Kirchliche Zeitgeschichte Von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart Eine Veranstaltung im Modul 2: Quellen und Entwicklungen – Das Christentum in seiner Geschichte, Sommer-Semester2005 (Eckehart Stöve) Textauszüge zum Thema: Christentum und Kultur. Über die soziale Akzeptanz des Christentums (7.7.05) 1. Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit (1811) Die allgemeine, die natürliche Religion bedarf eigentlich keines Glaubens: denn die Überzeugung, daß ein großes, hervorbringendes, ordnendes und leitendes Wesen sich gleichsam hinter der Natur verberge, um sich uns faßlich zu machen, eine solche Überzeugung dringt sich einem jeden auf; ja wenn er auch den Faden derselben, der ihn durchs Leben führt, manchmal fahren ließe, so wird er ihn doch gleich und überall wieder aufnehmen können. Ganz anders verhält sich's mit der besondern Religion, ... Diese Religion ist auf Glauben gegründet, der unerschütterlich sein muß, ... Zur Überzeugung kann man zurückkehren, aber nicht zum Glauben ...( I.4, Artemis 10.154) 2. Goethe: Gespräche mit Eckermann, 1832 Fragt man mich: ob es in meiner Natur sei, ihm [der Person Christi] anbetende Ehrfurcht zu erweisen? so sage ich: durchaus! - Ich beuge mich vor ihm, als der göttlichen Offenbarung des höchsten Prinzips der Sittlichkeit. - Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, die Sonne zu verehren, so sage ich abermals: durchaus! Denn sie ist gleichfalls eine Offenbarung des Höchsten, und zwar die mächtigste, die uns Erdenkindern wahrzunehmen vergönnt ist. Ich anbete in ihr das Licht und die zeugende Kraft Gottes, ... (Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (1836ff) , 11.3.1832) 3. Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Überwindung (1924) Die Tatsachen haben nun einmal Griechentum, Römertum und Nordeuropäer aufs engste mit dem Christentum zusammengeschweißt... Die europäische Idee der Persönlichkeit, ihres ewigen göttlichen Rechtes, des Fortschritts zu einem höheren Reich des Geistes und Gottes, die ungeheure Energie der Ausbreitung und der Verbindung von Geistlichem und Weltlichem, unserer Sozialordnung, unserer Wissenschaft, unserer Kunst; all das steht bewußt und unbewußt ... auf dem Boden dieses völlig entorientalisierten Christentums .... Das Christentum könnte nicht die Religion einer so hochentwickelten Menschheitsgruppe sein, wenn es nicht die gewaltige innere Kraft und Wahrheit hätte, wenn es nicht wirklich etwas von göttlichem Leben in sich enthielte. Davon gibt es bei dieser wie bei jeder anderen Theorie im Grunde die immer gleiche Evidenz einer tiefen inneren Erfahrung. Aus dieser Erfahrung ist zweifellos seine Geltung zu begründen, aber doch nur seine Geltung für uns. Es ist das uns zugewandte Antlitz Gottes für uns verpflichtend und uns erlösend, für uns absolut... Aber es ist dadurch nicht ausgeschlossen, daß andere Menschheitsgruppen ... auf eine individuell ganz andere Weise empfinden ... 4. Paul Tillich, Die Kirche und das Dritte Reich. Zehn Thesen (1932) 3. Sofern er [der Protestantismus] den Nationalismus und die Blut- und Rassenideologie durch eine Lehre von der göttlichen Schöpfungsordnung rechtfertigt, gibt er seine prophetische Grundlage zugunsten eines neuen offenen oder verhüllten Heidentums preis und verrät seinen Auftrag, für den einen Gott und die eine Menschheit zu zeugen. 4. Sofern er [der Protestantismus] der kapitalistisch-feudalen Herrschaftsform, deren Schutz der Nationalsozialismus tatsächlich dient, die Weihe gottesgewollter Autorität gibt, hilft er den Klassenkampf verewigen und verrät seinen Auftrag, gegen Vergewaltigung und für die Gerechtigkeit als Maßstab jeder Gesellschaftsordnung zu zeugen ... 6. Offizielle Neutralitätserklärungen der kirchlichen Instanzen ändern nichts an der tatsächlichen Haltung weitester evangelischer Kreise, Theologen und Laien. Sie werden vollends wertlos, wenn gleichzeitig kirchliche Maßnahmen gegen sozialistische Pfarrer und Gemeinden getroffen werden und Theologen, die dem heidnischen Nationalsozialismus entgegentreten, bei der Kirche keinerlei Schutz finden. 7. Der Protestantismus hat seinen prophetisch-christlichen Charakter darin zu bewähren, daß er dem Heidentum des Hakenkreuzes das Christentum des Kreuzes entgegenstellt. 5. Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums (1841) Wie der Mensch denkt, wie er gesinnt ist, so ist sein Gott: soviel Wert der Mensch hat, so viel Wert und nicht mehr hat sein Gott. Das Bewußtsein Gottes ist das Selbstbewußtsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen. Aus seinem Gotte erkennst du den Menschen, und wiederum aus dem Menschen seinen Gott; beides ist eins. Was dem Menschen Gott ist, das ist sein Geist, seine Seele, und was des Menschen Geist, seine Seele, sein Herz, das ist sein Gott ... (2.Kap). Die Religion ist das kindliche Wesen der Menschheit; aber das Kind sieht sein Wesen, den Menschen außer sich - als Kind ist der Mensch sich als ein anderer Mensch Gegenstand. Der geschichtliche Fortgang in den Religionen besteht deswegen darin, daß das, was der früheren Religion als etwas Objektives galt, ..., d.h. was als Gott angeschaut und angebetet wurde, jetzt als etwas Menschliches erkannt wird. Die frühere Religion ist der späteren Götzendienst: Der Mensch hat sein eigenes Wesen angebetet ...(ebd.) 6. Karl Marx – Religion, Opium des Volkes Luther hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußeren Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten gelegt ... Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. ... Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde (Karl Marx, Zur Kritik der hegelschen Rechtsphilosophie, 1843ca 7. Ernst Häckel – der Monismus des Kosmos Indem dieses höchste Naturgesetz ["Grundgesetz von der Erhaltung der Kraft und des Stoffes"] festgestellt und alle anderen ihm untergeordnet wurden, gelangten wir zu der Überzeugung, von der universalen Einheit der Natur und der ewigen Geltung der Naturgesetze. ... Damit vernichtet er [sc. der Monismus des Kosmos] aber zugleich die drei großen Zentraldogmen der bisherigen dualistischen Philosophie, den persönlichen Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens ... Der Monismus des Kosmos ... lehrt uns die ausnahmslose Geltung der "ewigen ehernen, großen Gesetze" im ganzen Universum (Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, 1899, Schluß) 8. Dostojewski, Die Legende vom Großinquisitor Es gibt drei Mächte, es sind die einzigen drei Mächte auf Erden, die das Gewissen dieser kraftlosen Empörer zu ihrem Glück auf ewig besiegen und bannen können, - das sind: das Wunder, das Geheimnis und die Autorität ... Hättest Du das Schwert und den Purpur des Kaisers angenommen, so hättest Du die Weltherrschaft begründet und der Welt den Frieden gegeben. ... Und so nahmen wir das Schwert des Kaisers, da wir es aber nahmen, verwarfen wir natürlich Dich und folgten ihm ... (Die Brüder Karamasow, 1879) 9. Friedrich Nietzsche – Gott ist tot Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: "Ich suche Gott!" ... "Wohin ist Gott?" rief er, "ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, - ihr und ich!... Was taten wir, als wir die Erde von ihrer Sonne losketteten? ... Gibt es noch ein Oben und Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? ... Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? ... (Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 1882) 10. EOK, Ansprache an die Geistlichen, 1890 Die Pietät stirbt dahin. Der religiöse Autoritätsglaube ist aufgegeben, aber den Wortführern [der Arbeiterbewegung] wird blindlings Folge geleistet. ... eine von unten nach oben steigende Erkrankung der Volksseele [ist im Gange]. Bereits sehen wir, wie auch solche Kreise ergriffen, dem Christentum entfremdet, der Frömmigkeit und ihren Übungen entwöhnt, der Leugnung Gottes und der übersinnlichen Welt zugeführt werden, welche bis dahin von solchen Abwegen sich ferngehalten haben (Kirchl. Gesetz- und Verordnungsblatt,. 1890, Nr. 1899)