Feministinnen werden nicht geboren

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Gesellschaftswissenschaften
Feministinnen werden nicht geboren...
... sondern gemacht. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus
Anlässlich der Verabschiedung eines
Studienprogramms für Gender Studies und feministische Wissenschaft
sind verschiedentlich Irritationen und
Bedenken der Art aufgekommen, ob
es so etwas wie feministische Wissenschaft geben könne oder ob es
zulässig sei, das Adjektiv feministisch mit Wissenschaft zu verbinden.
Zunächst sollen aber eine Reihe von
Definitionen von Feminismus, feministischer Forschung, feministischer
Theorie und feministischer Wissenschaftskritik vorgestellt werden, die
sich in erster Linie auf die Soziologin
Regina Becker-Schmidt, die Sozialpsychologin Gudrun-Axeli Knapp und
die Philosophinnen Sandra Harding,
Cornelia Klinger und Elisabeth List
stützen.
Der Begriff „Feminismus“ ist nicht
nur innerhalb des Feminismus, sondern auch zwischen dem Feminismus und seinen Kritikerinnen und
Kritikern umstritten. In bestimmten
Subkulturen innerhalb westlicher Gesellschaften und in lateinamerikanischen Ländern wird der Begriff Feminismus häufig wie ein Schimpfwort,
ähnlich wie der Begriff „Kommunismus“, benutzt. Die dahinter stehende Absicht: Frauen sollen daran
gehindert werden, sich über Klassen-, Rassen- und nationale Grenzen
hinweg zu organisieren; sie werden
„auf ihren Platz“ verwiesen. Auch die
weitverbreitete Tendenz in den westlichen Gesellschaften, dass Frauen
und Männer darauf bestehen, absolut nicht feministisch zu sein, im
nächsten Atemzug aber dieselben
intellektuellen und politischen Programme unterstützen, die andere
unter dem Namen „Feminismus“ vertreten, ist bemerkenswert. Diese
Nicht-Feministen und Nicht-Feministinnen sind auch dafür, Gewalt gegen Frauen, die sexuelle Ausbeutung, die Armut von Frauen, die
Diskriminierung im Beruf, den Ausschluss von öffentlichen Ämtern, ungleiche Bildungschancen oder sexistische Anschauungen in Biologie, Soziologie und Geschichte zu beenden.
Hier wird der Begriff „Feminismus“
als Etikett verwendet, um sich von
bestimmten Elementen, die er auch
einschließen kann, zu distanzieren.
Die Feministinnen selbst wetteifern mit vielfältigen und konträren
Alle Abbildungen aus: FrauenBilderLesebuch, ElefantenPress
Feminismus
Positionen darum zu definieren, was
als Feminismus gelten soll. Liberaler
Feminismus, sozialistischer Feminismus, afroamerikanischer Feminismus, Dritte-Welt-Feminismus,
lesbischer Feminismus und postmoderne Feminismen artikulieren je
unterschiedliche Maßstäbe für Alternativen zu den herrschenden Voreingenommenheiten der bestehenden
Wissenschaften. Darüber hinaus arbeiten Feministinnen in verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen
und hierarchischen Ebenen des Wissenschaftsbetriebs und erfahren sie
unterschiedlich.
Elisabeth List bezieht sich auf einen Workshop in Groningen 1984,
wo Feminismus als „transformative
Politik“ definiert wurde, die darauf
gerichtet ist, gesellschaftliche Institutionen zu verändern, jede Form
von Unterdrückung zu überwinden,
und nicht darauf, bestimmten Gruppen von Frauen innerhalb bestehen-
der Strukturen mehr Raum zu verschaffen. „Die Parteilichkeit, zu der
sich eine feministische Politik bekennt, ist die Parteilichkeit für eine
Gruppe von Menschen, die schwerwiegenden Formen der Diskriminierung unterworfen war und ist.“
Frauen- und
Geschlechterforschung
Regina Becker-Schmidt beschreibt
das Themenspektrum, in das sich
Frauen- und Geschlechterforschung
in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufgefächert hat.
(1) Obwohl sich krude Formen
der Biologisierung und Ontologisierung im Laufe der Zeit abgeschliffen
haben, wird die Differenz zwischen
Frauen und Männern als angeblich
unhintergehbares Phänomen immer
aufs Neue inszeniert. So setzten
sich in ihren Anfängen, das heißt in
den siebziger und achtziger Jahren,
„Frauenforscherinnen theoretisch
und empirisch mit der Frage auseinander, ob sich denn die Geschlechter nachweisbar unterscheiden“. Die
Frage war, ob wir, wenn wir von „Geschlechterdifferenz“ reden, immer
noch biologischen und anthropologischen Ideologien oder Soziologemen aufsitzen, die sexuelle Fixierungen und durch Sozialisationsprozesse verfestigte Geschlechterrollen
überschätzen. Nach Becker-Schmidt
gab es zwei Angriffsflächen: zum einen die Ausblendung der Kategorie
„Geschlecht“ in den Sozialwissenschaften, zum anderen biologische,
anthropologische und soziologistische Hypostasierungen von Geschlechterdifferenzen. Die Naturalisierung von Geschlechterdifferenzen
stieß auf einhellige Ablehnung. „Wir
werden nicht als Mädchen geboren –
wir werden dazu gemacht“, so der
Titel eines 1977 erschienenen Buches von Ursula Scheu. Mit der
Unterscheidung „geboren/gemacht“
grenzten sich Forscherinnen gegen
Positionen ab, die soziale Ungleichheit zwischen Frauen und Männern
auf Biologie oder invariante Persönlichkeitsstrukturen zurückführten.
(2) Die Geschlechterforschung
stellt sich als eine Ausdifferenzierung der Frauenforschung dar. In der
Wendung „Geschlecht als Strukturkategorie“ deutet sich eine theoretische und methodische Verschiebung
an. Die soziale Bezogenheit der Geschlechter wird relevant, und zwar
im Kontext von sozialgeschichtlich
situierten Gesellschaften. So differenzieren sich Frauenforschung, Geschlechterforschung und – als Weiterung – die Beschäftigung mit Geschlechterverhältnissen als Facetten
feministischer Theoriebildung aus.
Während die Frauenforschung
sich auf die Angehörigen der weiblichen Genus-Gruppe konzentriert,
um zum einen die Bedeutung ihrer
Erfahrungen und ihres Wissens bei
der Einrichtung von sozialen Räumen
herauszuarbeiten und zum anderen
ihre Rolle in der Kulturgeschichte
und der Wissenschaftsentwicklung
wider alles Vergessen in Erinnerung
zu bringen, nimmt die Geschlechterforschung, wenn es um die gesellschaftliche Benachteiligung von
Frauen geht, eine vergleichende Perspektive ein, wobei die männliche
Genus-Gruppe konsequenterweise
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der vorrangige Referenzpunkt von
Aussagen über geschlechtliche Ungleichheitslagen ist. Geschlechterforschung ist keine Alternative zur
Frauenforschung; es hängt von der
Fragestellung ab, welcher Zugang zu
wählen ist. Kritische Einwände gibt
es gegen beide Ansätze. So kann
die Frauenforschung Gefahr laufen,
in Bindestrich-Soziologien wie „Frauen und Arbeit“ stecken zu bleiben.
Aus der soziologischen Analyse fällt
dann heraus, wie geschlechtliche Ungleichbehandlung, die wir in einem
gesellschaftlichen Bereich vorfinden,
sich mit Nachrangigkeit oder Diskriminierung in anderen verbindet. Des
Weiteren werden die Bezugspunkte
für die Diagnose von Frauenbenachteiligung – nämlich Männerprivilegien
– nicht transparent.
Auch an der Geschlechterforschung ist Kritik laut geworden: Sie
verliere ihre Verbindung zu feministischen Positionen und zur Frauenbewegung, wenn das Erkenntnisinteresse zu akademisch werde, und der
Stachel der Kritik, der sich gegen
soziale Ungerechtigkeit wendet, abstumpfe. Mit Sicherheit können wir
sagen, dass sich die gesellschaftliche Stellung von Frauen und von
Männern nicht am Status in nur
einem sozialen Sektor festmachen
lässt. Die Positionierung qua Geschlechtszugehörigkeit in einem
Sektor hat vielmehr Auswirkungen
auf die Stellung in den anderen Sektoren. So bedarf es nicht nur der
Klärung, unter welchen Umständen
geschlechtliche Schieflagen in einzelnen gesellschaftlichen Bereichen,
beispielsweise im Ausbildungssystem, zustande kommen, sondern
darüber hinaus, durch welche Modalitäten sich gegen Frauen gerichtete
Benachteiligungsstrukturen über einzelne soziale Sphären wie Familie,
Arbeitsmarkt und Sozialstaat hinweg
verketten.
Zwischen der kulturellen Konstruktion von Differenz und der Hierarchisierung von Frauen- und Männerarbeit gibt es eine Wechselwirkung, die sich auf eine ungleiche Bewertung von Weiblichkeit und Männlichkeit stützt. Dass Geld als Tauschmittel mehr Wert hat als nicht marktvermittelte (Haus-)Arbeit, kann als
weiterer Hinweis dafür dienen, dass
es zwischen den sozialen Sphären –
hier: Familie und Erwerbsbereich –
eine Rangordnung gibt. Das Berufssystem kann mehr Einfluss auf die
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privaten Lebenswelten nehmen als
umgekehrt. Auf die Gesamtgesellschaft bezogen gilt: Trotz der Interdependenzen zwischen Sektoren,
die arbeitsteilig zum sozialen Zusammenhang beitragen, ist unsere
Gesellschaft kein ausgewogenes Ensemble von Sektoren, in dem alle
Segmente das ihnen angemessene
Gewicht haben. Wenn es um gesellschaftliche Entscheidungen geht, haben staatliche Politiksphären, militärische Einrichtungen und die Wirtschaft eine größere Wirkmächtigkeit
als das Bildungswesen oder private
Sozialisationsagenturen.
Das Prestige und der Einfluss
von gesellschaftlichen Sektoren entspricht nicht nur politisch-ökonomischen Logiken, sondern ebenso androzentrischen. Es sind in geschichtlicher Kontinuität die männlichen Aktionsfelder (Militärwesen,
internationale Politik, Wirtschaftsmanagement, Forschung), denen vorrangig soziale Relevanz zuerkannt
wird. Weibliche Praxen wurden aus
dieser Perspektive entwertet. Bei
der Abwertung der Hausarbeit als
nicht marktvermittelter, unbezahlter
und nicht professionalisierter Tätigkeit gegenüber bezahlter, öffentlicher und berufsförmiger Erwerbsarbeit konnte das männliche Geschlecht seine Maßstäbe geltend
machen. Die Hierarchisierung trifft
Frauen doppelt: Die Minderbewertung der Hausarbeit, ein weibliches
Betätigungsfeld, färbt auch auf die
Berufstätigkeit von Frauen ab – sie
ist ebenfalls keine „Männerarbeit“.
Die Hierarchisierung der Sektoren
entspricht der Wertschätzung männlicher Machtfelder, die daraus resultierende Rangordnung ist bestimmend für die Unterscheidung der Arbeitsformen. Die Stellung der Geschlechter reflektiert solcherart sektorale Über- und Unterordnungen,
mit der geschlechtliche Arbeitsteilung verflochten ist.
Das Geschlechterverhältnis ist
ein ideelles Gebilde, eine symbolische Ordnung und ein Sozialgefüge,
das eine materielle Basis hat. Die
beiden Konstruktionen sind nicht
identisch, verweisen aber aufeinander. Sie stützen sich wechselseitig
ab, haben eine gemeinsame Sozialgeschichte und sind beide durch
übergreifende Gesellschaftsformationen vermittelt.
Feministische Theorie
Eine Einführung in feministische Theorie hat es heute mit einem vielstimmigen und in sich kontroversen Diskurs zu tun. „Im Singular ist feministi-
sche Theorie nicht zu haben“, schreiben Regina Becker-Schmidt und Gudrun-Axeli Knapp. Das interdisziplinäre Feld feministischer Theoriebildung
wird allerdings durch ein gemeinsames Band zusammengehalten: das
wissenschaftlich-politische Interesse
an der Verfasstheit von Geschlechterverhältnissen und die Kritik an allen Formen von Macht und Herrschaft, die Frauen diskriminieren und
deklassieren. Anders als die Bezeichnungen „Frauen- oder Geschlechterforschung“, die sich eher auf den
Gegenstandsbereich der Analysen
richten, hebt das Adjektiv „feministisch“ den politischen Impetus dieser
wissenschaftlichen Strömung hervor
und kennzeichnet sie als eine Form
kritischer Theorie. Gleichzeitig verweist der Begriff „feministisch“, der
im 19. Jahrhundert geprägt wurde,
um die Emanzipationsbestrebungen
von Frauen zu beschreiben, auf ein
Moment historischer Kontinuität, das
auch für das Selbstverständnis feministischer Wissenschaftlerinnen in
der Gegenwart bedeutsam ist. Die
Geschichte der Frauen- und Geschlechterforschung und der feministischen Theorie im heutigen Verständnis beginnt mit der neuen Frauenbewegung Ende der sechziger
Jahre. Schon in frühen Texten, in denen Feministinnen sich über ihre Wis-
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senschaft äußern, deutet sich der enge Zusammenhang zwischen wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse und
politischer Praxis an; ein Spannungsverhältnis, in dem sich feministische
Theoriebildung trotz aller Akademisierung und Professionalisierung bis
heute bewegt.
Feministische Theorie bezeichnet demnach keine Festlegung auf
einen bestimmten Analyseansatz,
wohl aber das Festhalten an einer
kritischen Perspektive in der Analyse
von Geschlechterverhältnissen. In
diesem engeren Sinn ist nicht jede
Form der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Geschlechterthematik als „feministisch“ zu bezeichnen. Feministinnen rekurrieren
inzwischen auf ein breites Spektrum
theoretischer Traditionen, die unter
dem Gesichtspunkt ihrer Brauchbarkeit für ihre Forschungen evaluiert
werden. Aufgrund der verbreiteten
Blindheit überkommener Wissenschaft gegenüber Fragen des Geschlechterverhältnisses und wegen
der androzentrischen Ausrichtung ihrer Begrifflichkeit können jedoch nur
wenige Theorien – und dies gilt
selbst für die erklärtermaßen gesellschaftskritischen Ansätze – ohne Revisionen für feministische Fragestellungen nutzbar gemacht werden.
Die Frauen- und Geschlechterforschung ist also mit beharrenden und
dynamischen Tendenzen in der sozialen Strukturierung von Geschlechterverhältnissen konfrontiert. Die Betrachtung vergangener Geschlechterkonflikte kann unsere Wahrnehmung einerseits dafür sensibilisieren, wo Wandlungsprozesse stattfinden, aber andererseits auch dafür,
wo androzentrische Rhetoriken unter
neuen geschlechtlichen Machtdifferenzen wieder belebt werden. Die Inhalte mögen wechseln, weil die
Machtmittel sich geändert haben.
Aber ihre Funktion könnte die gleiche
geblieben sein: Frauen in relevanten
Einflusssphären zu marginalisieren.
Feministische Wissenschaftskritik – feministische Erkenntnistheorie
Nach Sandra Harding gibt es innerhalb des Feminismus mindestens
drei verschiedene Anschauungen
über die Wissenschaften. Feministinnen kritisieren nicht nur „schlechte
Wissenschaft“, sondern auch die
Problemstellungen, Programme,
Ethiken, Konsequenzen und den Status der sogenannten „science as
usual“. Diese Kritiken stehen im Zu-
sammenhang mit der Forderung
nach besserer Wissenschaft: Wichtige feministische Ansätze versprechen, empirisch adäquatere und theoretisch weniger voreingenommene
und verzerrte Beschreibungen und
Erklärungen von Frauen, Männern,
Geschlechterverhältnissen und allen
sonstigen sozialen und natürlichen
Welten bereitzustellen. Ebenso wie
sich der Feminismus als politisches
Programm durchaus innerhalb des
Rahmens politischer Legitimität bewegt, entspricht die kritische Frauenforschung in vielem den geltenden
Regeln des theoretischen Diskurses.
Der Diskussionsstand der letzten
Jahre reflektiert ein wachsendes Interesse an der Kritik der etablierten Wissenschaften, und zwar zunächst als
Kritik an einzelnen wissenschaftlichen
Disziplinen und dann als Kritik an den
androzentrischen Prämissen des traditionellen Vernunftverständnisses
und der modernen Kultur der Rationalität. Gerade weil Frauen als Subjekte
und Objekte der Wissenschaft die
Ausnahme und nicht die Regel sind,
lassen sich ihre Erkenntnisinteressen,
Methoden und Erfahrungsweisen
nicht unhinterfragt dem „male mainstream“ wissenschaftlicher Konventionen anpassen oder einfügen. Kritik an
und Abweichung von „normalwissen-
schaftlicher“ Theorie und Methode
sind deshalb ein charakteristisches
Element aller Forschung aus feministischer Perspektive – wenngleich keinesfalls ihr Privileg.
Eine angemessene Dokumentation des vielschichtigen Prozesses
der Theorieentwicklung, der die jüngere Frauenbewegung begleitet,
müsste nicht nur die Geschichte feministischer Reflexion, sondern auch
den sozialen und historischen Kontext der Frauenbewegung selbst reflektieren. Denn die theoretischen
Einsichten feministischer Analyse
spiegeln jene Prozesse sozialen
Wandels wider, die der Frauenbewegung als politische Bewegung erst
zum Durchbruch verhalfen.
Nach Sandra Harding kristallisieren feministische Analysen der Theorien wissenschaftlicher Erkenntnis
drei differente und sich zum Teil
widersprechende Herangehensweisen heraus.
Erstens gibt es die feministischempirischen Versuche, die feministische Kritik an wissenschaftlichen Ansprüchen in bestehende Theorien
wissenschaftlicher Erkenntnis einzubringen, indem sie argumentieren,
dass sexistische und androzentrische Forschungsergebnisse lediglich
das Resultat „schlechter Wissenschaft“ sind. Unter dieser Perspektive helfen Feministinnen der Wissenschaft, ihre bestehenden und anerkannten Prozeduren und Ziele besser zu verfolgen und zu erreichen.
Weitreichender sehen, zweitens,
die feministischen Standpunkt-Theorien das Problem. Sie gehen davon
aus, dass der vorherrschende kategoriale Rahmen der Natur- und Sozialwissenschaften den Erfahrungen
entspricht, die westliche Männer
der führenden Klassen und Rassen
mit sich selbst und ihrer Umwelt machen. Politische Auseinandersetzungen und feministische Theorie müssen diesen Feministinnen zufolge in
die Wissenschaften integriert werden, wenn wir fähig sein wollen, über
die bisher von den Wissenschaften
generierten partiellen und falschen
Weltbilder hinauszublicken. Wenn wir
bei der Forschung vom Leben der
Frauen ausgingen, könnten wir empirisch und theoretisch angemessenere, zumindest aber weniger voreingenommene und verzerrte Beschreibungen und Erklärungen erreichen.
Die dritte Herangehensweise
meint, dass auch die beiden genann41
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Abschließend seien noch kurz
fünf generell als „postmodern“ bezeichnete Feminismen erwähnt, die
wie sie von J. Dingler, R. Frey, U.
Frietsch, I. Jungwirth, I. Klemm und F.
Spottka dargestellt werden. Erstens
der so genannte „Social Postmodernism“, wie ihn Linda Nicholson und
Steven Seidman herausgearbeitet haben. Die Beiträge in dem Band „Social Postmodernism – Beyond Identity
Politics“ sollen eine Brücke zwischen
postmodernem Denken und politischer Ökonomie und sozialen Bewegungen schlagen und Potenziale postmodernen Denkens für Sozialtheorien
herausarbeiten. Zweitens der „postkoloniale Feminismus“, der vor allem
von Chandra Mohanty vertreten wird.
Ihre Kritik richtet sich gegen Tendenzen eines neokolonialen feministischen Denksystems, das durch ethnozentrischen Universalismus geprägt und sich der Auswirkungen
westlicher Wissenschaft auf die „Dritte Welt“ im Kontext eines westlich dominierten Weltsystems nur unzulänglich bewusst sei. Eine dritte Richtung
stellt der postmoderne oder „neuere“
Ökofeminismus dar, den Val Plumwood entwickelt hat. Sie wirft dem
„älteren“ Ökofeminismus vor, von einem essentialistischen Begriff von
Geschlecht auszugehen, der eine biologische Nähe von Frauen zur Natur
beinhaltet. Unter starken Anleihen an
das postmoderne Denken plädiert sie
für eine De-Essentialisierung von Geschlecht, argumentiert für eine De-Homogenisierung des Geschlechterbe-
griffs und stellt die reduktionistische
Analyse älterer Ökofeministinnen in
Frage, der zufolge aus der Kategorie
Gender alle weiteren Formen der
Unterdrückung oder Ausbeutung ableitbar sind. Viertens gehören die
„queer theory“ dazu und fünftens die
von Sandra Harding und Donna Haraway vertretene postmoderne Wissenschaftstheorie.
Feministische Wissenschaft
Im Hinblick auf die Vielfalt der Konzeptionen von feministischer Wissenschaft seien hier nur zwei polarisierende Positionen genannt. Die Mehrheit der feministischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
geht davon aus, dass feministische
Wissenschaften bereits existieren,
auch wenn der Begriff nicht überall,
wo feministische Wissenschaft betrieben wird, bei der Benennung der
Zentren, Studienfächer oder -pro-
Foto: privat
ten feministischen erkenntnistheoretischen Ansätze nicht radikal genug
sind. Beide hielten noch zu sehr fest
an dem „schädlichen Glauben“ der
Aufklärung an die Möglichkeit, eine
wahre Geschichte über die äußere
Wirklichkeit zu schreiben, die darauf
wartet, im Spiegel unseres Geistes
reflektiert zu werden. Die postmodernen Tendenzen im feministischen
Denken stellen die in der Vergangenheit viel zu intimen Beziehungen zwischen Wissenschaft und Macht heraus.
Sie fragen, ob feministische Erkenntnistheorien nicht eine Gedankenkontrolle fortsetzen, wie sie charakteristisch ist für konventionelle,
erkenntnistheoretisch zentrierte
Philosophien und Wissenschaften.
Die Kernfrage, die sich daraus ergibt, lautet: Können wir dieselben
Wissenschaften, die offenkundig so
eng mit westlichen bürgerlichen und
männlichen Projekten verknüpft sind,
für emanzipatorische Ziele einsetzen?
Frauen erscheinen ja nicht allein
als Vertreterinnen einer bestimmten
Interessengruppe, die um Gehör bittet, sondern als Denkerinnen, die eine Besorgnis über Wissenschaft und
Gesellschaft ausdrücken, die ihr
Echo auch in anderen Gegenkulturen
zur Wissenschaft hat – in antirassistischen und Dritte-Welt-Bewegungen,
in antikapitalistischen, ökologischen
und Friedensbewegungen. Es überrascht nicht, dass es in all diesen anderen Bewegungen auch Feministinnen gibt.
Diese Verlagerung der Fragestellung spiegelt das radikale Potenzial
des Feminismus. Er ist sowohl reformistisch als auch revolutionär; konventionelle politische Dichotomien
treffen seine wichtigsten Tendenzen
nicht. Einige sehen in ihm die jüngste der modernen Revolutionen, die
weltweit alle Kulturen berühren.
Die Zeit wird zeigen, wie wichtig
und erfolgreich der Feminismus als
soziale Bewegung sein wird; wir erleben heute nicht zum ersten Mal in
der Geschichte ein „Erwachen der
Frauen“, wie es die Feministinnen
des 19. Jahrhunderts nannten.
Unterdessen stellt die feministische
Herausforderung an die Wissenschaft für uns alle wichtige neue Fragen über unsere Geschichte und
über die Zukunft, die für die Beziehung zwischen Erkenntnis und sozialer Ordnung wünschenswert wäre.
gramme verwendet wird; ihr Verständnis von Feminismus und von
Wissenschaft korrespondiert mit gesellschaftspolitischen Einstellungen
und Ideen, die wir von anderen
emanzipatorischen Wissenschaftsbewegungen kennen und die in der
neuen sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung geläufig sind.
Demgegenüber vertritt eine Minderheit die Auffassung, dass der Begriff „feministische Wissenschaft“ für
Praktiken und Institutionen der Zukunft
vorbehalten sein sollte. Weitreichende
soziale Veränderungen müssten eintreten, bevor sich irgend etwas entwickelt, das begründet als feministische
Wissenschaft angesehen werden
kann. Elizabeth Fee formuliert Gründe
dafür, den Begriff feministische Wissenschaft für eine mögliche zukünftige Wissenschaft zu reservieren:
„Zum gegenwärtigen Zeitpunkt
entwickeln wir eine feministische Kritik der bestehenden Wissenschaft
und nicht etwa eine feministische
Wissenschaft. Die Kritik folgt aus
dem, was über die Beziehung von
Wissenschaft und Gesellschaft gesagt worden ist: Wir erwarten von einer sexistischen Gesellschaft, dass
sie eine sexistische Wissenschaft
entwickelt. Analog können wir von einer feministischen Gesellschaft erwarten, dass sie eine feministische
Wissenschaft entwickelt. Uns heute
eine feministische Wissenschaft in
einer feministische Gesellschaft vorzustellen, ist etwa so, als fragten wir
einen mittelalterlichen Bauern, er
möge sich die genetische Theorie
oder die Herstellung einer Raumkapsel vorstellen. . . . Es gibt keine Möglichkeit, sich im Voraus eine ausformulierte wissenschaftliche Theorie
vorzustellen. Es steht uns trotzdem
frei, mit Ideen zu spielen und Kriterien zu betrachten, die eine feministische Wissenschaft erfüllen sollte.“
Renate Rausch
Prof. Dr. em. Renate Rausch
Professorin am Institut für
Soziologie
Ketzerbach 11, 35037 Marburg
Telefon: 0 64 21/16 17 69
E-Mail: [email protected]
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