EU-Konsultation zum ARBEITSDOKUMENT DER KOMMISSIONSDIENSTSTELLEN Länderübergreifende betriebliche Tarifvereinbarungen: Das Potenzial des sozialen Dialogs ausschöpfen Stellungnahme von industriAll – European Trade Union (verabschiedet vom 1. industriAll Europe-Exekutivausschuss Luxemburg, 27.-28. November 2012) Die EU-Kommission hat nach der Schlussfolgerung der Sachverständigengruppe, in der auch industriAll Europe vertreten war und die zwei Jahre lang mit dieser Frage befasst war, ein Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen veröffentlicht. Die Grundlage für diese Arbeit bildete die zunehmende Zahl von „Texten“ auf europäischer Ebene, die oft als Vereinbarungen bezeichnet werden, obwohl das nicht auf alle wirklich zutrifft. Die im Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen enthaltene Definition des Begriffs länderübergreifende betriebliche Tarifvereinbarung deckt sich voll und ganz mit dem, was wir als eine europäische Rahmenvereinbarung betrachten. Vorausschicken möchten wir als industriAll Europe und im Namen aller unserer Mitgliedsorganisationen unsere Verbundenheit mit den bestehenden nationalen Verhandlungsund Tarifverhandlungssystemen. Jede Debatte über einen optionalen Rechtsrahmen für länderübergreifende betriebliche Tarifvereinbarungen muss diesen nationalen Systemen und Traditionen Rechnung tragen und darf sie keinesfalls beeinträchtigen. Ein solcher Rahmen sollte unserer Ansicht nur ergänzenden Charakter haben. In diesem Sinne müssen länderübergreifende betriebliche Tarifvereinbarungen einem klaren „Nichtrückschrittsprinzip“ (non-regression principle) im Vergleich zu den Vereinbarungen in den verschiedenen Ländern folgen. Darüber hinaus sind unsere Antworten auf die Fragen der Kommission Teil eines umfassenden Vorschlags und einer umfassenden Position von industriAll Europe. Als solches können sie nicht aus dem Zusammenhang gerissen behandelt und in Teilen umgesetzt werden. Jegliche künftige Vorschläge der Kommission müssen dann auch alle oder zumindestens die Mehrheit dieser Punkte berücksichtigen. International Trade Union House (ITUH) – Boulevard du Roi Albert II 5 (Bfk. 10) – B-1210 Brüssel Tel.: +32 (0)2/226 00 50 [email protected] www.industriall-europe.eu 1 Das Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen versuchte nicht, fertige Antworten auf alle Fragen zu geben. Stattdessen stellt es am Ende eine Reihe konkreter Fragen, die jetzt in diesem Konsultationsprozess aufgegriffen werden. Die meisten, wenn nicht alle, Fragen sind erwähnt. Wir haben in dieser Stellungnahme von industriAll ETU versucht, in Bezug auf ungeklärte Bereiche einige zusätzliche Anstöße und Antworten einzubringen. Sind die Akteure mit der Analyse in Bezug auf die Herausforderungen und Chancen im Zusammenhang mit länderübergreifenden betrieblichen Tarifvereinbarungen einverstanden? Gibt es andere wichtige Aspekte, die bislang nicht berücksichtigt wurden? IndustriAll European begrüßt das Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen zu länderübergreifenden Betriebsvereinbarungen und ist mit dem Inhalt weitenteils einverstanden. Es gibt einen detaillierten Überblick über viele der Probleme wie auch Chancen, die sich aus der wachsenden Zahl länderübergreifender betrieblicher Tarifvereinbarungen in multinationalen Unternehmen in Europa ergeben. Wir sind jedoch der festen Überzeugung, dass internationale Rahmenvereinbarungen in diesem Dokument nicht berücksichtigt werden sollen und dürfen. Das Arbeitsdokument versucht, einen Überblick über die rechtlichen Fragen und die Rechtsprechung im Zusammenhang mit „europäischen“ länderübergreifenden betrieblichen Tarifvereinbarungen zu erstellen. Die internationalen Rahmenvereinbarungen gehören NICHT in diese Übersicht, da ihr Zweck per Definition global und nicht europäisch ist. Wir können nicht über einen möglichen optionalen Rechtsrahmen in der EU diskutieren, der Auswirkungen auf globaler Ebene haben würde. Wir heißen nichtsdestotrotz die detaillierte Übersicht aller „Texte“ gut, die in multinationalen Unternehmen entwickelt wurden, und die zu treffende Unterscheidung bezüglich dieser Texte. Demzufolge begrüßen wir die im Arbeitsdokument enthaltene klare Definition einer länderübergreifenden betrieblichen Tarifvereinbarung und sind mit ihr einverstanden. Was fehlt jedoch im Dokument? * Erstens fehlt ein deutlicher Hinweis auf ein wichtiges Element eines möglichen optionalen Rahmens: die Form dieser Vereinbarungen. Ein solcher Rahmen muss Regeln in Bezug auf Mindestvorschriften hinsichtlich der Form festlegen. Wir denken dabei im Speziellen an Elemente wie den Geltungsbereich der Vereinbarung, das Datum der Unterzeichnung, die Laufzeit der Vereinbarung, die Bedingungen für die Kündigung einer Vereinbarung, das Datum des Inkrafttretens, die Unterzeichnerparteien usw. * Zweitens wird der Notwendigkeit eines klaren Streitverfahrens keine oder nur unzureichende Aufmerksamkeit geschenkt. Wir reden diesbezüglich nicht nur darüber, dass ein Streitverfahren in der Vereinbarung vorzusehen ist, sondern über den allgemeinen Rahmen für International Trade Union House (ITUH) – Boulevard du Roi Albert II 5 (Bfk. 10) – B-1210 Brüssel Tel.: +32 (0)2/226 00 50 [email protected] www.industriall-europe.eu 2 Vereinbarungen in Europa im Besonderen. Was passiert zum Beispiel, wenn sich die unterzeichnenden Parteien nicht wie in der Vereinbarung vorgesehen über ein Streitverfahren einigen? Wir sind der Meinung, dass auch eine Debatte über ein mögliches Mediationsverfahren (nicht Schiedsverfahren) auf europäischer Ebene geführt werden sollte. Im Zusammenhang mit Vereinbarungen auf europäischer Ebene, egal ob länderübergreifende betriebliche Tarifvereinbarungen oder andere, sollten man sich unserer Meinung nach zumindest an ein europäisches Arbeitsgericht mit entsprechender Struktur (und sicherlich nicht an den Europäischen Gerichtshof) wenden können. Die Diskussion über das Streikrecht im Zusammenhang mit Verhandlungen und Vereinbarungen auf europäischer Ebene ist auch noch offen. Was soll getan werden, um die mit länderübergreifenden betrieblichen Tarifvereinbarungen befassten Akteure zu unterstützen und ihre Rolle zu klären? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass sich die Einmischung in klaren Grenzen halten muss. Es sollte unbedingt eine Sozialpartner-Initiative bleiben. Die logischen und einzigen Partner für länderübergreifende betriebliche Tarifvereinbarungen sind unserer Meinung nach die Gewerkschaften. Nur sie können in ganz Europa ein klares Mandat für Verhandlungen mit allen Parteien vorweisen. Wir sind dafür, den Europäischen Gewerkschaftsverbänden (EGV) diesbezüglich eine klare und anerkannte Rolle zuzuweisen. Sie können eine klare interne Struktur festlegen– und haben dies in den meisten Fällen bereits getan –, um ein Verhandlungsmandat zu erteilen, das unter Berücksichtigung der verschiedenen nationalen Traditionen (Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungsorgane) für ihre Mitgliedsorganisationen in allen Ländern bindend ist. Zur weiteren Klärung der Rolle einer länderübergreifenden betrieblichen Tarifvereinbarung sollte darin für den Fall, dass die unterzeichnenden Parteien den optionalen Rahmen in Anspruch nehmen möchten, unter Beachtung der nationalen Systeme und/oder Traditionen ein klares Verfahren für die Umsetzung in die bestehenden nationalen Tarifverhandlungssysteme vorgesehen sein. Und zumindest eine Art Registrierungssystem auf europäischer Ebene (Datenbank) wäre hilfreich, um die Existenz dieser Vereinbarungen zu klären und sie transparenter zu machen. Wie kann das Bewusstsein in Bezug auf die Einhaltung von Datenschutzverpflichtungen, insbesondere im Hinblick auf die Übermittlung personenbezogener Daten an Nicht-EU-Länder, geschärft werden? Wir glauben nicht, dass dies eine schwerwiegende Frage oder ein Problem ist. Wenn es um die Namen und Titel der unterzeichnenden Parteien (Unternehmen und EGV-Funktionäre oder von ihnen beauftragte Personen) geht, dann ist es nur logisch, dass diese Namen veröffentlicht werden International Trade Union House (ITUH) – Boulevard du Roi Albert II 5 (Bfk. 10) – B-1210 Brüssel Tel.: +32 (0)2/226 00 50 [email protected] www.industriall-europe.eu 3 können. IndustriAll Europe stellt auf ihrer Website ALLE von ihr unterzeichneten Vereinbarungen online. Wir sind daher natürlich bereit, dies in einer strukturierten Art und Weise auf der Ebene der Europäischen Kommission zu tun. Dasselbe gilt für den Inhalt der Vereinbarungen. Wenn die unterzeichnenden Parteien den optionalen Rechtsrahmen in Anspruch nehmen, dann ist es nur logisch, dass der Inhalt der Vereinbarung bekannt gemacht wird. Ein Registrierungssystem für Vereinbarungen gibt es bereits im Großteil der Länder. In den meisten anderen Ländern werden sie auf den Internetseiten der Gewerkschaften veröffentlicht. Wie kann die Transparenz der länderübergreifenden betrieblichen Tarifvereinbarungen erhöht werden? Zunächst muss in der Vereinbarung vorgesehen werden, dass der Text (in allen benötigten Sprachen) sämtlichen Mitarbeiter des Unternehmens (bzw. denen, die in den Anwendungsbereich der Vereinbarung fallen) zugänglich gemacht wird. Titel und Format einer länderübergreifenden betrieblichen Tarifvereinbarung sollten klar erkennbar sein, damit man sofort begreift, dass es sich um eine Vereinbarung handelt, und worum es geht. Darüber hinaus ist industriAll Europe durchaus für ein öffentliches Register (Datenbank) für länderübergreifende betriebliche Tarifvereinbarungen. Der Grundstein dazu wurde bereits mit einem auf freiwilliger Basis funktionierenden EU-Projekt gelegt. IndustriAll Europe war von Anfang an dabei und hat alle von ihr unterzeichneten Vereinbarungen übermittelt. Es sollte jedoch nicht bei dieser rein freiwilligen Ebene bleiben. Wir brauchen einen klaren Überblick über die bestehenden Texte. International Trade Union House (ITUH) – Boulevard du Roi Albert II 5 (Bfk. 10) – B-1210 Brüssel Tel.: +32 (0)2/226 00 50 [email protected] www.industriall-europe.eu 4 Wie kann die Umsetzung der länderübergreifenden betrieblichen Tarifvereinbarungen verbessert werden und wie können Beziehungen mit anderen Ebenen des sozialen Dialogs besser berücksichtigt werden? Zunächst einmal würde ein klarer Rechtsstatus die Umsetzung einer Vereinbarung auf europäischer Ebene in die verschiedenen nationalen Systeme und Traditionen sehr begünstigen. Das ist derzeit nicht der Fall und führt dazu, dass wir mitunter Probleme mit der nationalen Umsetzung haben. Ein klarer rechtlicher Status würde bedeuten, dass die Vereinbarung für den darin vorgesehenen Geltungsbereich verbindlich ist, und würde diesbezüglichen Diskussionen den Boden entziehen. Zur Erleichterung der nationalen Umsetzung müssen wir jedoch neben der bestehenden nationalen Rangfolge von Vereinbarung und Normen auch eine europäische Ebene UND die Interaktion zwischen der europäischen und der nationalen Ebene vorsehen. Unser Vorschlag hierzu wäre: EUROPÄISCHE EBENE NATIONALE EBENE Europäische Richtlinie Sektorübergreifende Ebene mit Erga-omnesRegelung (Richtlinie) GESETZ Sektorübergreifend ohne Erga-omnesRegelung (freiwillige Vereinbarung) Sektorübergreifende Ebene Sektorebene mit Erga-omnes-Regelung Sektorebene ohne Erga-omnes-Regelung Sektorebene Unternehmensebene Unternehmensebene International Trade Union House (ITUH) – Boulevard du Roi Albert II 5 (Bfk. 10) – B-1210 Brüssel Tel.: +32 (0)2/226 00 50 [email protected] www.industriall-europe.eu 5 Wie kann mehr Rechtssicherheit bei der Anwendung der länderübergreifenden betrieblichen Tarifvereinbarungen erreicht werden? Sollte die Entwicklung eines Mechanismus zur Klärung der Rechtswirkung solcher Abkommen in Betracht gezogen werden? Ja, im Grunde benötigen wir Folgendes: * eine klare Rangfolge der Vereinbarungen und Normen (siehe oben); * ein klares Durchführungsverfahren für die Umsetzung der Vereinbarung auf europäischer Ebene in die nationalen Systeme und Traditionen; * eine klare Form (Geltungsbereich, Datum, Unterzeichner usw.) der Vereinbarung; * ein klarer Status in Bezug auf die unterzeichnenden Parteien (Unternehmen und EGV oder ihre ordnungsgemäß bevollmächtigten Vertreter). Wie die Unterzeichnerparteien – sowohl EGV als auch Unternehmen – zu ihrem Mandat und/oder einer internen Einigung kommen, sollte ihnen überlassen werden. Das ist in den meisten Ländern traditionell – und auch auf nationaler Ebene – nicht Gegenstand eines Rechtsrahmens. Sollten Maßnahmen zur Verhütung von Streitigkeiten und Förderung außergerichtlicher Streitbeilegung ergriffen werden? Wenn ja, welche Maßnahme(n)? Der erste Schritt sollte den Unterzeichnerparteien zustehen. Die Vereinbarung sollte am besten vorsehen, dass die unterzeichnenden Parteien im Falle einer Streitigkeit zusammenkommen, um diese Angelegenheit zu besprechen. Es geht vor allem darum, eine frühzeitige Einleitung rechtlicher Schritte zu vermeiden. Ein klares Verfahren für die Umsetzung (von der europäischen auf die nationale Ebene) könnte sich in dieser Hinsicht als sehr hilfreich erweisen. Viele der bisher aufgetretenen Probleme waren auf Schwierigkeiten bei der vollständigen Umsetzung der Vereinbarung in allen Ländern des Anwendungsbereichs zurückzuführen. Es sollte eine – noch ausstehende – Debatte über ein mögliches Mediationsverfahren (nicht Schiedsverfahren), wenn das interne Streitverfahren nicht funktioniert oder zu keiner Lösung kommt, geführt werden. Als „Last Case“-Szenario würden wir für ein europäisches Arbeitsgericht (mit dreigliedriger Struktur) für rein europäische Vereinbarungen optieren. Wir befürworten NICHT, diese Rolle dem Europäischen Gerichtshof zu übertragen. International Trade Union House (ITUH) – Boulevard du Roi Albert II 5 (Bfk. 10) – B-1210 Brüssel Tel.: +32 (0)2/226 00 50 [email protected] www.industriall-europe.eu 6 Sollte ein optionaler Rahmen, z. B. in Form von Leitlinien, zur Regelung der oben genannten Fragen entwickelt werden? Was sollten die wichtigsten Punkte eines solchen Rahmens sein? Ja, wir sind für die Entwicklung eines solchen optionalen Rahmens mit den folgenden Hauptelementen: * Form der Vereinbarungen (Geltungsbereich, Titel, Unterzeichnerparteien, Datum, Ende usw.) * klarer Status der unterzeichnenden Parteien (Unternehmen und EGV oder ihre ordnungsgemäß bevollmächtigten Vertreter) * Verfahren für die Umsetzung von der europäischen auf die nationale Ebene * klare Rangfolge der Vereinbarungen mit Interaktion zwischen der nationalen und europäischen Ebene * Streitverfahren (gemäß Vereinbarung, Mediation, Arbeitsgericht) * Registrierung länderübergreifender betrieblicher Tarifvereinbarungen (Transparenz) Wer sollten die Hauptakteure sein und welche Rolle sollte insbesondere den Sozialpartnern zugeteilt werden, und auf welcher Ebene? Die Hauptakteure sollten das Unternehmen (Vertreter) und die EGV sein. Die genaue Zusammensetzung der Verhandlungsteams obliegt den Hauptakteuren (industriAll Europe hat dies bereits klar in den internen Verfahren festgelegt). Die nationale Ebene sollte durch die Hauptakteure auf europäischer Ebene (Unternehmensstandorte durch die Zentrale und die nationalen Gewerkschaften und/oder Arbeitnehmervertretungsorgane durch die EGV) vertreten werden. _________________________ International Trade Union House (ITUH) – Boulevard du Roi Albert II 5 (Bfk. 10) – B-1210 Brüssel Tel.: +32 (0)2/226 00 50 [email protected] www.industriall-europe.eu 7