Carsten Passin Aufklärung oder Religion? Oder: wie im „evolutionären Humanismus“ das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Talk am Turm, Veranstaltungsreihe der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt e.V., Wittenberg, 04. Mai 2010 Zur Einstimmung in unser Thema möchte ich mit einem kleinen, sehr bekannten und für unsere Problematik zentralen Text beginnen, ohne ihn zu kommentieren: Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: »Ich suche Gott! Ich suche Gott!« Da dort gerade viele von denen zusammenstanden, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein großes Gelächter. Ist er denn verlorengegangen? sagte der eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? so schrien und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. »Wohin ist Gott?« rief er, »ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!« Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. »Ich komme zu früh«, sagte er dann, »ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert, es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehn und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne und doch haben sie dieselbe getan!« Man erzählt noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: »Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?« Sie haben ihn wohl erkannt: Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 125. Seit einigen Jahren, vor allem nach dem 9.September 2001 ist in der westlichen Welt ein Anschwellen der Diskussion um Religion, Glauben und Säkularismus bzw. den Begriff einer postsäkularen Gesellschaft zu beobachten. Die Bestsellerlisten als Meinungsbarometer zeigen es, alle großen sog. Qualitätspresseerzeugnisse haben das Thema regelmäßig auf den Titelseiten. Für die Brisanz des Themas kurz 2 Beispiele, die vielleicht nicht so häufig zitiert werden: Anfang der 90er gab es einen Plan, eine neue europäische Kulturzeitschrift zu gründen. Man fragte, völlig unabhängig voneinander, 2 bekannte Philosophen, welches denn das Thema des ersten Heftes sein solle. Die beiden Gefragten waren Gianni Vattimo, damals besonders als Staats- und Rechtsphilosoph bekannt und Jaques Derrida, einer der Begründer des Dekonstruktivismus, beide gerade nicht als besonders religiöse Denker bekannt. Beide antworteten unabhängig voneinander auf die Frage nach dem Thema: „Die Religion“. Derrida beschreibt das Weitere dann so: "Zeit: der 28. Februar 1994. Ort: eine Insel, Capri. Ein Hotel, ein Tisch, an dem die versammelten Freunde miteinander reden. Beinahe ungeordnet, ohne ordnende Begriffe außer einem Wort: dem klarsten und zugleich dunkelsten: Religion. Warum bereitet dieses Phänomen, diese überhastet "Rückkehr der Religionen" genannte Erscheinung so viele Schwierigkeiten? Warum versetzt es besonders jene in Erstaunen, die der Auffassung sind, es bestünde eine Opposition zwischen der Religion auf der einen Seite und der Vernunft, der Aufklärung, der Wissenschaft, der Kritik andererseits, als ob nur eine der beiden Seiten Bestand haben könnte? Beschränkt sich die "Rückkehr des Religiösen" auf das, was in der öffentlichen Meinung diffus "Fundamentalismus", "Integrationismus", "Fanatismus" genannt wird? Und so haben letztendlich historische Zwänge uns eine Frage vorgegeben." Daraus wurde dann 1998 der Tagungsband „Die Religion“(, in dem u.a. auch Hans Georg Gadamer, der große alte Mann der Hermeneutik, publizierte.) 1999 erschien ein Sonderheft des Merkur: „Nach Gott fragen. Über das Religiöse“. Wer es damals kaufen wollte und nicht gleich den nächsten Weg zur Buchhandlung nahm, wurde genauso in Erstaunen versetzt, wie die Redaktion des Merkur: erstmals in der Geschichte dieser Zeitschrift war ein Heft ausverkauft, in kürzester Zeit. Man musste nachdrucken. Das Phänomen des Fortbestehens von Religionen bringt mit sich, dass wir uns – soweit wir heute sehen können - auf einen dauerhaften Dissenz zwischen Gläubigen und Ungläubigen und zwischen Gläubigen verschiedener Bekenntnisse einrichten müssen. Das ist eine enorme geistige und politische Zumutung und Herausforderung für alle Beteiligten, besonders aber für die Nichtreligiösen, die Ungläubigen. Sie haben jetzt nach dem Ende der Illusion, dass Religion bald aussterben werde, also nicht weiter problematisch sei, etwas zu leisten, was den Gläubigen in der westlichen Welt schon seit Jahrhunderten geistig und praktisch weitaus mehr zugemutet war und erhebliche komplexe Lernprozesse erforderte. Diese sind bei weitem nicht abgeschlossen und müssen in jeder Generation auf bestimmte Weise wieder neu geleistet werden: Religiöse Menschen, in unserem Fall vorwiegend Christen, mußten in der Neuzeit einiges geistig verkraften und dafür eine Haltung und Sprache entwickeln: 1. Zuerst die konfessionelle Spaltung mit der Reformation, die ja einen tiefen irritierenden Riß durch religiöse Selbstverständlichkeiten zog. 2. Religiöse Menschen mussten sich mit dem Aufschwung der Wissenschaften zurechtfinden, mit den religionskritischen Zumutungen von Aufklärung und Metaphysikkritik. 3. Sodann mussten sie sich zunehmend in einer säkularer werdenden Welt zurechtfinden, in der Staat und Religion bzw. Kirche nicht mehr eine Einheit bildeten bis hin zur heutigen Trennung beider und der Durchsetzung positiver wie negativer Religionsfreiheit in liberalen demokratischen Gesellschaften. Religion ist nicht mehr die allgemein verbindliche Autorität in Fragen der Ethik, der Lebensführung, sie wurde zur Privatsache, der säkulare Staat definiert sich aus guten Gründen als weltanschaulich neutral. 4. entwickelte sich besonders in den letzten Jahrzehnten ein religiöser Pluralismus in unserer Gesellschaft, der Christentum als eine Religion unter vielen erscheinen lässt und ganz neue Anforderungen an die Selbstdarstellung und Praxis von Religionen stellt. Den Gläubigen wurde und wird hier also eine asymmetrische Bürde auferlegt, sie mussten etwas lernen, was ihren säkularen Mitbürgern recht mühelos zufiel, da sie solchen kognitiven (also erkenntismäßigen) Dissonanzen gar nicht erst ausgesetzt waren. Auf die unvermutete Weiterexistenz und Entfaltung von Religionen in der westlichen säkularen Gesellschaft und im Weltmaßstab kann von nichtreligiöser Seite aus mindestens in dreifach verschiedener Weise intellektuell reagiert werden: 1. Man kann das ignorieren: man nimmt es schlicht nicht zur Kenntnis oder bleibt dieser Kenntnis gegenüber völlig gleichgültig und geht in der Tagesordnung einfach weiter – d.i. die irreligiöse Position, die vor allem im Osten verbreitet ist. Eberhardt Tiefensee von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt beschreibt diese so: Streng genommen sind ... die meisten Ostdeutschen, besonders in den Altersschichten der jetzt über 30jährigen, wahrscheinlich nicht einmal als religiös unmusikalisch und auch nicht als antireligiös, sondern ... als irreligiös zu bezeichnen, d.h. sowohl ohne eigenes religiöses Erleben als auch ohne stärkeres Empfinden für diesen Mangel, weshalb ihnen dieser gesamte Bereich verschlossen bleibt. Ein Mensch also, der in einer Welt ohne Musik lebt, nach John Cage sogar in einer ohne Geräusche. Es ist, als ob er taub wäre, in unserem Fall religiös taub. Eine entscheidende Ursache für dieses von aktiven Christen nur schwer vorstellbare Phänomen dürfte der Verlust der religiösen Sprache sein.1 – ein Thema, das uns heute abend noch mehrfach begegnen wird. 2. Man kann gegen das Fortbestehen der Religion kämpfen mit mehr oder weniger lauteren und vernünftigen Mitteln, wie es u.a. jene tun, die heute unser Thema sind und die wir unter dem Namen eines „neuen Atheismus“, eines „evolutionären Humanismus“ oder etwas verschämter unter dem englischen Namen „Brights“ versammelt finden. Bright bedeutet hell, gescheit, leuchtend, strahlend – also eine erleuchtete, strahlende Gesellschaft. 3. Man kann aber auch das Phänomen des Fortbestehens von Religionen aus Respekt vor anderen geistigen Welten und aus einer philosophischen Offenheit heraus als kognitive Herausforderung ansehen und zu verstehen versuchen, was Religion in einer säkularen Welt bedeutet, welchen Stellenwert sie hat, und vor allem und daraus folgend: was säkulare Vernunft und Religion voneinander lernen können, wie das z.B. der nach seiner Selbstbeschreibung religiös unmusikalische Habermas tut. Er hat es seit seiner Rede „Glauben und Wissen“ nach dem 11. September 2001 und besonders in seinem Gespräch mit dem damaligen Kardinal Ratzinger vorgeführt. Zu b) Das Phänomen des sog. „neuen Atheismus“, dessen Name eine Medienerfindung und keine originale Selbstbeschreibung ist, ist sehr breit gestreut. Ich konzentriere mich heute nicht auf den internationalen Medienstar dieser Bewegung, Richard Dawkins, sondern auf die GIORDANO-BRUNO-STIFTUNG hier in Deutschland, genauer auf deren „Manifest des Evolutionären Humanismus“ mit dem Untertitel “Plädoyer für eine zeitgemäße Streitkultur“. Nach Auskunft ihres Autors, Michael Schmidt-Salomon, seines Zeichens Philosoph und Musiker, hat es mit diesem Manifest folgende Bewandtnis, worin für mich auch der Grund lag, es so ernst zu nehmen, dass ich Sie heute damit behellige: Auf der Frankfurter Buchmesse sagte MSS bei der Präsentation des Buches, es widerspiegele einen „großen Konsens ... bzgl. der Ziele, die die Stiftung verfolgen sollte, sowie ihrer grundlegenden Philosophie“. Es gäbe einen „eigentlich verblüffenden interdisziplinären Konsens“ zwischen 3 Evolutionsbiologen (Ulrich Kutschera, Volker Sommer und Franz Wuketits), einem Wissenschaftstheoretiker (Hans Albert), 1 Eberhard Tiefensee 1999 einem Soziologen (Johannes Neumann), einem Politologen (Carsten Frerk), einem Entwicklungspsychologen (Franz Buggle), einem Neurologen (Martin Brüne), einem Juristen (Gerhard Czermak) sowie 2 Philosophen (Hermann Josef Schmidt, MSS). Dieser Konsens sollte „nach außen hin kommuniziert“ werden. „Die Stiftungsbeiräte regten an, eine Basis-Schrift zu erstellen, die das Grundkonzept des evolutionären Humanismus erklärt und nebenbei in kompakter Weise die zentralen Ergebnisse der wissenschaftlichen und philosophischen Aufklärungsarbeit der letzten Jahrzehnte zusammenfasst.. ... Angesichts der vielen positiven Rückmeldungen aus dem Stiftungskreis, denke ich, dass das Buch im Großen und Ganzen die Position aller Stiftungsmitglieder wiedergibt, auch wenn der eine oder andere vielleicht diese oder jene Detailfrage anders bewerten würde. „ Es handelt sich also um eine Schrift, die dank der versammelten wissenschaftlichen Kompetenz sehr ernst genommen werden möchte und von dem man eine hohe Kultur geistiger Auseinandersetzung erwarten darf. Um so mehr, als es hierbei ja nicht um bloße geistige Gefechte geht, sondern um politischen Einfluß und pädagogische Machtpositionen. Denn die GIORDANO-BRUNO-STIFTUNG wurde genau zu diesem demokratischen Zweck politischer Lobbyarbeit und Interessenvertretung als Think Tank gegründet. Wir können in der kurzen Zeit nur einen zentralen Punkt herausgreifen, das Religionsverständnis und die Weise des Umgangs mit Religionen und Gläubigen. Mir geht es nicht um Einzelfragen, sondern um den Geist, der hier aus meiner Sicht zu walten scheint und für den die publicity-Maschine in vielerlei Weise angeworfen wurde – ein typisches Beispiel werden wir nachher noch als kleines Filmchen zu sehen bekommen. [Susi Neunmalklug erklärt die Evolution] Ich denke, mit dem Bild von Religion und Glauben steht und fällt die Antwort auf die Frage, wie ernst man den jeweiligen nicht- oder antireligiösen Entwurf als Alternative zur Religion nehmen muß. Um es gleich vorweg zu sagen: In diesem Buch wie in vielen anderen Publikationen werden massenhaft argumentativ Bezüge hergestellt zu realen inhumanen, grausamen, gewalttätigen Seiten der Praxis von Religionsvertretern in Geschichte und Gegenwart, es wird realer geistiger und praktischer Dogmatismus bzw. Fundamentalismus in Religionen u.ä.m. dargestellt und gedeutet Soweit diese inhumanen Phänomene als ethisch unvertretbar und kritikwürdig, praktisch nicht hinnehmbar und als bekämpfenswert charakterisiert werden können, wird der Kritik daran wohl kaum einer seine Zustimmung versagen können und wollen. Es gibt sehr wohl eine schreckliche Kriminalgeschichte des Christentums. Und es gibt auch unter dem Bodenpersonal Gottes das Phänomen, dass man dazu allzu häufig schweigt, herumdruckst, verniedlicht, abtut usw. usf. Solches Verhalten lehrt etwas über Menschen, Macht und personelle wie historische Grenzen christlichen Selbstverständnisses. Für mich ist das alles eher ein Argument für das, was traditionell unter „Erbsünde“ gefasst wurde, nämlich das grundsätzlich Problematische am Menschen, statt für das was sich hier im Manifest als evolutionär-humanistischer Rousseauismus zeigt. Dieser glaubt, dass der Mensch bzw. der „Affe in uns“ „bei genauerer Betrachtung gar kein unfreundlicher Geselle ist. Obgleich wir natürlich anerkennen müssen, dass die bisherige Geschichte der Menschheit - auch aufgrund unseres biologischen Rüstzeugs - über weite Strecken eine Geschichte der Unmenschlichkeit war, so gibt es doch gute Gründe für die Annahme, dass sich der Mensch unter günstigen Umständen zu einem ungewöhnlich sanften, freundlichen und kreativen Tier entwickeln kann“.. (S.15) Wozu dann der ganze Haß auf die Verbrecher in der Soutane usw., wenn doch nur die schlechten Umstände schuld sind? Was im Manifest zur kriminellen Seite des Christentums gesagt wird, erübrigt eigentlich schon jedes weitere Lesen, tun wir es trotzdem, dazu sind wir ja hier: (S.52) Anläßlich der apokalyptischen Offenbarung des Johannes,: „jenes "große Trost- und Mahnbuch der Kirche", mit dem die Bibel ihr grandioses Finale findet“ schreibt MSS, mit kursiver Hervorhebung:. „Aus der gesamten Weltliteratur ist uns kaum ein Text überliefert, der von derart grenzenlosem Sadismus geprägt ist. Die literarischen Ergüsse des Marquis de Sade wirken demgegenüber beinahe wie naive Gute-Nacht-Geschichten. Unwissenheit kennzeichnet aber nicht nur den Umgang mit den sog. "heiligen Texten", sondern auch den Umgang mit der Religionsgeschichte, die man, wie Karlheinz Deschner eindrucksvoll zeigte, nur als Kriminalgeschichte" beschreiben darf, will man sich nicht selbst zum Komplizen machen.“ Nun, glücklicherweise hängt von solchen privaten Definitionen nicht ab, ob jemand Komplize von Verbrechen ist, oder nicht. Mich erinnert das fatal an die Logik von Sippenhaft und Kollektivschuld. Wobei Schuld ja gerade ein Begriff ist, den MSS abschaffen will, siehe sein letztes Buch, mit dem er sich in die Nachfolge Nietzsche´s zu stellen wünscht bzw. gar als dessen Fortsetzer auftritt: „Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind“. Es ist äußerst problematisch, wenn Religionen per se als gewalttätig, verdummend, inhuman usw. definiert und auf dieser Grundlage abserviert werden sollen. Um das bewerkstelligen zu können, muß man biblizistisch, buchstabengläubig sein wie der radikalste Evangelikale. Alle Christen z.B., die einen anderen Umgang mit ihrer Bibel pflegen, die die theologischen Entwicklungen der letzten 5 Jahrhunderte einschließlich historisch-kritischer, sprachtheoretischer und sonstiger wissenschaftlicher Bibelverständnisse ernst nehmen, gelten den geistigen Urhebern des Manifest als „Christen light“, als „folkloristische Religionsattrappe“ (S.78). Das sei kein echter, originaler, wirklicher, „authentischer“ Glaube, wie etwa der Islam (78) und insofern auch nicht ernst zu nehmen. Richtige Religion ist hiernach blind wortgläubig, ohne wenn und aber. Peter Sloterdijk hatte für diese Umgangsweise gestern abend hier in diesem Raum eine erhellende Beschreibung. Religion ist für ihn ja ein Übungsprogramm, ein Lebensführungsystem, in dem eine bestimmte Ethik trainiert wird – vgl. sein Buch „Du musst dein Leben ändern.“ Zur Religionskritik der neuen Atheisten bemerkte er nur lapidar, hier würden völlig Untrainierte über Trainierte plappern. Schleiermacher und später besonders Max Weber prägten den Begriff des religiös Unmusikalischen, um diesen vom religiösen Virtuosen abzugrenzen. Sloterdijks völlig Untrainierter wäre in dieser Terminologie der religiös Vor- oder Nichtmusikalische. Wem sollte man aber Aufmerksamkeit schenken, wenn von Musik gesprochen wird? Oder noch einmal anders gesagt: wer nie geliebt hat und geliebt wurde, wie soll der die Rede von Liebe verstehen? Wer nie Farben sah und theoretisch alles über sie weiß, kann sie nicht empfinden, kann letztendlich nicht verstehen, nicht nachvollziehen, was Farben sehen bedeutet. Die „Entzauberungssoldaten“ – ein Wort, das meiner Frau kürzlich im Zorn über die missionarischen Wissenschaftsfundamentalisten herausrutschte - dürften kaum in der Lage sein, das an religiösen Weltdeutungen zu fassen, was Rudolf Otto vom mysterium fascinans reden ließ. Ein weiteres zentrales Beispiel zum Religionsverständnis (aus dem Manifest-Kapitel „Über die notwendige Konversion des Religiösen“): Nachdem der Autor sich darüber ausgelassen hat, dass die grausamen 10 Gebote immer noch bei vielen Menschen als ethischer Maßstab gelten, lässt er seine Leser wissen, (und jetzt wägen Sie bitte die Worte und verstehen Sie meinen Zorn): „Gewiss: Die Unwissenheit der sog. "Christen“ beschränkt sich nicht bloß auf die Zehn Gebote bzw. das Alte Testament. Wem ist schon bewusst, dass der synoptische Jesus in der ansonsten für biblische Verhältnisse ungewöhnlich sanften "Bergpredigt" - die wahrscheinlich auf den Einfluss kynischer (also heidnischer!) Wanderprediger zurückgeht!" - das harmlose, nur gedanklich "unkeusche" Betrachten einer verheirateten Frau auf eine Weise kommentiert, die jedes Fundamentalisten-Herz vor Entzücken höher schlagen lässt? ("Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verlorengeht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird.") Ohnehin neigen heutige Christen dazu, die in ethischer Hinsicht peinliche Tatsache zu verdrängen, dass ihrem "Heiland" offenbar eine ganz spezielle "Endlösung der Ungläubigenfrage" vorschwebte: Das Himmelreich versprach der "Erlöser" nämlich nur einer kleinen Schar bedingungslos Gläubiger ("Denn viele sind gerufen, aber nur wenige auserwählt“. Dem überwiegenden Teil der Menschheit stellte er dagegen eine Art jenseitiges Auschwitz" mit Engeln als Selektionären an der "himmlischen Rampe" in Aussicht. Anders lassen sich seine häufig wiederholten, pyromanischen Rachefantasien kaum interpretieren: „Der Menschensohn wird seine Engel aussenden, und sie werden aus seinem Reich alle zusammenholen, die andere verführt und Gottes Gesetz übertreten haben, und werden sie in den Ofen werfen, in dem das Feuer brennt. Dort werden sie heulen und mit den Zähnen knirschen." Wem all dies noch nicht genügen sollte, um die ethische Kompetenz des vermeintlichen "Buchs der Bücher" in Frage zu stellen, sollte einmal einen Blick in die ..Offenbarung des Johannes werfen ...“ (S51), die er in einer Fußnote hier noch einmal als „grenzenlose Hasspredigt“ wertet - aber davon hörten wir ja bereits. Das ist mindestens geschmacklos ... – Kompetenz im Umgang mit religiösen Texten bezeugt es kaum. Zum Abschluß des Kapitels erfahren wir dann auch, was der tiefste Grund der „verheerende(n) Wirkung der Religionen (incl. der politischen Religionen!) (ist), deren Blutspur sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht. Die Ursache liegt nicht bloß in den konkreten Eigenarten von Religion A, B oder C begründet. Die entscheidenden Probleme finden sich bereits auf weit abstrakterer Ebene, nämlich im religiösen Zugang zur Welt an sich. (S. 52) 3 fundamentale Gefahren würden evolutionären Humanisten darin erkennen. Ich fasse das mal zusammen: 1. Religiöses Denken arbeite mit Etikettenschwindel und unlauterer Vorteilsnahme, da es Argumente benutze, die auf höherer nichtmenschlicher Ebene beheimatet seien. Es berufe sich auf höhere, nicht nachprüfbare Einsichten. Das ist eine echte Anfrage an Gläubige, die so etwas ja allzuoft tun. Glaube argumentiert aber nicht, sonst verlässt er seinen Geltungsbereich und wird zur Theorie. 2. MSS definiert das religiöse Denken als einen Virus, der darauf ausgerichtet sei, die menschliche Vernunft lahm zu legen. Sei diese erst einmal mit dem religiösen Virus infiziert, dann sei alles Absurde möglich im Glauben und der ihm folgenden Praxis. Man beachte das hier und an vielen anderen Stellen , auch bei Dawkins häufig verwendete medi-zynische Bild des Virus, der Infektion. Was tut eigentlich Medizin, wenn Viren auftreten? Sie tut alles, um sie zu vernichten. 3. Der religiöse Zugang zur Welt sei gekoppelt an eine zutiefst autoritäre Denkstruktur. Im neuen Atheismus hören wir allüberall das Argument, Gott sei das Synonym für die totale Fremdbestimmung. Davon müsse man sich befreien, um endlich wirklich selbstbestimmt zu werden [besonders ausgeprägt bei Paul Schulz, einem Pastor, der zu einem atheistischen, besser antitheistischen Glauben konvertierte und diese These zur Grundlage seiner Theorie macht]. Das erinnert mich an das Niveau philosophischer Diskussionen in der 9. Klasse, wo die Schüler in aller Regel auch keinerlei Ahnung etwa von Luthers Neubetonung der christlichen Freiheit haben, in der gerade die Bindung an Gott von den weltlichen Mächten befreit. Als Ossi, der den verordneten Parteiatheismus in der DDR und in der sowjetischen Variante erlebt hat, kann ich zu diesem Geist und Herangehen im Manifest nur sagen: was für ein Glück, in einer Demokratie zu leben, wo solche Geister nicht einfach und direkt ihre Ideen machtpolitisch umsetzen können. Gepriesen sei - in diesem Fall - die Langwierigkeit und Langweiligkeit demokratischer Verfahren der Machterringung. Selbstverständlich sehen sich Schmidt-Salomon und Mitstreiter als liberale Demokraten, singen das Loblied einer kritischen Rationalität – und dieses Selbstbild kann man ihnen auch glauben, wenn man ihren berechtigten Zorn gegen Gewalt, Dummheit und geistig-praktische Tyrannei in der Geschichte und Gegenwart von Religionen als Bezugspunkt nimmt. Nur wäre dann, damit Selbstbild und Realität in eine gewisse Kongruenz kommen, eine andere Sprache angemessen, eine, die nicht von Hass und Verachtung sprüht, die nicht, wie jede Sprache der Gewalt, sich in menschlichen Angelegenheiten in abstrakten Verallgemeinerungen ergeht, sondern eine, die zeigt, dass man um Verstehen bemüht ist. Nur setzt das eben auch die Haltung voraus, Verstehen zu wollen. Diese wiederum ist wohl nur möglich, wenn nicht die Arroganz waltet, die sich im Leitspruch der GIORDANO-BRUNO-STIFTUNG ausspricht: „Wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzt, braucht keine Religion.“ Wie, so frage ich mich, kann jemand Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitzen? Vermutlich glaubt man dort auch, man könne Religion besitzen. Das erklärt wohl ein wenig ihre Übereinstimmung mit den religiösen Fundamentalisten im Religionsverständnis. Zu c) Wie können Alternativen für ein fruchtbares Gespräch zwischen Religionen und säkularen Weltdeutungen aussehen; oder: Das Fortbestehen von Religionen als kognitive Herausforderung für Nichtgläubige; oder auch: was kann die Philosophie, was kann säkulare Vernunft von Religionen lernen? Ich beziehe mich hierzu auf Anregungen von Jürgen Habermas. Heute heißt es sehr oft: „Das muß doch jeder selber wissen!“ In dieser Formel drückt sich insbesondere bei jungen Leuten nicht nur ein gehöriges Maß an Selbstüberforderung, sondern auch das ernsthafte Problem aus, dass in einer säkularen Gesellschaft niemand mehr einen allgemein verbindlichen Begriff vom guten und exemplarischen Leben geben kann und durchsetzen darf. Philosophie und teilweise auch Politik haben ethische Enthaltsamkeit zu üben. Religionen tun gerade das Gegenteil und das wird auch von ihnen erwartet. Darum liegt in der Religion ein nicht zu unterschätzendes Potential, meint Habermas. Sie kann etwas, was säkulare Vernunft und Philosophie nicht bzw. nicht so können: in heiligen Schriften und religiösen Überlieferungen (sind) Intuitionen von Verfehlung und Erlösung, vom rettenden Ausgang aus einem als heillos erfahrenen Leben artikuliert, über Jahrtausende hinweg subtil ausbuchstabiert und hermeneutisch wachgehalten worden. Deshalb kann im Gemeindeleben der Religionsgemeinschaften, sofern sie nur Dogmatismus und Gewissenszwang vermeiden, etwas intakt bleiben, was andernorts verloren gegangen ist und mit dem professionellen Wissen von Experten allein auch nicht wiederhergestellt werden kann – ich meine hinreichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten und Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge. Aus der Asymmetrie der epistemischen Ansprüche lässt sich eine Lernbereitschaft der Philosophie gegenüber der Religion begründen, und zwar nicht aus funktionalen, sondern ... aus inhaltlichen Gründen. Mit anderen Worten: Religion kann also etwas, was Philosophie nicht kann, sie hat einen Zugang zur Wirklichkeit, zu Problemsichten, die nur sie hat, die aber für alle Menschen, auch für die Ungläubigen wichtig sein können. Ja mehr noch: die abendländische Philosophie hat in wesentlichen Teilen von der Aneignung christlicher Gehalte gelebt, die in philosophische Grundbegriffe eingegangen, sozusagen vom Himmel auf die Erde herabgesunken sind. Und nicht nur in philosophische, sondern auch in politische, psychologische u.a. geisteswissenschaftliche Begriffsfelder. Erinnert sei hier an Carl Schmitts These, dass alle zentralen modernen politischen Begriffe ehemals theologische Begriffe waren (Politische Theologie I) Habermas nennt Beispiele: Diese Aneignungsarbeit hat sich in schwer beladenen normativen Begriffsnetzen wie Verantwortung, Autonomie und Rechtfertigung, wie Geschichte und Erinnerung, Neubeginnen, Innovation und Wiederkehr, wie Emanzipation und Erfüllung, wie Entäußerung, Verinnerlichung und Verkörperung, Individualität und Gemeinschaft niedergeschlagen. Sie hat den ursprünglich religiösen Sinn zwar transformiert, aber nicht auf eine entleerende Weise deflationiert und aufgezehrt. Die Übersetzung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen in die gleiche und unbedingt zu achtende Würde aller Menschen ist eine solche rettende Übersetzung. Sie erschließt den Gehalt biblischer Begriffe über die Grenzen einer Religionsgemeinschaft hinaus dem allgemeinen Publikum von Andersgläubigen und Ungläubigen. Er nennt diesen Vorgang auch die säkularisierende Entbindung religiös verkapselter Bedeutungspotentiale. Das ist im übrigen genau das, was wir hier an der Akademie mit unserem Projekt „DenkWege zu Luther“ mit Jugendlichen versuchen – wir sind u.a. so eine Art Übersetzungswerkstatt.. Warum ist das Erschließen, Entbergen, Dolmetschen so wichtig? Habermas u.a. diagnostizieren eine Gefährdung des liberalen Verfassungsstaates durch eine wildgewordene ökonomistisch entgleisende Moderne, die, in religiöse Sprache übersetzt, des Teufels ist. Dieser fängt ja bekanntlich die Seelen nicht nur mit Lüge und Betrug, sondern vor allem mit Anstachelung und Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Wünsche, er ist der Betreiber der „großen Wunschmaschine“, wie mein philosophischer Lehrer Gerd B.Achenbach gern sagt. Banal ausgedrückt: Die Demokratie gefährdet sich selbst, wenn sie ihre Legitimation aus materiellem Wohlstand allein bezieht – und das tut sie schon weitgehend heute. Ist dieser Wohlstand gefährdet, wird irgendwann auch die Zustimmung zur Demokratie und das Engagement für sie verschwinden. Die Stammtische der Nation und die rechtsradikalen Brüllereien künden schon davon. Nach Habermas bedeutet diese allseitige Ökonomisierung: Eine Handlungskoordinierung über Werte, Normen und verständigungsorientierten Sprachgebrauch (wird) aus immer mehr Lebensbereichen verdrängt. Deshalb liegt es auch im eigenen Interesse des Verfassungsstaates, mit allen kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speist. Das ist der genaue Gegensatz zum Spruch der GIORDANO-BRUNO-STIFTUNG, dass keine Religion brauche, wer Wissenschaft, Philosophie und Kunst besitze. Diese Entdeckung der Notwendigkeit geistiger Ressourcenschonung ist ein durchaus ähnlicher Vorgang wie ihn die Gesellschaft seit den 60ern durchmachte, als sie dank der ökologischen Bewegungen entdecken musste, dass die natürlichen Ressourcen nicht beliebig verwendbar und verschwendbar sind, da sie nicht einfach so schnell mal nachwachsen können. Hier zeichnet sich zugleich ein Problem ab, nämlich das einer funktionalistischen Sicht auf Religion. Diese ist gegeben, wenn H. sagt, die „postsäkulare Gesellschaft“ zolle den Religionsgemeinschaften ... öffentliche Anerkennung für den funktionalen Beitrag, den sie für die Reproduktion erwünschter Motive und Einstellungen leisten. Diese funktionale Betrachtung - Religion als Mittel zum Zweck - käme fast einer Beleidigung, jedenfalls aber einer Verkennung zumindest einiger Religionen gleich, würde man dies als einzigen und wichtigsten Gesichtspunkt festhalten. Es gibt diese Funktionalität nicht in ihrem Selbstverständnis, jedenfalls nicht an erster Stelle. Christlicher Glaube z.B. versteht sich, wenn ich es recht verstehe, nicht zuerst und vor allem als Mittel, diese Welt funktionieren zu lassen auf irgendeine von Menschen aktuell gewünschte politische oder soziale Weise. Er ist um Gottes, der Auferstehung und Erlösung willen da. Luther hätte sich hier in Wittenberg wohl im Grabe herumgedreht, könnte er die funktionalistischen Interpreten hören. Anfangs sprach ich davon, was die Gläubigen historisch eher lernen mussten als die Ungläubigen Bischof Joachim Wanke beschreibt, was Habermas u.a. meint, in einer Rede 2002 bei den Jesusbrüdern in Volkenroda unter der Überschrift „Unser Umfeld: Radikaler geistiger Pluralismus“: Jeder Christ, selbst wenn er in noch vorhandenen kirchlich geprägten Gegenden lebt, ist diesem geistig-religiösen Pluralismus ausgesetzt. Die Erfahrungen mit anderen Religionen bzw. auch mit "Religionslosen" sind nicht mehr auszublenden. Das heißt: Sie müssen in die Verkündigung und Katechese mit einbezogen werden. Der "andere", der alternative Lebensentwurf ist überall existentiell präsent. Das wirft die permanente Frage auf: Warum bin ich eigentlich Christ? Das Fragen nach dem "Mehrwert" des Gottesglaubens wird also den Christen ständig begleiten. Die Glaubensentscheidung ist bis zum Lebensende niemals so abgeschlossen, dass Infragestellungen bis ins hohe Alter hinein unmöglich wären. Ich weise nur auf eine Facette dieser Situation hin: der alte Konflikt zwischen Glauben und Wissen. Das Weltwissen der säkularen Wissenschaften fordert uns zu einer ständigen "Übersetzungsarbeit" heraus. Es gilt, das je Eigene von Gottesglaube und säkularem Weltwissen klar zu erkennen, aber eben nicht beziehungslos nebeneinander stehen zu lassen. Jede Bemühung, dem Menschen von heute das Evangelium als Lebensprogramm anzubieten, hat das zu beachten. Es gibt keine Sonderwelt des Glaubens. Alles steht mit allem in Verbindung.2 Beide Seiten sollten - wie es heute in der Wissenschaftssprache heißt – gegenseitig anschlussfähig sein. Gerechtigkeit etwa muß theologisch genauso begründet werden können wie philosophisch. Dazu sind mindestens 2 Schritte zu tun, sagt Habermas und ich folge ihm darin: 1. 2 http://www.bistum-erfurt.de/seiten/526.htm ist das der Respekt der säkularen Seite vor der Artikulationskraft religiöser Sprache für etwas, das Menschen bewegt und umtreibt, das aber weltlich nicht auszudrücken ist: Habermas: Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren3. Denn mit dem Wunsch nach Verzeihung verbindet sich immer noch der unsentimentale Wunsch, das anderen zugefügte Leid ungeschehen zu machen. Erst recht beunruhigt uns die Unumkehrbarkeit vergangenen Leidens - jenes Unrecht an den unschuldig Mißhandelten, Entwürdigten und Ermordeten, das über jedes Maß menschenmöglicher Wiedergutmachung hinausgeht. Die verlorene Hoffnung auf Auferstehung hinterläßt eine spürbare Leere. ... Es gibt den ohnmächtigen Impuls, am Unabänderlichen doch noch etwas zu ändern. Es geht Habermas darum, der schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn entgegenzuwirken. Der demokratisch aufgeklärte Common sense muß auch die mediale Vergleichgültigung und plappernde Trivialisierung aller Gewichtsunterschiede fürchten. Moralische Empfindungen, die bisher nur in religiöser Sprache einen hinreichend differenzierten Ausdruck besitzen, können allgemeine Resonanz finden, sobald sich für ein fast schon Vergessenes, aber implizit Vermißtes eine rettende Formulierung einstellt. Sehr selten gelingt das, aber manchmal. Habermas Fazit: Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht sich im Modus der Übersetzung. 2. Schritt, der nötig ist: Für Kant, Hannah Ahrend u.v.a.m. gründet die Vernunft sich auf bestimmte Prinzipien, d.h., damit beginnt sie. Kant drückt diese so aus: "Selbst denken, sich in die Stelle jedes anderen denken, jederzeit mit sich selbst einstimmig denken" Oder, um ein letztes Mal Habermas zu zitieren: von beiden Seiten ..., auch die Perspektive der jeweils anderen einzunehmen. Nur so kann ein fruchtbares Gespräch zwischen Gläubigen und Ungläubigen, zwischen Religion und Wissenschaft, säkularer Vernunft und Offenbarungsglauben gelingen – und glücklicherweise gibt es dies auch schon längst. 3 vgl. z.B. die jüngste – übersetzungstechnisch allerdings korrekte - Umtitulierung von Dostojewskis „Schuld und Sühne“ in „Verbrechen und Strafe“. Es unterscheidet die Geister, wie darauf reagiert wird.