ist. Diese Möglichkeit ist nicht
vergangenheitsorientiert und geht nicht von einem „essentialistischen“ Verständnis des
Christentums aus. Sie geht vielmehr davon aus, dass das Christentum sich immer noch „im
Aufbau“ befindet; dass es eine Tradition ist, die sich ständig verändert, die in ihren Wurzeln
synkretistisch und offen für die Zukunft ist.
Mit Katheryn Tanner und meiner schwedischen Kollegin Anne-Louise Eriksson, können wir
sagen, dass das was es uns ermöglicht sehr verschiedene Menschen als ChristInnen zu
bezeichnen – sagen wir George Bush, den Papst und Marcella Althaus-Reid – ist nicht, dass
es einen kleinsten gemeinsamen Nenner gibt, mit dem alle einverstanden sind, sondern, dass
wir alle eine gemeinsame Aufgabe als unsere annehmen. Diese Aufgabe kann so formuliert
werden: Eine Antwort auf die Frage zu finden, was die christliche Geschichte von Jesus heute
bedeutet. Ich denke, dass dies ein hilfreicherer Ausgangspunkt für feministische Arbeit an der
Erneuerung des Christentums ist, als eine rückblickende Suche nach dem „Wesen“ des
Christentums oder dem „wahren Christentum“. Aber es ist auch eine schwierigere Aufgabe.
Die schmerzhafte und schwierige Größe christlicher FeministInnen ist es, zu formulieren, was
das Christentum nach dem Patriarchat sein kann.
Ich möchte noch zwei weitere Beispiele nennen für mögliche Ausgangspunkte für christliche
FeministInnen, die christliche Tradition zu erneuern und sich für Gendergerechtigkeit
einzusetzen.
Ich denke, dass man ein konstruktivistisches Verständnis des Christentums mit einem
bestimmten Verständnis von Schöpfungstheologie vereinbaren kann. Ich weiss, dass
„Schöpfungstheologie“ für viele von uns problematisch ist, weil sie einen statischen Glauben
in eine hierarchische und unveränderliche von Gott bestimmte Ordnung als Grundlage der
Welt vertritt. In dieser versteinerten Ordnung sind Frauen und Männern so wie verschiedenen
ethnischen Gruppierungen ihnen eigene Plätze und Rollen zugewiesen, usw. Ich beziehe mich
jedoch auf eine andere Version der Schöpfungstheologie, die betont, dass Schöpfung ein
dynamischer, ein nicht endender Prozess ist, in dem wir Menschen aufgerufen sind,
mitzuarbeiten. Alles was wir in unserem normalen Leben tun, auf der Arbeit, in der
gesellschaftlichen und politischen Arbeit, als Eltern usw., ist alles Teil dieser immer
weitergehenden Schöpfung. Diese Theologie setzt voraus, dass wir unsere intellektuellen und
spirituellen Fähigkeiten als von Gott gegeben verstehen. Dies macht es uns möglich, Werte
und Einsichten in alles Religionen der Welt wahrzunehmen.
Daher können wir sogar die Betonung der „Erneuerung von Innen“ in Frage stellen. Können
wir nicht auch fragen „Warum nur von Innen? Was ist falsch an dem, was Außen ist, am
Wandel, der von Außen an uns herangetragen wird? Ist es möglich, zu glauben, dass Gott die
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religiösen Gemeinden mit prophetischen Stimmen von Außen herausfordert, so wie z.B.
durch die Stimmen von Feministinnen in der Frauenbewegung?“
Solch ein konstruktivistisches Verständnis christlicher Theologie und feministischer
christlicher Theologie macht es möglich, interne Selbstkritik unter FeministInnen und neue
Themen, Theorien und Erfahrungen mit einzubeziehen, wie z.B. queer Theologie.
Zum Schluss einige Worte über Wege der Erneuerung christlich-feminstischer
Bibelauslegung.
Die dominanten Theorien der Textinterpretation heute betonen, dass die Bedeutung von
Texten in der Interaktion zwischen Text und LeserIn entsteht. Die Bedeutung liegt nicht
einfach im Text, so dass die LeserIn sie nur finden muss. Das Lesen von Texten wird von
sichtbaren und unsichtbaren Regeln bestimmt, die den Gemeinschaften der LeserInnen
zueigen sind. Daher stellen feministische LeserInnen biblischer Texte in akademischen und
religiösen Lesegemeinschaften Fragen an die Regeln der Interpretation und die
Machtstrukturen in diesen Gemeinschaften. Die einflussreichste feministische
Neutestamentlerin, Elisabeth Schüssler Fiorenza, ist vielleicht auch das beste Beispiel einer
Theologin, die die entscheidende Rolle der interpretierenden Gemeinschaft – der
Frauenkirche – innerhalb der feministischen Bibelauslegung betont, sowie die ethischen und
politischen Dimensionen der biblischen Forschung.
Ich finde die Ansätze der protestantischen Theologin Mary Ann Tolbert und der katholischen
Theologin Sandra Schneiders inspirierend für unsere weitere Arbeit.
Schneiders beginnt mit Riecoeurs Verständis von Texten als Projektionen einer Welt „in front
of themselves“. Interpreten der Bibel, einschließlich FeministInnen, haben oft nach der Welt
„hinter“ dem Text gefragt und das, was der ursprüngliche Autor ursprünglich sagen wollte zur
Bedeutung des Textes erklärt. Für religiöse FeministInnen geht es dagegen darum, eine
„frauenfreundliche“ oder „befreiende“ Bedeutung zu finden. Z.B. können die Worte des
Paulus „Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann
und Frau. Denn ihr seid alle eins in Jesus Christus“ als Ausdruck von Paulus‘ tiefster
Überzeugung angesehen werden. Und sie können als ein Ausdruck der Gleichberechtigung
der Geschlechter angesehen werden, des egalitären Ethos des frühen Christentums. Diese
Interpretation ist auch von feministischen Gelehrten angezweifelt worden, doch die
Argumentation ist zu kompliziert, um sie hier wiederzugeben.
Aber, so Schneiders, mit der Inspiration, die wir von Ricoeur erhalten, wird die Bedeutung
der Texte nicht mit den Intentionen ihrer Verfasser gleichgesetzt. Wie alle Texte projizieren
auch die Briefe des Paulus und andere biblische Texte neue Bedeutungen „in front of them“.
Diese werden durch die Interpretationen der Lesegemeinschaften gewonnen.
Schneiders verwendet die Aussage der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten als
Beispiel: „dass alle Menschen gleich erschaffen wurden“. Die Männer, die diese Worte
schrieben, sahen keinen Widerspruch zwischen dieser Aussage und der Sklavenhaltung oder
der Unterdrückung von Frauen. Praktisch bedeutete „Gleichheit“, die Gleichberechtigung
weißer wohlhabender Männer. Dennoch weisen diese Worte den Weg in eine andere Welt als
der, in der sie formuliert wurden. Diejenigen, die in einer Gemeinschaft lebten, die sich zu der
Zukunft wenden, in die diese Worte weisen, konnten daher an einem bestimmten historischen
Punkt sagen: „wenn alle Menschen gleich geschaffen wurden, dann muss die Sklavenhaltung
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abgeschafft werden“; und an einem anderen Punkt: „(das Wortspiel funktioniert nur im
Englischen „men“ = „Menschen“ aber auch „Männer“) ‚alle Menschen‘ muss tatsächlich ‚alle
Menschen‘ heißen, d.h. ‚alle Männer und Frauen‘, lasst uns für Gendergerechtigkeit arbeiten“.
Ebenso, so Schneiders, zeigen biblische Worte wie „Da ist weder Jude noch Grieche, da ist
weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Jesus
Christus“ in eine bestimmte Richtung und diejenigen, die in diese Richtung gehen, können
auf ihrem Weg vielleicht neue Bedeutungsmöglichkeiten finden und diese in die Praxis
umsetzen: Die Abschaffung der Sklavenhaltung, Gendergerechtigkeit usw. – Bedeutungen,
die sich Paulus selbst nicht vorstellen konnte.
Ein Vorteil einer solchen Leseweise ist, dass die Möglichkeiten neuer Interpretationen in
erheblicher intellektueller Reflexion begründet sind, die für alle Texte relevant ist. Ich kann
das hier nur andeuten. Ein weiterer Vorteil ist, dass wir nicht in anachronistischer Weise
Paulus, Jesus usw. benutzen müssen, um das zu sagen, was uns wichtig ist. Diese
Herangehensweise unterstützt auch die Interpretation, dass sich das Christentum „im Aufbau“
befindet und dies in der Kontinuität mit christlicher Geschichte steht, da die biblischen Texte
im Zentrum der Gemeinschaft stehen.
Mary Ann Tolberts Interpretation biblischer Autorität beginnt mit einem allgemeinen
Argument über Texte und wie Texte Autorität ausüben können. Sie arbeitet drei Formen der
Autorität von Texten heraus.
Die erste Autorität, ist die Autorität eines klassischen, meist literarischen Textes. Solch ein
Text kann „autoritativ“ für einen Menschen sein, die den Text liest und in dem Text eine
Beschreibung menschlichen Lebens, der grundlegenden menschlichen Situation usw. erkennt,
die sie als wahr oder wertvoll usw. erkennt. Diese Art der Autorität wird oft mit einer dem
Text inhärenten Qualität verbunden: Es ist die Autorität, die von großen literarischen Werken
ausgeübt wird. Es ist möglich, dass ChristInnen so die Bibel lesen, selbst wenn dies nicht die
traditionelle Form der biblischen Autorität darstellt. Und biblische Texte können so auch
„autoritativ“ für Angehörige anderer religiöser Traditionen sein, so wie für AtheistInnen und
AgnostikerInnen, ebenso wie die heiligen Schriften anderer Traditionen „autoritativ“ für
ChristInnen sein können.
Die dritte Autorität ist die des Gesetzes oder anderer verbindlicher Regeln, die mit
Institutionen verbunden sind – Gerichtshöfe, die Polizei usw. – , die eingreifen und bestrafen
können, wenn die Regeln nicht befolgt werden. Dies ist eine Autorität, die von Macht
verstärkt wird. Eine solche Autorität kann der Bibel und anderen religiösen Texten innerhalb
einer religiösen Gemeinschaft oder sogar in einer Gesellschaft gegeben werden.
Es gibt jedoch, so Tolbert, auch eine dritte Art der Autorität von Texten. Diese wird auf
Gemeinschaften ausgeübt, aber nicht durch Macht verstärkt. Es ist nicht die Autorität von
Texten einer gewissen Qualität, wie die der großen Literatur, sondern von Texten, die
grundlegend mit der Identität einer bestimmten Gruppe verbunden sind. Tolbert nimmt auch
auf die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten Bezug: Dies ist ein grundlegender
Text für die Konstruktion amerikanischer Identität, auf den im öffentlichen Leben ständig
Bezug genommen wird als eine allen gemeinsame Grundlage. Dieser Text kann sehr
verschieden interpretiert werden: Er spricht vom „Recht auf Leben“, was für einige mit der
Todesstrafe vereinbar ist, für andere aber als Argument gegen die Todesstrafe verwendet
wird. In Kampagnen gegen liberale Abtreibungsgesetzte behaupten einige, dass das „Recht
auf Leben“ auch für einen Fötus gilt, finden es aber gerechtfertigt Erwachsene, die
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Abtreibungen durchführen, zu ermorden, usw. Aber den Text der Unabhängigkeitserklärung
haben sie alle gemeinsam als Bezugspunkt, um sich zu rechtfertigen, zum Interpretieren. Die
BürgerInnen der Vereinigten Staaten können als ein Volk identifiziert werden, das sich auf
diesen Text bezieht, auf die Unabhängigkeitserklärung.
Die Bibel kann von ChristInnen in ähnlicher Weise verstanden werden: Christliche Identität
ist die Identität einer Gemeinschaft, die diesen Text gemeinsam hat und sich ständig auf ihn
bezieht. Dieses Verständnis schließt beides ein, Offenheit für neue Interpretationen und
Kontinuität mit der Vergangenheit.
Ich hoffe, dass ich einige Beispiele feministischer Impulse für Selbstkritik und Erneuerung
christlicher Theologien und Praxis aufzeigen konnte. Ich hoffe, dass es möglich ist
gemeinsam weiterzudenken, wie mein Vorschlag auf den inter-religiösen Dialog und die
inter-religiöser Arbeit bezogen werden kann, die zum Leben in unseren Gemeinden, Ländern
und in Europa beiträgt, in einer Zeit der wachsenden Unterstützung xenophobischer
politischer Parteien, wie wir in den Wahlen zum Europäischen Parlament gesehen haben.
Nationale und europäische Identitäten sind nicht essentialistisch und statisch zu verstehen,
sondern als kontinuierliche Konstruktionsprozesse. Unsere unterschiedliche nationale und
gemeinsame europäische Identität kann nicht daraus bestehen, uns alle einander ähnlich zu
machen, sondern daraus in all unserer Verschiedenheit, eine gemeinsame Aufgabe
anzupacken: nämlich eine andere Antwort auf die Frage zu geben, was es bedeutet
schwedisch, deutsch, britisch usw. und europäisch zu sein, als die Antwort, die von den
xenophobischen Bewegungen gegeben wird. Inter-religiöse Arbeit spielt eine wichtige Rolle
in der Bewältigung dieser Aufgabe.
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