1 Religion (TK 9) 2005 - Barz Heiner Barz Meine Religion mach ich mir selbst 5 10 15 20 25 30 35 Eine für jede Religion konstitutive1 Unterscheidung ist die zwischen Heiligem und Profanem2. Die Offenbarungen des Heiligen deuten auf das Unwandelbare, Ewige, im Gegensatz zum Wandelbaren, Profanen. Die Orte, an denen Gott sich offenbart, sind deshalb von ganz besonderer Bedeutung: Der heilige Raum, die heilige Zeit unterscheiden sich als „konzentrierter Raum“ und „gefüllteste Zeit“ von allen anderen Räumen und Zeiten. Sogenannte auratische3 Orte sind für Religiöse, aber auch für Nicht-Religiöse von ungebrochener Faszination. Die zeitgenössische religionspsychologische Forschung hat dieses zentrale Thema sträflich vernachlässigt. In den Daten meiner Pilotstudie „Jugend und Religion“ fand ich jedoch einige interessante Hinweise. So belegen, aller Abwendung von der traditionellen Religion zum Trotz, die Kirchen, insbesondere die großen Dome, immer noch eine Spitzenposition im Blick auf affektiv stark besetzte Orte. Daneben spielen Orte in der Natur, der Wald, der Berg, die Lichtung oder auch Naturwunder wie der Vulkan, die Tropfsteinhöhle, eine Rolle. Aber auch alltäglichere Naturphänomene wie der plätschernde Bach, der zwitschernde Vogel oder der bestirnte Himmel werden genannt. Eine dritte Art von auratischen Orten bilden die Kultplätze, die Ruinen vergangener Religionen und Kulturen, etwa die Pyramiden, Stonehenge4, die Kultstätten der Mayas, alte verfallene Klöster und Burgruinen. Als vierte Kategorie solcher Orte, die sich dadurch auszeichnen, dass bereits die bloße Annäherung an sie besondere Gefühle auslöst, konnten wir Orte des Rückzugs und der Geborgenheit wie das eigene Zimmer, das eigene Bett – aber auch die Eckbank in Omas Küche identifizieren. Schließlich besitzen, fünftens, auch die Stätten heutiger Massenveranstaltungen – die Halle des Rockkonzerts, der Kinosaal, das Fußballstadion - auratische Qualitäten. Woher rührt die Aura dieser Orte? Offenbar handelt es sich sowohl um die Verdichtung wie um die kompensatorische5 Gegenwelt zu dominanten Grundstimmungen des modernen Menschen: Heraustreten aus Lärm und Hektik des Alltags. Das Gefühl, etwas Überwältigendem, Ehrfurcht Einflößendem zu begegnen – sei es in Form des Kölner Doms oder des Grand Canyon. Das Gefühl des Rückzugs auf sich selbst – jenseits von Leistungs- und Rollenerwartungen. Die Begegnung mit dem Rätselhaften, Unerklärlichen, und schließlich: Das Gefühl der Geborgenheit, „sich aufgehoben fühlen“ und „sich gehen lassen können“ - sei es auf Omas Eckbank, sei es im Schein der Feuerzeuge beim Popkonzert oder in der kollektiven Verzückung im Fußballstadion. Nach: Heiner Barz, „Meine Religion mach ich mir selbst!“, in: PSYCHOLOGIE HEUTE, Juli 1995, 27. 1 grundlegend, zum Wesen gehörend Weltlichem 3 ausstrahlende, in den Bann ziehende 4 vorgeschichtliche Kultstätte in Südengland 5 ausgleichende 2 Religion (TK 9) 2 Aufgaben: 1. Erheben Sie aus dem Text, welche Bedeutung der Autor „heiligen Orten“ zumisst, und diskutieren Sie, ob dies für Jugendliche zutrifft. 2. Erörtern Sie, ob es neben „auratischen Orten“ (Z. 6) auch andere Zugänge zu reli-10 P. giösen Erfahrungen gibt und zeigen Sie zwei grundlegende Aspekte von Religion auf. 3. Nehmen Sie differenziert Stellung zu der Aussage: Religion fördert Leben. 10 P. 10 P. 30 P. Religion (TK 9) 3 2005 - Barz Lösungshinweise zu Aufgabe 1: Heilige Orte unterscheiden sich von profanen, sie weisen auf das Unwandelbare, Ewige. Auratische Orte sind bedeutsam für religiöse und nichtreligiöse Menschen, sie ermöglichen Erfahrungen des Kontrasts zur Alltagswelt, von Erhabenheit, der Bedeutsamkeit des eigenen Selbst, des Geheimnischarakters der Welt, von Geborgenheit oder gar Verschmelzung. Solche Orte sind: Kirchen und Dome, besondere u. alltägliche Orte u. Phänomene in der Natur, besondere Orte/Kultplätze fremder/vergangener Kulturen, private Orte des Rückzugs, Stätten heutiger Massenveranstaltungen. Die Aufgabe ist gelöst, wenn Stellung zur Bedeutung auratischer Orte für Jugendliche bezogen und diese begründet wird. zu Aufgabe 2: Es können weitere Zugänge zu religiöser Erfahrung erörtert werden: z.B. Musik und Sport, Feste und Feiern, Gemeinschaftserlebnisse, Passageriten, Erziehung, bzw. religiöse Erziehung, Grenzerfahrungen, u.a. Als grundlegende Aspekte von Religion können genannt werden: Erleben von „heiliger Wirklichkeit“, z.B. Staunen vor der Größe des Kosmos und der Komplexität und Differenziertheit des Lebens die Welt als Mysterium fascinosum et tremendum (R. Otto) erfahren in der Liebe und im Verliebtsein, in Hoffnung leben, Sinnsuche, Angstbewältigung, ekstatische Erlebnisse, Trost in Grenzsitutationen, u.a. Antworten von Menschen, die in der Begegnung mit dem Heiligen beeindruckt und bewegt wurden, z.B. Baukunst: Kathedralen und ihre Symbolik, Kunstwerke, Musik, Lebenszeugnisse, Gebet, Meditationserfahrungen, Gottesdienste u.a. zu Aufgabe 3: Die Leben fördernden Aspekte der Religion sind sowohl Ermutigung wie Verpflichtung. Sie können zu folgenden Bereichen dargestellt werden: Bejahung der eigenen Person mit ihren Stärken und Grenzen als Möglichkeit und Basis von Urvertrauen, Religion (TK 9) Begegnung mit dem Anderen und Bejahung des Anderen als Bereicherung und Ermöglichung gelingenden Zusammenlebens, Ehrfurcht vor dem Leben und Bewahrung der Schöpfung als Grundlage unserer Extistenz u.a. Eine differenzierte Stellungnahme beinhaltet, dass auch auf Gefahren und Missbrauch von Religion hingewiesen wird: Vereinnahmung und Manipulation des Menschen, Kommerzialisierung, Weltflucht, Neurosen, Heilige Kriege, Fundamentalismus u.a. 4 5 Religion (TK 9) 2006 - Schülertext Sabine Drescher Liebesbrief an meine Ducati 748 SP Endlich...Sommer, Sonne, Motorradzeit! Rein in die Garage, Abdeckung ab ...und schon stehst DU vor mir, mein wahrgewordener Traum. Ein bißchen verstaubt siehst Du aus, aber sonst top in Ordnung. Dein Termignoni-Auspuff strahlt mich an und Dein knallegelber Tank wartet nur drauf, leergefahren zu 5 werden. Liebevoll streich’ ich über Deine vielfach dazugekauften Carbonteile und Dein gelb-weißes Heckteil. Bewunderung nimmt mir fast den Atem... wie kann eine Maschine nur so perfekt sein? Nein! Du bist keine Maschine, jedenfalls nicht für mich. Du bist ein Teil von mir, ein Individuum, ein menschliches Etwas, einfach perfekt! Ich greife nach der vorgeladenen Batterie, um Dir end10 lich wieder Leben einzuhauchen, und fühl’ mich wie ein kleines Kind, das sich total auf Weihnachten freut. Fertig...endlich! Mit zitternden Händen stecke ich den Schlüssel in Dein Schloß und bete, daß Du ohne Probleme anspringst. Vorsichtig dreh’ ich den Schlüssel, die Lichter Deiner Armaturen blinken mich freudig an, und ich drücke den automatischen Starterknopf..., der volle eroti15 sche Klang Deines Viertaktermotors mit knapp 110 PS erfüllt die Garage. Das ist der wahre Sound meiner Ducati 748 SP! Kombi her, Helm auf, Handschuhe an...Deine 3-Minuten Einlaufzeit ist vorüber, und Dein Motor läuft absolut ruhig und gleichmäßig. Jetzt kommt der Moment, auf den ich den ganzen Winter schon gewartet habe... 20 up, up and away! Alle Leute starren uns nach. So ein Geschoß wie Dich ist auch sehr selten zu sehen, denn Dich zu besitzen ist echt wie ein Sechser im Lotto! ... Dein Motor dreht absolut seidenweich, und ich spüre, wie Du endlich Deine PS und Deine unvorstellbare Kraft spielen lassen willst. Eins sei Dir, meinem absoluten 25 Liebling, noch gesagt: Du bist und bleibst das absolute Hammergerät in meinem Leben. Nur jemand, der je Motorrad gefahren ist, kann verstehen, wie 30 sehr man seine Maschine vergöttern kann. Das Gefühl der grenzenlosen Freiheit, das Gefühl zu fliegen und total unabhängig zu sein .... das ist es, was 35 das Motorradfahren ausmacht. Du bist absolut treu und hast mich (fast) noch nie hängenlassen, obwohl Du „nur“ eine Maschine bist. Das Gefühl, mit Dir fahren zu gehen, Dein tiefer, dumpfer Sound, das Vibrieren Deines Motors, der Rausch der Geschwindigkeit und das Gefühl, an Grenzen zu stoßen, ist der absolute Adrenalinschuß und besser als vieles andere. Das sind die Gründe, mei´ Moppedle, warum ich Dich für nichts wieder hergeben würde. Auf geht’s, meine Kleine, machen wir uns auf die Suche nach der Straße in die Ewigkeit, direkt in den Himmel, von der Schwerkraft befreit... aus: „Carpe diem“ (Schülerzeitung der Jakob-Friedrich-Schöllkopf-Schule Kirchheim/Teck), Ausgabe 7,1998, S. 64f. Die alte Rechtschreibung wurde beibehalten. Religion (TK 9) 6 Aufgaben: 08 1. Zeigen Sie anhand dieses „Liebesbriefes“ die Bedeutung des Motorrads für die Verfasserin auf. 2. Die Beziehung von Sabine Drescher zu ihrem Motorrad trägt religiöse Züge. Überprüfen Sie, ob diese Beziehung dem Wesen von Religion entspricht. 3. Erörtern Sie, welchen Beitrag Religion und christlicher Glaube zur Lebensbewältigung leisten können. 10 12 7 Religion (TK 9) 2006 - Schülertext Lösungshinweise: 1. Der Schüler / die Schülerin soll anhand von Bildern und Vergleichen die Bedeutung des Motorrades für Sabine Drescher erläutern. Die folgenden Bildern und Vergleiche lassen sich aus dem Text erheben: 08 Motorrad als „wahrgewordener Traum“ (Z. 2) Bewunderung für die Perfektion der Maschine (Z. 6) Maschine als „Teil von [ihr], ... Individuum, ... menschliches Etwas“ (Z. 7f.) Leben einhauchen (Z. 9) Vorfreude wie „auf Weihnachten“ (Z. 10) „Sechser im Lotto“ (Z. 20) „unvorstellbare Kraft“ (Z. 22) „mein absolute[r] Liebling“, „das absolute Hammergerät“ (Z. 23f.) „wie sehr man die Maschine vergöttern kann“ (Z. 25) „Das Gefühl der grenzenlosen Freiheit, das Gefühl zu fliegen und total unabhängig zu sein“ (Z. 26) „Du bist absolut treu“ (Z. 27) „Suche nach der Straße in die Ewigkeit, direkt in den Himmel, von der Schwerkraft befreit“ (Z. 36f.) Das Motorrad ist für Sabine Drescher nicht nur ein Fahrzeug, sondern hat kultische Bedeutung, mit dem sie religiöse Rituale vollzieht. Im Sinne Luthers ist das Motorrad das, woran sie ihr Herz hängt. Die Maschine wird überhöht und vergöttert. 2. Der Schüler/ die Schülerin kann aus den bereits in Aufgabe 1 genannten Bildern und Vergleichen auswählen und davon ausgehend das Wesen von Religion erklären. Bei der Definition von Religion kann auf die Inhalte des Unterrichts zurückgegriffen werden (z.B. Erich Fromm, Paul Tillich, Rudolf Otto, Hans Küng). Z.B Religion nach Küng: „Deutungshorizont angesichts auch von Leid, Ungerechtigkeit, Schuld und Sinnlosigkeit“ Vermittlung eines „letzten Lebenssinns auch angesichts des Todes“ Garantie „oberster Werte, unbedingter Normen, tiefster Motivationen“ In der religiösen Gemeinsamkeit Schaffung eines Zuhauses „des Vertrauens, des Glaubens, der Gewissheit, Ich-Stärke, Geborgenheit und Hoffnung“ 10 8 Religion (TK 9) 3. Die Aufgabe kann sehr unterschiedlich bearbeitet werden, z.B. anhand von: einer Biographie (z.B. Bonhoeffer, Geschwister Scholl u.a.) eines Themas (z.B. Globalisierung, Sinn- und Lebenskrise u.a.) eines biblischen Textes (z.B. Ps. 23, Mt 22, 37-40, Am 5, 21ff, u.a.) eigener Erfahrung u.a. Die Aufgabe ist gelöst, wenn der Schüler/die Schülerin das Thema darstellt, sich auf dem Hintergrund des christlichen Glaubens damit auseinandersetzt und eine eigene Position bezieht. 12 9 Religion (TK 9) 2012 - Martenstein Harald Martenstein Ihr Christen! Das Christentum ist die einzige Religion, die sich selbst nicht mehr ganz ernst nimmt. Dafür wird das Christentum häufig gelobt, vor allem von den Ungläubigen. Muslime glauben aus dem Bauch heraus, könnte man sagen, der Christ benutzt seinen Kopf dazu. Christen lesen ihre Heilige Schrift nicht wie das ewig gültige 5 Wort Gottes, sondern wie ein historisches Dokument, das man so oder so interpretieren kann, und wenn sie in ihrem Ritus angeblich das Fleisch Christi essen, dann ist den meisten von ihnen bewusst, dass es sich dabei lediglich um ein Sinnbild handelt. Das Christentum ist durch die Reformation und den Skeptizismus der Aufklärung so weit verdünnt worden, dass seine Feinde sich nicht mehr vor ihm fürchten müssen. Es hat nichts Fanatisches, das ist beruhigend, gewiss, aber weil es für alles auf der Welt einen Preis gibt, musste auch das Christentum für seine Verharmlosung einen Preis zahlen. Es wirkt jetzt eher wie das Zitat einer Religion, die es früher einmal gegeben hat. Oder wie Folklore. Eine Tradition, ein Brauch, den man respektvoll, aber lauwarm ausführt, bei dem es nicht mehr wirklich um etwas geht, weil sich weder große Ängste noch große Hoffnungen damit verbinden. Man ahnt als Christ, dass Gott einen nicht strafen wird, da kommt kein Blitzstrahl von oben, egal, was man tut. Warum dann überhaupt Religion, könnte man fragen. Lohnt sich der ganze Aufwand denn noch? Warum, wenn man so auf- und abgeklärt ist, nicht gleich vernünftig werden, also Rationalist? Religion ist immer das Unvernünftige gewesen, den Ungläubigen erscheint Religion als Aberglaube. Das Christentum aber ist fest in einer Welt verwurzelt, die über den Aberglauben lacht. Das ist zweifellos eine Anpassungsleistung, wie es sie in der Geschichte selten gegeben hat. Der Christ weiß oder ahnt, dass die Wissenschaft alle geistigen Schlachten der letzten Jahrhunderte gewonnen hat und dass seine Religion geduldet wird, solange sie sich nicht einmischt in Dinge, die sie nichts angehen. Religion hatte jahrtausendelang den Anspruch, eine Antwort zu geben auf die letzten und großen Fragen, das heißt, sie ist immer unbescheiden gewesen, sie wollte der große Welterklärer, Sinnstifter und Gesetzgeber sein, das Christentum aber steht bescheiden am Rand der Gesellschaft, es wird nicht diskriminiert, aber auch nicht wirklich benötigt, weil die Geschäfte auch ohne Sinnstiftung ganz gut gehen. Christentum ist ein Serviceangebot an diejenigen, die noch ein paar spirituelle Restbedürfnisse haben, die Yoga allein nicht stillen kann. Warum, zum Teufel, dann nicht gleich vernünftig werden? Harald Martenstein, in: DIE ZEIT, 08.02.2007 Aufgaben 1. „Warum, zum Teufel, dann nicht gleich vernünftig werden?" (Z. 34 f.) Geben Sie wieder, wie der Autor zu dieser Frage gelangt. (9 P.) 2. Skizzieren Sie zwei Zugänge zum Wesen von Religion. (12 P.) 3. Sollte man Religion abschaffen? Entwerfen Sie einen Leserbrief*, in dem Sie Ihren eigenen Standpunkt begründet darlegen. (9 P.) * Ein Leserbrief ist eine schriftliche Meinungsäußerung (Zustimmung, Erwiderung, ...)zu einem Beitrag oder zu einem bestimmten Thema und richtet sich an die Leserschaft einer Zeitung bzw. eines Magazins. Ein Leserbrief ist eine Sonderform der Erörterung. Religion (TK 9) 10 Lösungshinweise Aufgabe 1 „ Warum, zum Teufel, dann nicht gleich vernünftig werden?" (Z. 34 f.) Geben Sie wieder, wie der Autor zu dieser Frage gelangt. Die Teilaufgabe bezieht sich auf den Anforderungsbereich l. Der Operator „wiedergeben" verlangt von den Schülerinnen / den Schülern, dass Sie den Inhalt des Textes unter Verwendung der Fachsprache mit eigenen Worten ausdrücken. Nach H. Martenstein nimmt sich das Christentum nicht mehr ganz ernst, dabei geht er von drei Einschätzungen aus: Zum einen, dass Christen ihre heilige Schrift nicht mehr wie das ewig gültige Wort Gottes, sondern wie ein historisches Dokument lesen, des weiteren, dass man dieses Dokument so oder so interpretieren kann und schließlich, dass sich die meisten von ihnen darüber bewusst sind, dass das Essen des Fleisches Christi nur noch als Sinnbild zu verstehen ist. Er konstatiert eine Verdünnung des Christentums durch Reformation und Aufklärung, es sei gänzlich frei von Fanatischem. So wirke es wie das Zitat einer einstigen Religion, wie Folklore oder Tradition, bei der es um nichts wirklich Bedeutendes mehr geht, weil weder große Ängste noch große Hoffnungen damit verbunden seien. Konsequenzen aus seinem Handeln fürchte der Christ nicht mehr. Martenstein stellt sich die Frage nach einer Begründung für Religion an sich, denn er sieht in der Religion nur das Unvernünftige, das aufgeklärten Menschen überflüssig erscheinen muss. Schließlich habe das Christentum alle geistigen Schlachten der letzten Jahrhunderte gegen die Wissenschaft verloren, würde nicht mehr benötigt und sei nur noch dort geduldet, wo es sich nicht einmische. Der Anspruch die Welt zu erklären, Sinn zu stiften oder Gesetzgeber zu sein sei verloren. Heute habe das Christentum keine Antwort auf die letzten und großen Fragen mehr zu geben und bilde nur noch ein Serviceangebot für spirituelle Restbedürfnisse. Aufgabe 2 Skizzieren Sie zwei Zugänge zum Wesen von Religion. Die Teilaufgabe bezieht sich auf den Anforderungsbereich II. Der Operator „skizzieren" verlangt von den Schülerinnen / den Schülern, dass sie zwei Zugänge zum Wesen von Religion in ihren Grundzügen darlegen. Mögliche Zugänge: theologisch - philosophisch (Otto, Tillich, Küng u.a.) anthropologisch (Stoodt, Dahm, Kaufmann u.a.) naturwissenschaftlich (Dawkins u.a.) soziologisch/sozialpsychologisch (Fromm, Berger, Luckmann u.a.) Zwei Zugänge zum Wesen von Religion werden im Folgenden beispielhaft skizziert: Aspekte nach einem anthropologischen Zugang (z.B. nach Stoodt, Kaufmann): Identitätsstiftende Funktion: Religion nimmt dem individuellen Leben die Angst und begründet die Einheit und Sinnhaftigkeit der Welt. Moralische Funktion: Religion ermöglicht richtiges Handeln in alltäglichen Situationen. Kontingenzbewältigung: Religion eröffnet den Umgang mit Unrecht, Leid und Kontingenz (Zufälligkeit, Irrationalität) des Lebens. Sozialintegrative Funktion: Religion sichert den gesellschaftlichen Zusammenhalt und stützt Normen und Werte. Prophetische Funktion: Religion scharrt Distanz zu gegebenen Macht-und Sozialverhältnissen. Religion (TK 9) 11 U.a. Aspekte nach einem theologischen Zugang (z.B. nach Küng): „Deutungshorizont angesichts auch von Leid, Ungerechtigkeit, Schuld und Sinnlosigkeit". Vermittlung eines „letzten Lebenssinns auch angesichts des Todes". Garantie „oberster Werte, unbedingter Normen, tiefster Motivationen". In der religiösen Gemeinsamkeit Schaffung eines Zuhauses „des Vertrauens, des Glaubens, der Gewissheit, Ich-Stärke, Geborgenheit und Hoffnung". U.a. Aufgabe 3 Sollte man Religion abschaffen? - Entwerfen Sie einen Leserbrief, in dem Sie Ihren eigenen Standpunkt begründet darlegen. Die Teilaufgabe bezieht sich auf den Anforderungsbereich III. Der Operator „entwerfen" verlangt von den Schülerinnen / den Schülern, dass Sie sich textbezogen in der Form eines Leserbriefes mit der Frage, ob man Religion abschaffen solle, auseinandersetzen. In einem Leserbrief reagiert die Schülerin / der Schüler auf die Kolumne von Harald Martenstein in der ZEIT. Der Leserbrief ist als Zustimmung, Erwiderung, offener Leserbrief o. ä. angelegt. Der Leserbrief bezieht sich auf die in der Aufgabe genannte Fragestellung. Argumente werden gefunden und formuliert. Nachvollziehbare Zusammenhänge werden hergestellt. Die Schlussfolgerung als eigener Standpunkt ist klar erkennbar. 12 Religion (TK 9) 2015 - Scholl Norbert Scholl Moderne Patchwork-Religion Die Religion teilt heute das Schicksal aller großen Orientierungssysteme in den Industrieländern: Eine totale, alle Lebensbereiche umfassende und in kirchlicher Gemeinschaft ausgeübte und kultivierte religiöse Praxis und Ausrichtung verliert an Bedeutung. ... Die Prognose der Meinungs- und Religionsforscher diagnostiziert für Westeuropa einen anhaltenden, schrittweise forcierten Rückgang der kirchlich institutionalisierten6 Religion. Er tritt besonders auffällig zutage im Verblassen des für die kirchlichen Glaubensüberzeugungen konstitutiven7 Glaubens an einen persönlichen Gott und im zunehmenden Abrücken von den kirchlich formulierten und tradierten Glaubensaussagen. Die Zahl der Gottesdienstbesucher wird immer kleiner und beschränkt sich vornehmlich auf Frauen und Männer über 60 Jahren. Auch eine regelmäßige Gebetspraxis wird seltener, und kirchliche Verhaltensnormen finden immer weniger Beachtung.... Es findet eine Transformation der Religion statt. Der Trend geht in Richtung einer Religion in neuer Form - losgelöst von traditionellen Bekenntnissen und Dogmen, losgelöst von Institutionen. Die soziale Patchwork-ldentity zieht eine PatchworkReligion nach sich. Das religiöse Bedürfnis des Einzelnen bleibt bestehen, aber es ist privatisiert, nutzorientiert, individualisiert. Aus der öffentlichen Religion wird damit eine eher unsichtbare Religion. Angesichts der vielen Angebote auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten, wie sie die moderne Gesellschaft bereithält, und des hohen Maßes an Wahlfreiheit ist es nicht leicht, eine richtige Wahl und eine gut begründete Entscheidung für diese individuelle Religiosität zu treffen. Es zeichnet sich ein verstärkter Wunsch nach unmittelbarer religiöser Erfahrung ab, nach einer Erlebnisdimension, die zu vermitteln den etablierten Religionsgemeinschaften nicht oder zumindest nicht mehr in ausreichendem Maße gelingt. Bedenklich wird es freilich, wenn Religiosität ausschließlich zur Überhöhung menschlicher Sehnsüchte dient, wenn sie nur sichert, tröstet, entgegenkommt, sich wohl fühlen lässt, aber nicht mehr die Kraft findet, auch Ansprüche zu stellen und Forderungen zu erheben, die menschliche Bedürfnisse gegebenenfalls auch durchkreuzen können. Scholl, N., Religiös ohne Gott, Warum wir heute anders glauben, Darmstadt 2010, S.34f. Aufgaben 1. Zeigen Sie den Gedankengang des Autors auf. (9 P.) 2. Erläutern Sie an zwei Beispielen aus Geschichte und / oder Gegenwart Gefahren oder Missbrauch von Religion. (12 P.) 3. Wozu Religion? - Nehmen Sie einen begründeten Standpunkt zu dieser Frage ein. (9 P.) 6 7 hier: verankert, organisiert. hier: notwendig, grundlegend, verbindlich. Religion (TK 9) 13 Lösungshinweise Zu Aufgabe 1: Zeigen Sie den Gedankengang des Autors auf. (9 P.) Die Teilaufgabe bezieht sich auf den Anforderungsbereich l. Der Operator „aufzeigen" verlangt von den Schülerinnen / den Schülern, dass sie den Gedankengang Norbert Scholls mit eigenen Worten darlegen. Norbert Scholl beschreibt Entwicklung und Transformation bisheriger Religionen hin zur PatchworkReligion, welche durch den Bedeutungsverlust einer alle Lebensbereiche umfassenden religiösen Praxis ausgelöst werde. Der Autor führt dabei aus, dass die kirchlich institutionalisierte Religion in Westeuropa zurückgehe, was sich am Verblassen des Glaubens an einen persönlichen Gott und im Abrücken von tradierten Glaubensaussagen zeige: Gottesdienstbesuch und Gebetspraxis würden seltener, kirchliche Normen fänden weniger Beachtung. Demzufolge lösten sich die Menschen von traditionellen Bekenntnissen, Dogmen und Institutionen. Die Religion wandle sich zur Patchwork-Religion. Dabei bliebe aber das religiöse Bedürfnis des Einzelnen bestehen. Für Norbert Scholl folgt daraus: Öffentliche Religion wird zur unsichtbaren Religion. Norbert Scholl kritisiert eine Religiosität, die nur der Überhöhung menschlicher Sehsüchte diene, aber keine Ansprüche und Forderungen mehr erhebe. Zu Aufgabe 2: Erläutern Sie an zwei Beispielen aus Geschichte und/oder Gegenwart Gefahren oder Missbrauch von Religion. (12 P.) Die Teilaufgabe bezieht sich auf den Anforderungsbereich II. Der Operator „erläutern" verlangt von den Schülerinnen / den Schülern, dass sie Gefahren oder Missbrauch von Religion an zwei Beispielen aus der Geschichte und/oder Gegenwart ggf. mit zusätzlichen Informationen nachvollziehbar veranschaulichen, z.B. Religiöser Extremismus und Fundamentalismus (AI Kaida, IS/ISIS, Kreationismus, u.a.) Vereinnahmung und Manipulation des Menschen (Sekten und Sondergruppen: z.B. Scientology, Fiat Lux, Gruppe der Weltdiener, u.a.) Kommerzialisierung, Merchandising und Devotionalienhandel, zu bezahlendes Kurssystem wie bei Scientology u.a.) Religiöse Neurosen (Moser, Freud, Drewermann u.a.) Politische, wirtschaftliche, ideologische Instrumentalisierung (Kreuzzüge, Heilige Kriege, u.a.) U.a. Zu Aufgabe 3: Wozu Religion? - Nehmen Sie einen begründeten Standpunkt ein. (9 P.) Die Teilaufgabe bezieht sich auf den Anforderungsbereich III. Der Operator „einen begründeten Standpunkt einnehmen" verlangt von den Schülerinnen / den Schülern, dass sie sich zur Frage „Wozu Religion?" unter Verwendung von Fachwissen und Fachmethoden begründet positionieren. Mögliche Zugänge: Theologisch-philosophisch: Religion (TK 9) 14 Religion befriedigt das menschliche Bedürfnis nach Transzendenz: „Ergriffensein von dem, was mich unbedingt angeht" (Tillich) u.a. Anthropologisch: Funktionaler Ansatz (Kaufmann): Angstreduktion, Kontingenzbewältigung, Weltdeutung / Herstellung eines „Deutehorizonts", Begründung von Wertmaßstäben, Handlungsführung durch Moral, Ritus und Magie, Weltdistanzierung, Beantwortung der Sinnfrage u.a. Naturwissenschaftlich: Soziobiologischer Ansatz: Religion als kultureller Ausdruck des Altruismus (Wilson, Dawkins) u.a. Soziologisch/sozialpsychologisch: Religion als System des Denkens und Tuns, das von einer Gruppe geteilt wird und dem Individuum einen Orientierungsmaßstab und ein Objekt der Hingabe bietet." (Fromm) u.a.