RELIGION ALS BESTANDTEIL UND FAKTOR NATIONALER IDENTITÄT Von Privatdozent Dr. Stefan Mückl, Freiburg i. Br. I. Die Fragestellung Religion als Bestandteil und Faktor nationaler Identität – unbefangene Wahrnehmung mag in einer derartigen Zuordnung von Religion und Nation, jedenfalls für die europäischen Verhältnisse, ein Paradoxon ausmachen: Europa als Ganzes wie die verschiedenen Staaten als seine Teile sind zutiefst vom Christentum geprägt. Charakteristikum des christlichen Glaubens aber ist doch, so ließe sich einwenden, gerade das Übergreifende, Verbindende, Universale. Im Glauben und für den Glaubenden kommt es nicht mehr auf die Zugehörigkeit zum Volk der Juden oder der Griechen an, sondern allein auf die einigende Zugehörigkeit zum Volk Gottes1. Wenn nun aber die – christliche – Religion universal angelegt, wie soll sie dann gleichwohl zur nationalen Identität rechnen können? Indes zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die historischen Abläufe der europäischen Geschichte, daß die christliche Religion in vielfältiger Weise dem kollektiven Bewußtsein und, mehr noch, der kollektiven Identifikationsbildung einzelner europäischer Völker zugerechnet werden kann. Von einem Konnex zwischen beiden Größen im eigentlichen Sinne läßt sich erst ab dem Zeitalter des modernen Territorial- und Nationalstaates sprechen, wiewohl manche seitdem eingetretene Entwicklungen weitaus längerfristig wirkende historische wie ideelle Tiefenschichten aufweisen. Am augenfälligsten stellt sich – historisch wie aktuell – die wechselseitige Bezogenheit von Religion und Nation in den von der Orthodoxie geprägten Staaten Ost- und Südosteuropas dar2. Bereits im Mittelalter übernahmen die bulgarischen und serbischen Zaren eine ähnlich markante ekklesiale Funktion wie ehedem die byzantinischen Kaiser. Gleiches galt seit der frühen Neuzeit für die Moskauer Großfürsten und nachmaligen russischen Zaren, welche mit dem Bild eines „Dritten Rom“ zusätzlich einen universalen Anspruch erhoben. Die langfristig angelegten religiös-nationalen Verflechtungen wurden abermals wirksam, als sich die Völker Südosteuropas im 19. und frühen 20. Jahrhundert von der osmanischen Fremdherrschaft lösten und in den neu entstandenen Nationalstaaten die gleichfalls neu errichteten autokephalen Nationalkirchen als Staatskirchen verfaßten. 1 2 Vgl. Gal 3, 28. Erste Orientierung bei Ernst Christoph Suttner, Kirche und Staat aus orthodoxer Sicht, Internationale Katholische Zeitschrift „Communio“ 32 (2003), S. 177 ff.; eingehend Kyriakos Kyriazopoulos, The Orthodox Cultural Area from Athens to Moscow and Minimal Guarantees of Religious Freedom, in diesem Band, S. ff. 1 Als geradezu konstitutiv für Religion erwies sich die im Entstehen begriffene Nation im Protestantismus: Die Loslösung der Kirche in England von der römischen Universalkirche unter Heinrich VIII. und ihre Umgestaltung in eine „Ecclesia anglicana“3 besaß schon ihren antreibenden und gestaltenden Ausgang im Staat. Auch der zunächst als binnenreligiöse Bewegung auftretende kontinentale Protestantismus hätte seinen mittel- und nordeuropäischen Siegeszug schwerlich ohne die Unterstützung der weltlichen Landesherren wie der deutschen Territorialfürsten und der skandinavischen Monarchen4 durchführen können. Mit der Institution der Staatskirche entstand eine besonders enge Verbindung von Religion und Nation bzw. Staat, in aller Regel unter Dominanz der letztgenannten Größe. Demgegenüber liegen die Verhältnisse im Katholizismus vielschichtiger: So sehr die Kirche von Anfang an die verschiedenen Völker (wie später die Nationen und Staaten) in den Blick nahm und manchen von ihnen auch ehrenvolle Kränze flocht (bekanntestes Beispiel: Frankreich als die „älteste Tochter der Kirche“), so wenig verstand sie sich dabei zu einer einfachen Gleichsetzung von katholischer Religion mit einer bestimmten Nation. Die Kirche beharrte vielmehr auf ihrem das Nationale übersteigenden, universalen Ideal auch dann, als sich die europäischen Herrscher konfessionsübergreifend als auf ihrem Herrschaftsgebiet absolut verstanden und ihre Souveränität gegen jedwede externe Intervention – sei sie auch geistlicher Natur – abzuschirmen bemüht waren. Anders als im orthodoxen und protestantischen Bereich vermochten sich nationalkirchliche Bestrebungen im Katholizismus niemals durchzusetzen, obgleich es an entsprechenden Bemühungen nicht gefehlt hat5. Erschüttert demnach schon der – hier notgedrungen summarische – Blick in die europäische Geschichte eine grundsätzliche Unvereinbarkeit von Religion und Nation, lohnte eine grundlegende Aufbereitung der Zuordnung des Prinzips der Einheit im Glauben zur Tatsache der Vielheit der Nationen. Sie kann hier nicht geleistet werden, statt dessen sei nur knapp auf zwei Gesichtspunkte verwiesen: Die Thematik hat bereits im christlichen Altertum die 3 4 5 Am Beginn der Entwicklung zur englischen Staatskirche steht 1534 Act of Supremacy , welche für den Monarchen die Rolle als Oberhaupt der Anglikanischen Kirche („the only supreme head in earth of the Church of Christ of England, called Anglicana Ecclesia“) reklamiert; historischer wie juristischer Abriß bei Paul Anthony Diaper, Law and Religion in England between 1532-1994, 2000, S. 64 ff., 110 ff. Die Staatskirche wurde in Dänemark 1536 sowie in Schweden und Finnland (damals zu Schweden gehörend) 1536/44 eingeführt. Historische Hintergründe bei Matthias Asche/Anton Schilling (Hrsg.), Dänemark, Norwegen und Schweden im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, 2003, speziell zu Dänemark Jens Olesen, Dänemark, Norwegen und Island, S. 27 (53 ff.) sowie zu Schweden und Finnland Werner Buchholz, Schweden mit Finnland, S. 107 (133 ff., 165 ff.). So etwa im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts der „Febronianismus“ sowie in der weiteren Entwicklung die „Emser Punktation“ von 1786; dazu Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 5. Aufl. 1972, S. 564 ff. 2 Kirchenväter eingehend beschäftigt6. In neuerer Zeit hat sich das Lehramt der katholischen Kirche im Grundsatz positiv zum Gedanken des Nationalen verhalten7. Von diesen Überlegungen ausgehend, soll im folgenden versucht werden, den Stellenwert der „Religion“ im Rahmen von „nationaler Identität“ auszumachen und näher zu konkretisieren. Normativer Bezugspunkt ist dabei Art. 6 Abs. 3 EUV: „Die Union achtet die nationale Identität der Mitgliedstaaten.“ Bevor der Frage nachgegangen werden kann, wie dieser Rechtssatz zu verstehen ist und was aus ihm folgt (III.), ist doppelte Aufbauarbeit zu leisten: Zunächst ist zu klären, inwieweit „Religion“ überhaupt „Bestandteil“ (dazu sogleich 1.) bzw. „Faktor“ von „nationaler Identität“ sein kann. Daran schließt eine verfassungsrechtliche Bestandsaufnahme der Mitgliedstaaten der Union an (II.). Freilich ist die Problematik mit Erwägungen zum rechtlichen Gehalt von Art. 6 Abs. 3 EUV noch nicht zur Gänze erschöpft: Die Relevanz der nationalen Identität der Mitgliedstaaten beschränkt sich nicht auf eine negative Kompetenzabgrenzung zur Union. Sie vermag auch positive Auswirkungen im Hinblick auf eine (noch näher zu entfaltende) Identität der Union zu zeitigen (IV.). 1. Religion als „Bestandteil“ nationaler Identität Das europäische Primärrecht verwendet den Begriff der „Identität“ wie selbstverständlich als rechtlichen Terminus. Dessen näherer Gehalt ist dabei wenig ausgeleuchtet, nur wenige der thematisch einschlägigen Abhandlungen stellen überhaupt Erwägungen hierüber an 8. In juristischen Zusammenhängen ist der Begriff „Identität“ vor allem im Völkerrecht geläufig. Der Herkunft nach handelt es sich freilich um einen philosophischen Terminus – näherhin einen der Logik sowie der Ontologie –, der aber schon längst auch Einzug in die Psychologie und in die Sozialwissenschaften gefunden hat. Einen ersten Anhalt des im hiesigen Kontext Relevanten vermag schon der ursprüngliche philosophische Gehalt zu geben 9: „Identität“ meint hier „Selbigkeit“, das Sich-selbst-Gleichbleiben eines Seienden in allen Veränderungen im akzidentellen Bereich aus dem Grund seines Wesens heraus. Anders gewendet und stark vereinfacht: Etwas ist dann nicht mehr (mit sich) identisch, wenn es ein wesensbestimmendes Element mit der Folge einbüßt, daß es nicht mehr sich selbst, sondern etwas anderes ist. 6 7 8 9 Dazu Joseph Ratzinger, Die Einheit der Nationen, 2005. II. Vatikanisches Konzil, Konstitution Gaudium et spes, Nr. 75 („hochherzige und treue Vaterlandsliebe“); Dekret Ad gentes, Nr. 15 (Aufforderung an „die aus allen Völkern in der Kirche versammelten Christgläubigen“, „die Vaterlandsliebe wahrhaft und tatkräftig zu üben“). – Ferner Johannes Paul II., Erinnerung und Identität, 2005, insbes. S. 81 ff. So etwa Karl Doehring, Die nationale Identität der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in: Ole Due/ Marcus Lutter/Jürgen Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Band I, 1995, S. 263 (264); Albert Bleckmann, Die Wahrung der „nationalen Identität“ im Unionsvertrag, JZ 1997, S. 265 f. Dazu näher Josef de Vries, Artikel „Identität“, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, 16. Auf. 1981, S. 177 f. 3 So verstanden, rechnet die – christliche – Religion fraglos zur Identität der europäischen Nationen: Keine von ihnen kann in ihrer historischen und geistesgeschichtlichen Entwicklung ohne jene gedacht, geschweige denn verstanden werden. Der Befund ist gemeineuropäisch evident – von der Architektur und die bildende Kunst über die Musik und Literatur bis hin zur Philosophie und zum Recht10. Im Positiven wie in Anfechtung und auch Ablehnung fehlte den europäischen Nationen ohne (christliche) Religion Wesentliches. Zuzugeben ist dabei freilich, daß die so umschriebene Zugehörigkeit der Religion zur nationalen Identität kein exklusives specificum nationale ausdrückt. Unter christlichen Vorzeichen kann und will Religion dies auch nicht: Im Unterschied zu einer „PolisReligion“11 (wie namentlich dem Judentum) bindet sich Religion nicht ausschließlich an ein Volk, eine Nation oder einen Staat. Umgekehrt sind diese diesseitigen Größen für Religion und Glauben aber keineswegs irrelevant. Entsprechend dem Missionsauftrag des auferstandenen Christus geht die Religion zu allen Völkern, greift dabei in dem Bemühen, alle Menschen zu Seinen Jüngern zu machen12, bestehende Eigen- und Besonderheiten auf und richtet sie, mitunter korrigierend und reinigend, auf den Glauben aus. Gemeinsamer Bezugspunkt ist demnach die Heilsgemeinschaft in Christus, welche Vielfalt in den diesseitigen Rechtsgemeinschaften nationalen und staatlichen Charakters aber nicht ausschließt, sondern sie umgekehrt als Bestandteil der Schöpfungsordnung positiv begreift13. Die Zuordnung von Religion und Nation steht allgemein im Spannungsbogen von Jenseitigem und Diesseitigem, wozu speziell im Christentum noch die weitere Polarität von Universalem und Partikularem tritt. Gerade das Beispiel der europäischen Nationen offenbart aber in signifikanter Weise geglückte „Inkulturation“: Religion durchdringt und gestaltet mit ihren Derivaten das Leben der einzelnen Völker, ohne aber deren Eigen- und Besonderheiten aufzuheben (zu wollen). Die christliche Religion beeinflußt die nationale Identität Polens anders als diejenige Deutschlands, diejenige Spaniens wiederum anders als die französische. Vor diesem Hintergrund wird man dem Einwand, der objektiv-kulturellen Komponente des Terminus „nationale Identität“ mit ihren herkömmlicherweise genannten Kriterien (Sprache, 10 11 12 13 Allgemein Axel Frhr. von Campenhausen, Christentum und Recht, in: Peter Antes (Hrsg.), Christentum und europäische Kultur, 2002, S. 96 ff.; Hans Liermann, Das kanonische Recht als Grundlage europäischen Rechtsdenkens, ZevKR 6 (1957/58), S. 37 ff.; Gerald Göbel, Der Beitrag des kanonischen Rechts zur europäischen Rechtskultur, ArchKathKirchR 159 (1990), S. 19 ff.; speziell für das Zivilrecht Hans-Jürgen Becker, Spuren des kanonischen Rechts im Bürgerlichen Gesetzbuch, in: Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik, 1999, S. 159 ff. Zu dieser Kategorie Ernst-Wolfgang Böckenförde, Stellung und Bedeutung der Religion in einer „Civil Society“, in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, S. 256 (259 ff., insbes. Fn. 7). Vgl. Mt 28, 19. Joachim Cardinal Meisner, Rheinischer Merkur, Nr. 1 v. 3. Januar 1997, S. 3: „Die Nation gehört zu den natürlichen Gliederungsformen, die der Schöpfer der Menschheit gegeben hat.“ 4 Kultur, Geschichte) ermangele es an Aussagekraft14, im Hinblick auf die Religion nicht beipflichten können. So richtig die Beobachtung der zunehmenden Pluralisierung auch ist, muß damit nicht zwingend die Unmöglichkeit der Kriterienbestimmung verbunden sein. 2. Religion als „Faktor“ nationaler Identität Rechnet also Religion gemeineuropäisch zur – jeweiligen – nationalen Identität, bedarf es im weiteren der Differenzierung hinsichtlich der Art und Weise des Wirksamwerdens: Religion mag einen bestimmenden oder einen abgeschwächten, einen verbindlich-bekenntnishaften oder einen unverbindlich-kulturellen, einen staatlich abgestützten oder einen dem Engagement der Bürger überantworteten Faktor darstellen, der die nationale Identität mitkonstituiert. Eine trennscharfe Typologie wird sich freilich kaum ausmachen lassen, zu sehr bedingen unterschiedliche, mitunter auch gegenläufige Entstehungsbedingungen und Einflußmomente Überschneidungen und Verschränkungen. In tatsächlicher Hinsicht rührt die Bedeutung des Faktors „Religion“ oftmals aus ihrer dominanten Stellung in der Bevölkerung, welche sich vielfach (aber nicht notwendigerweise) in einer entsprechenden gesellschaftlichen Bedeutung niederschlägt. Gesteigerte Relevanz kommt der Religion für die nationale Identität vor allem dann zu, wenn sie in der Vergangenheit ein Bündnis mit dem nationalen Gedanken insgesamt eingegangen ist, zumal in Phasen der Selbstbehauptung gegen nationale und religiöse Fremdherrschaft. Der Freiheitskampf der Völker Südosteuropas gegen das Osmanische Reich im 19. und 20. Jahrhundert liefert ein besonders augenfälliges Beispiel. Derartige Konstellationen führten auch im Katholizismus zu einer ausgeprägten Zuordnung von Religion und Nation, wofür die markanten Beispiele Irland und Polen stehen – besonders bemerkenswert ist bei ihnen zudem, daß sie in ekklesiologischer Hinsicht an ihrer universalen Ausrichtung nie einen Zweifel aufkommen ließen und nationalkirchliche Bestrebungen keinerlei Bedeutung erlangten. Eine gänzlich andere Frage ist es, in welcher Weise das Recht die tatsächliche Bedeutung des Faktors „Religion“ aufgreift und regelt. Europäisches Gemeingut ist mittlerweile durchweg das Grundrecht der Religionsfreiheit15, dem allerdings für die Untersuchung der nationalen Identität keine spezifische Bedeutung zukommt: In seiner ursprünglichen Stoßrichtung schützt es als Abwehrrecht primär den Nicht- und Andersgläubigen (obgleich inzwischen mitunter 14 15 Ulrich Haltern, Europäischer Kulturkampf, Der Staat 37 (1998), S. 591 (596 ff.). Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005, S. 427 ff.; ders., Religions- und Weltanschauungsfreiheit im Europarecht, 2002; Nikolaus Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1990. 5 der Gläubige vor jenen geschützt werden muß16), als universales Menschenrecht steht es jedermann zu, unabhängig von Staatsangehörigkeit und Religionszugehörigkeit. Für die Fragestellung als ergiebiger erweist sich zwar die Untersuchung des institutionellen Rechts, also dem Beziehungsgefüge zwischen dem Staat und den verfaßten Trägern von Religion17. Indes verschafft auch dieser Blickwinkel keinen vollständigen Aufschluß. Die nationale Identität wird zwar vielfach, aber nicht notwendigerweise, in den Rechtstexten widergespiegelt, sie ist nicht stets gleichbedeutend mit dem ordre public oder der Verfassungsidentität eines Staates. Eine rechtliche Regelung gibt in der Regel die tatsächlichen Verhältnisse des nationalen und staatlichen Lebens wieder. Hiervon gibt es nun nicht wenige Ausnahmen (ob sie die Regel bestätigen oder nicht, ist eine Wertungsfrage): Eine starke Verankerung der Religion in der Bevölkerung und eine dem entsprechende gesellschaftliche Bedeutung ihrer institutionellen Träger veranlaßte manche Rechtsordnung zu normativer Distanz (Prototyp: Frankreich)18. Umgekehrt drängt sich bei staatskirchlichen Modellen zunehmend die Frage auf, ob der rechtlichen Überbau noch über eine diesen tragende Basis im Tatsächlichen verfügt (namentlich: England19, aber auch Skandinavien20). Der letztgenannte Aspekt leitet über zu einer übergreifenden Beobachtung: Die Zuordnung von Religion und Nation wird unter den Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts um so eher dann (Fort-)Bestand haben, als sie von der freien Entscheidung der Bürger und Gläubigen getragen ist. Staatskirchliche und staatsreligiöse Systeme21, wiewohl ihnen im Grundsatz rechtlich nichts entgegensteht22, geraten unter doppelten Druck: Faktisch können sie durch Phänomene 16 17 18 19 20 21 22 Praxisrelevante Konstellationen: Begehren von Nicht-Gläubigen auf eine „religionslose“ Umgebung (etwa: BVerfGE 93, 1 – Kruzifix; BVerfG, NJW 2003, S. 3469 – Tischgebet in kommunalem Kindergarten; OVG NW, NJW 2006, S. 1228 – Kommando „Helm ab zum Gebet“ beim militärischen Zapfenstreich) sowie Schutzbegehren von Gläubigen gegen blasphemische Verunglimpfungen (BVerwG, NJW 1999, S. 304 – „Rock-Comical ‚Das Maria-Syndrom’“; OLG Nürnberg, NStZ-RR 1999, S. 238 – „Schweine-T-Shirt“; aus der europäischen Konventionspraxis EGMR, ÖJZ 1995, S. 154 – Otto-Preminger-Institut; zuletzt LG München, ZUM 2006, S. 578 – „Popetown“). Zur unveränderten Bedeutung und Fruchtbarkeit der institutionellen Betrachtungsweise im Staatskirchenrecht Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts (FN 15), S. 51 ff. Historische Aufbereitung: Axel Freiherr von Campenhausen, Staat und Kirche in Frankreich, 1962; aktuelle Bestandsaufnahme: Roland Minnerath, Das Verhältnis von Gesellschaft, Staat und Kirche in Frankreich, in: Burkhard Kämper/Michael Schlagheck (Hrsg.), Zwischen nationaler Identität und europäischer Harmonisierung, 2002, S. 47 ff. Zur seit über 100 Jahren – diskursiv ergiebig, praktisch folgenlos – geführten disestablishment-Diskussion Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts (FN 15), S. 85 ff. Gerhard Robbers, Kirche und Staat in Schweden, in: Joachim Bohnert/Christof Gramm/Urs Kindhäuser/ Joachim Lege/Alfred Rinken/ders. (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, 2001, S. 907 ff.; Kjell Å Modéer, Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in den skandinavischen Ländern, ZevKR 47 (2002), S. 339 (355 f.). Zum Unterschied: Alexander Hollerbach, Artikel „Staatskirchen und Staatsreligionen“, in: GörresGesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon Recht ∙ Wirtschaft ∙ Gesellschaft, Band 5, 7. Aufl. 1989, Sp. 182 ff. Aus Sicht der EMRK (Art. 9): EKMR, DR 5, 157 (158); EGMR, NJW 1991, S. 1404 – Darby; Nikolaus Blum (FN 15), S. 56, 134 f.; Jochen Abr. Frowein, Freedom of Religion in the Practice of the European 6 wie Pluralisierung und Säkularisierung an Legitimität einbüßen. Die bekenntnishafte Identifikation des Staates mit einer Religion oder einem Bekenntnis kollidiert, wie die Proselytismus-Problematik in Griechenland zeigt23, jedenfalls dann mit der Religionsfreiheit, wenn daraus auch für den Bürger Verbindlichkeit erwachsen soll. II. Verfassungsrechtliche Bestandsaufnahme 1. Textbefund Unverändert enthalten zahlreiche europäische Verfassungen markante Aussagen über den Stellenwert der Religion im Gefüge der staatlichen Organisation24. Nicht selten bringt bereits der Text zum Ausdruck, daß derartige Zuordnungen von dem Gedanken der bereits bestehenden oder vorausgesetzten nationalen Identität motiviert sind. Der Regelungsort der Aussagen ist einerseits – leitmotivartig und programmatisch – die Präambel, andererseits – dann in der Verbindlichkeit und auch den Rechtsfolgen konturierter – der eigentliche Verfassungstext. Eine Kombination der Elemente findet sich in der griechischen Verfassung, die geradezu prototypisch in ihrem Verfassungstext den engen Konnex von orthodoxer Religion und nationaler Identität zum Ausdruck bringt: Beginnt die Präambel mit einer „klassischen“ invocatio Dei („Im Namen der Heiligen, Wesensgleichen und Unteilbaren Dreifaltigkeit“), wird im weiteren als „(v)orherrschende Religion in Griechenland … die der Östlich Orthodoxen Kirche Christi“ bestimmt (Art. 3 Abs. 1 S. 1 Verf.). Das Konzept wird abgerundet durch ein verfassungsgesetzliches Verbot von „Proselytismus“ (Art. 13 Abs. 2 S. 3 Verf.). In vergleichbarer Deutlichkeit stellt auch die Verfassung des Beitrittskandidaten Bulgarien den Zusammenhang von Religion und Nation her: „Die traditionelle Religion in der Republik Bulgarien ist das östlich-orthodoxe Glaubensbekenntnis“ (Art. 13 Abs. 2 und 3 Verf.)25. Charakteristisch für die staatskirchlichen Ordnungen des Protestantismus ist die verfassungskräftige Festlegung der betreffenden Konfession als Staatskirche sowie die Verpflichtung des Monarchen, ihr anzugehören: So verhält es sich bezüglich des 23 24 25 Commission and Court of Human Rights, ZaöRV 46 (1986), S. 249 (257): „separation of church and State ... is a doctrine not included in the Convention“; zur Indifferenz des EU-Rechts gegenüber den staatskirchenrechtlichen Systemen Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts (FN 15), S. 563 ff. EGMR, ÖJZ 1994, 59 – Kokkinakis; JBl 1998, 573 – Larissis. Instruktive Länderberichte über das Staat-Kirche-Verhältnis in den Mitgliedstaaten der EU bei Gerhard Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2005. Näher Martin Illert, Die neuere Entwicklung im Verhältnis zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften in Bulgarien, in: Hartmut Kreß (Hrsg.), Religionsfreiheit als Leitbild, 2004, S. 305 ff. 7 anglikanischen Bekenntnisses in England26 sowie des lutherischen in Dänemark27, Schweden28 und Norwegen29. Gestalten sich heute diese Verfassungstexte juridisch und nüchtern, erweisen sich diejenigen, die den Katholizismus in den Blick nehmen, als auch historisch-kulturell akzentuiert und deutlich „farbenfroher“: – So beginnt die irische Verfassung30 mit den Worten: „Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, von der alle Autorität kommt und auf die, als unserem letzten Ziel, alle Handlungen sowohl der Menschen wieder Staaten ausgerichtet sein müssen, anerkennen wir, das Volk von Irland, in Demut alle unsere Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn, Jesus Christus, der unseren Vätern durch Jahrhunderte der Heimsuchung hindurch beigestanden hat“. An späterer Stelle heißt es weiter: „Der Staat anerkennt, daß dem allmächtigen Gott die Huldigung öffentlicher Verehrung gebührt. Er erweist Seinem Namen Ehre und achtet und ehrt die Religion.“31 – Auch die slowakische Verfassung32 bringt die enge Beziehung zwischen Religion und Nation mit deutlichen Worten auf den Punkt. Die Präambel beschwört die „Erinnerung an das politische und kulturelle Erbe unserer Vorfahren und an die jahrhundertelangen Erfahrungen aus den Kämpfen um die nationale Existenz und die eigene Staatlichkeit“ und erwähnt in diesem Kontext zudem das „geistige Erbe von Kyrillios und Methodios“, also jener Slawenapostel, die Papst Johannes Paul II. zu Co-Patronen Europas erhoben hat33. 26 27 28 29 30 31 32 33 Nach Art. 2 des Act of Settlement aus dem Jahr 1700 muß der Monarch der anglikanischen Kirche angehören („join in Communion with the Church of England as by Law established“); gem. Art. 3 sind Katholiken oder mit einem Katholiken Verheiratete von der Thronfolge ausgeschlossen. Art. 4 der Verfassung des Königreichs Dänemark vom 5. Juni 1953 lautet: „Die Evangelisch-lutherische Kirche ist die dänische Volkskirche und wird als solche vom Staat unterstützt.“; nach Art. 6 „soll“ der König ihr angehören. – Zur dänischen Verfassungsrechtslage Jens Ulf Jörgensen, Le système danois, Revue de droit canonique 54 (2004), S. 163 ff.; monographisch Mark Hallett, Staat und Kirche in Dänemark, 2001. Gem. § 4 der Thronfolgeordnung des Königreichs Schweden (i.d.F. von 1979; nach § 2 der Verfassung vom 28. Februar 1974 zählt sie zum Grundgesetz des Reiches) hat der „König stets von der reinen evangelischen Lehre zu sein“, welche im „unveränderten Augsburgischen Glaubensbekenntnis“ besteht. Sanktionsfolge bei Nichtbeachtung: „Wer von der königlichen Familie sich nicht zur selben Lehre bekennt, sei von der Sukzession ausgeschlossen“. Art. 2 S. 2 der (unverändert gültigen) norwegischen Verfassung vom 4. November 1814 statuiert: „Die evangelisch-lutherische Konfession verbleibt öffentliche Religion des Staates.“, nach Art. 4 soll sich der König „immer zur evangelisch-lutherischen Religion bekennen, sie ausüben und beschützen“. – Einzelheiten bei Per-Otto Gullaksen, Das Verhältnis von Staat und Kirche in Norwegen, ZevKR 45 (2000), S. 277 ff. Vom 1. Juli 1937. Art. 44 Abs. 1. Vom 1. September 1992. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Egregiae Virtutis vom 31. Dezember 1980, AAS 73 (1981), S. 258 ff. 8 – Ein weiteres markantes Beispiel liefert schließlich die polnische Verfassung34: In ihrer Präambel betont sie, daß die Kultur „im christlichen Erbe des Volkes und in allgemeinen menschlichen Werten verwurzelt“ sei und benennt im normativen Teil der Verfassung die so verstandene Kultur als „Quelle der Identität des polnischen Volkes“ (Art. 6 Abs. 1). Bemerkenswert ist zudem die in Zeiten der Säkularisierung und Pluralisierung vorbildhafte Synthese35 in der Präambel, welche sowohl die gläubigen wie die nichtgläubigen Bürger anzusprechen vermag und so dies Basis für die ausdrückliche Erwähnung des historisch-kulturellen Hintergrundes legt: „Wir, die Polnische Nation – alle Bürger ..., sowohl jene, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Guten und Schönen glauben, als auch jene, die einen solchen Glauben nicht teilen ...“ 2. Einwände Diese Textproben – sie ließen sie vermehren – sind in ihrer Aussage von einer derartigen Eindeutigkeit, daß sie, von einem „postmodernen“ Verfassungsverständnis her gesehen, Einwände geradezu provozieren. Deren erster wäre die Reduzierung des verfassungsrechtlich hergestellten Zusammenhangs von Religion und Nation auf ein bloßes Traditionsphänomen. Jene Bestimmungen, so würde man argumentieren, entstammten aus Verfassungstexten ehrwürdigen Alters, deren Revision entweder schon aus Respekt vor ihrer Ehrwürdigkeit unterbleibe oder aber infolge des Widerstrebens beharrender Kräfte nicht erreichbar sei. Den tatsächlichen Verhältnissen würden die Rechtsnormen aber nur noch bedingt oder überhaupt nicht mehr gerecht, weshalb man über ihre Derogation nachdenken könne oder müsse. Einer solchen Sicht wäre zuzugeben, daß manche der erwähnten Verfassungsbestimmungen in der Tat auf eine veritable Geltungsdauer zurückblicken können – teilweise bis in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts hinein. Richtig ist auch, daß in manchen der genannten Länder in den vergangenen Jahre einzelne Verfassungsrevisionen durchgeführt wurden, welche Verflechtungen von Religion und Staat gelockert und modifiziert haben (etwa: Irland 36 und Schweden37), das grundsätzliche Konzept aber unberührt ließen. Können daraus noch 34 35 36 37 Vom 2. April 1997. Würdigung: Joseph H. H. Weiler, Ein christliches Europa, 2004, S. 50 ff. Bis 1972 enthielt Art. 44 Abs. 1 der irischen Verfassung noch ein UAbs. 2 des Inhalts: „Der Staat anerkennt die besondere Stellung der Heiligen Katholischen, Apostolischen und Römischen Kirche als der Hüterin des Glaubens, zu dem sich die überwiegende Mehrheit der Bürger bekennt“. Modifizierungen erfuhren überdies das verfassungsgesetzliche Abtreibungs- und Scheidungsverbot in Art. 40 Abs. 3 bzw. 41 Abs. 3 UAbs. 2 der irischen Verfassung (1992 bzw. 1995). Namentlich die Bestimmung, derzufolge die Mitgliedschaft in der evangelischen Staatskirche automatisch durch Geburt (und nicht etwa durch Taufe) erworben wurde, dazu Gerhard Robbers, in: FS Hollerbach (FN 20), S. 907 (909, 911). 9 unterschiedliche Schlüsse gezogen werden, spricht der Umstand, daß sog. Totalrevisionen von Verfassungen die überkommene Rechtslage insgesamt aufrecht erhalten haben, für sich. In den vergangenen Jahren war dieses Phänomen zweimal zu beobachten: 1999/2000 in der Schweiz38 (Aufrechterhaltung der Invocatio Dei in der Präambel39) sowie 2001 in Griechenland40. Mehr noch, mitunter scheint das Bedürfnis der historisch-kulturellen Vergewisserung auch mit verfassungsrechtlichen Mitteln sogar zu wachsen: Im April 2006 proklamierten im österreichischen Bundesland Tirol im Rahmen eines vom Innsbrucker Bischofs gefeierten Pontifikalamtes der Landeshauptmann und der Landtagspräsident den hl. Georg zum zweiten Landespatron41. Vorangegangen war ein Landtagsbeschluß, der explizit auf die „Geschichte des Landes Tirol“ sowie die „neue landesgeschichtliche Entwicklung“ abhob42. Da das Erklärungsmodell des Traditionsphänomens bei den Nationen Mittel- und Südosteuropas schon aus tatsächlichen Gründen ausscheiden muß – die Verfassungen stammen durchweg aus den 1990er Jahren –, liegt ein anderer Einwand nahe: Die Einbeziehung der Religion in die nationale Identität sei verständliche Reaktion auf die Unterdrückung beider Phänomene in der Zeit des Kommunismus. Die demokratische Öffnung und die Zuwendung zu Europa würde dem „Unions-Standard“ entsprechende Prozesse der Säkularisierung und Relativierung bisheriger Gewißheiten auslösen, kurz: bei dem nunmehr zu beobachtenden Konnex von Religion und Nation handle es sich um ein (temporäres) Rückstandsphänomen. Stichhaltig ist auch das freilich nicht: Die gesellschaftliche und staatliche Entwicklung läuft mitnichten in evolutionistischer Folgerichtigkeit auf eine globale Säkularisierung hin. Im Gegenteil stellt weltweit gesehen die west- und zentraleuropäische Entwicklung eher die Ausnahme als die Regel dar, wie bereits ein kurzer Blick auf die USA erhellt. Auch in ökonomischer Hinsicht ließe sich eine wechselseitige Bedingtheit von zunehmender Prosperität und steigender Säkularisierung schwerlich herstellen – ansonsten müßte Bayern in hohem Maße säkularisiert, Mecklenburg-Vorpommern aber eine religiös blühende Landschaft sein. III. Europarechtlicher Schutz der nationalen Identität der Mitgliedstaaten 38 39 40 41 42 Näher Peter Häberle, Die „total“ revidierte Bundesverfassung der Schweiz von 1999/2000, in: Max-Emanuel Geis/Dieter Lorenz (Hrsg.), Staat ∙Kirche ∙Verwaltung. Festschrift für Hartmut Maurer zum 70. Geburtstag, 2001, S. 935 ff. Matthias Zeindler, „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“, Schweizerisches Jahrbuch für Kirchenrecht 2000, S. 47 ff.; ferner René Pahud de Mortanges (Hrsg.), Das Religionsrecht der neuen Bundesverfassung, 2001. Kostas Chryssogonos, Die umfassende griechische Verfassungsänderung von 2001, JöR n.F. 50 (2002), S. 433 ff. Tiroler Landeszeitung v. 21. April 2006. Tiroler Landtag, Kurzprotokoll der 14. Sitzung der XIV. Gesetzgebungsperiode am 30. Juni 2005, TOP 15. Eingehende historisch-kulturelle Begründung im Antrag auf Drs. 186/05 v. 28. April 2005. 10 Dem Begriff der „nationalen Identität“ kommt seit knapp 15 Jahren auch europarechtliche Bedeutung zu. Seit dem Vertrag von Maastricht enthält das Unionsrecht eine Bestimmung, derzufolge die Union die nationale Identität der Mitgliedstaaten „achtet“ (seit dem Amsterdamer Vertrag: Art. 6 Abs. 3 EUV). Die Aussage ist zwar deskriptiv formuliert, aber in der Sache normativ gemeint: Die Formulierung beinhaltet ein an die Union gerichtetes rechtliches Gebot. Dessen erste und unmittelbare Dimension ist negativer Art; es setzt der Union kompetentielle Schranken. 1. Rechtlicher Gehalt Für das nähere Verständnis der Bestimmung ist ein Blick auf ihre ratio förderlich. Hintergrund der Verankerung einer Schutzklausel zugunsten der nationalen Identität im Unionsrecht waren die in einigen Mitgliedstaaten artikulierten Befürchtungen vor ihrer (schleichenden) Entstaatlichung und ihrer sukzessiven Auflösung im Rahmen der Europäischen Union43. Kurz gesagt, will die Norm sicherstellen, daß der Prozeß der europäischen Einigung nicht zu einer Unifizierung führt, welche den einzelnen Gliedern ihre Eigenheit und Unterscheidbarkeit nimmt: Auch im geeinten Europa soll Frankreich „Frankreich“ bleiben, Deutschland „Deutschland“ und Polen „Polen“. Zur Ermittlung der Bestandteile der nationalen Identität i.S.v. Art. 6 Abs. 3 EUV ist erneut die Heranziehung der ursprünglichen philosophischen Bedeutung des Terminus „Identität“44 hilfreich, womit die Frage nach den wesensbestimmenden Elementen aufgeworfen ist. Fundamental ist zunächst als subjektiv-politische Komponente der Nationalidee45 die Staatlichkeit und Souveränität der Mitgliedstaaten46, welche aus dem Willen, Nation sein zu wollen, erwächst. Dieses Element indes ist zwar notwendig, aber noch nicht hinreichend: Der Staat allein macht noch nicht eine Nation aus47. Weiterhin wesensbestimmend für die nationale Identität ist somit jener Mindestbestand an Werten aus den verschiedenen Bereichen menschlichen Zusammenlebens, die das Selbstverständnis des jeweiligen Staates prägen48. 43 44 45 46 47 48 Arnd Uhle, Staat – Kirche – Kultur, 2004, S. 151; Christoph Stumpf, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), EUKommentar, 2000, Art. 6 EUV Rn. 42; Meinhard Hilf/Frank Schorkopf, in: Eberhard Grabitz/Meinhard Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 6 EUV (Stand : Januar 2004) Rn. 72; Meinhard Hilf, Europäische Union und nationale Identität der Mitgliedstaaten, in: Albrecht Randelzhofer u.a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995, S. 157 (161); Albert Bleckmann, JZ 1997, S. 265. Dazu oben, Text nach FN 9. Ulrich Haltern, Der Staat 37 (1998), S. 591 (594). BVerfGE 89, 155 (189); Doehring, in: FS Everling I (FN 8), S. 263 (264). Josef Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat – wechselseitige Bedingtheit, in: Rolf Stober (Hrsg.), Recht und Recht. Festschrift für Gerd Roellecke zum 70. Geburtstag, 1997, S. 137 ff. Umfassend Arnd Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004, S. 473 ff.; ders., Staat – Kirche – Kultur (FN 43), S. 150 ff.; Peter Lerche, Achtung der nationalen Identität (Art. F Abs. 1 EUV), in: Bundesnotarkammer (Hrsg.), Festschrift für Helmut Schippel zum 65. Geburtstag, 1996, S. 919 (920, 927 11 Als ein relevanter Bereich kommt dabei – wie dargelegt – auch derjenige der Religion zum Tragen49. Allerdings muß diese Prägung nicht notwendigerweise auch verfassungsrechtlich abgebildet sein: Nationale und Verfassungsidentiät der Mitgliedstaaten sind keine deckungsgleichen Größen50, diese muß weder zu jener rechnen noch sich in ihr erschöpfen51. In allem liegt der Fixpunkt der „nationalen Identität“ nach Wortlaut und ratio der Bestimmung im Schutz der Spezifika eines Mitgliedstaates52. Daher führen Bestrebungen nicht weiter, ihren rechtlichen Gehalt durch gemeineuropäische Anreicherungen, etwa den Verweis auf die grundsätzliche Integrationsoffenheit aller Mitgliedstaaten (der als solcher selbstredend zutreffend ist)53, zu relativieren. 2. Rechtsfolge Was aus der Formulierung „achtet“ rechtlich folgt, ergibt sich nicht schon aus dem Wortlaut der Bestimmung. Unter Hinweis darauf, daß nicht weitergehend eine Sicherung und Bewahrung der nationalen Identität festgeschrieben sei, wird teilweise angenommen, der nationalen Identität käme kein Vorrang vor dem Gemeinschaftshandeln zu, vielmehr sei im Konfliktfall ein Ausgleich anzustreben54. Ein derartiges Verständnis – Peter Lerche nennt es treffend „Wechselbad gegenseitiger Rücksichtnahme“55 –, würde indes Art. 6 Abs. 3 EUV der Sache nach auf den Gehalt des Subsidiaritätsprinzips verkürzen und damit der Bestimmung eine Bedeutung zuweisen, bei der sie keinen eigenständigen Gehalt mehr hätte. Daher sprechen die besseren Gründe dafür, einem Mitgliedstaat für den Fall einer Beeinträchtigung seiner nationalen Identität einen entsprechenden Unterlassungsanspruch einzuräumen56. 49 50 51 52 53 54 55 56 ff.); Adelheid Puttler, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl. 2003, Art. 6 EUV Rn. 213. Explizit auch im Rahmen des Art. 6 Abs. 3 EUV Albert Bleckmann, JZ 1997, S. 265 (269). In diese Richtung aber Hans Heinrich Rupp, Bemerkungen zum europarechtlichen Schutz der „nationalen Identität“ der EU-Mitgliedstaaten, in: Hans-Wolfgang Arndt/Franz-Ludwig Knemeyer/Dieter Kugelmann/ Werner Meng/Michael Schweitzer (Hrsg.), Völkerrecht und deutsches Recht. Festschrift für Walter Rudolf zum 70. Geburtstag, 2001, S. 173 (174). Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts (FN 15), S. 414; ders., Religions- und Weltanschauungsfreiheit (FN 15), S. 25 f.; Christian Waldhoff, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht – Einwirkungen des Völker- und Europarechts, in: Christian Walter/Hans Michael Heinig (Hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?, 2006, S. ▪ (Text zu Fn. 126); ders., Kirchliche Selbstbestimmung und Europarecht, JZ 2003, S. 978 (985); anders Marcel Vachek, Das Religionsrecht der Europäischen Union im Spannungsfeld zwischen mitgliedstaatlichen Kompetenzreservaten und Art. 9 EMRK, 2000, S. 272. Meinhard Hilf, in: GS Grabitz (FN 43), S. 157 (163), betont mit Recht, daß dem Begriff der „nationalen Identität“ auch ein abgrenzendes Moment zu anderen Nationen innewohnt. Hans Michael Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 422 f. Meinhard Hilf, in: GS Grabitz (FN 43), S. 157 (164 f.); Ulrich Haltern, Der Staat 37 (1998), S. 591 (618 ff.); Adelheid Puttler, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV (FN 48), Art. 6 EUV Rn. 217. Peter Lerche, in: FS Schippel (FN 48), S. 919 (929). Arnd Uhle, Staat – Kirche – Kultur (FN 43), S. 154; Alexander Schmitt Glaeser, Grundgesetz und Europarecht als Elemente Europäischen Verfassungsrechts, 1996, S. 178 ff.; Markus Heintzen, in: Die 12 Für die Rechtsanwendung steht außer Frage, daß die Schwelle für die Geltendmachung der Gefährdung der nationalen Identität hoch liegt und liegen muß: Könnte jeder Mitgliedstaat ihm mißliebige gemeinschaftsrechtliche Ingerenzen schon unter bloßen Hinweis auf Art. 6 Abs. 3 EUV abwehren, würde dies die Grundentscheidung für den Vorrang des Gemeinschaftsrechts unterlaufen und in letzter Konsequenz aufgeben. Für den Normalfall wird es eines Rückgriffs auf die Kompetenzschranke der „nationalen Identität“ kaum bedürfen; finden sich in der Regel konkretere rechtliche Maßstäbe zur Abgrenzung europäischer und nationaler Kompetenzen. Im Ergebnis dürfte sich daher Art. 6 Abs. 3 EUV nur in evidenten und eklatanten – aus gegenwärtiger Sicht: wenig wahrscheinlichen – „Übergriffen“ der Gemeinschaft in das Hausgut der Mitgliedstaaten aktivieren lassen57. 3. Konkretisierung für den Bereich „Religion“ Aus dem Dargelegten rechtliche Folgerungen für den Bereich „Religion“ zu ziehen, verlangt zunächst nach einer präzisierenden Einschränkung: Zu handeln ist im Folgenden von der Zuordnung der Religion zur nationalen Identität nur insofern, als sich diese auch in rechtlichen Bestimmungen niederschlägt. Der Kernbestand jenes Zusammenhangs, der in der historisch-kulturellen Prägung im engeren Sinn manifestiert, wäre allenfalls im Wege einer Kulturrevolution zu erschüttern (welche freilich in einer Rechtsgemeinschaft wie der Europäischen Union58 außerhalb des Vorstellbaren liegt) – und selbst dann nicht dauerhaft. Die europäische Geschichte belegt die Vergeblichkeit einschlägiger Versuche zur Genüge. Einer der (seltenen) Anwendungsfälle, in denen sich eine Rechtsmaterie dem Begriff der „nationalen Identität“ zuordnen läßt, ist die in einer nationalen Rechtsordnung getroffene Ausgestaltung des Beziehungsgefüges zwischen Staat und Kirche59: Das Staatskirchenrecht ist autochthones, spezifisch nationales Recht60, in besonderem Maße historisch geronnen und weit über ihren unmittelbaren Anwendungsbereich rechts- und kulturprägend61. 57 58 59 60 61 Kirchen im Recht der Europäischen Union, in: Josef Isensee/Wilhelm Rees/Wolfgang Rüfner (Hrsg.), Dem Staates, was des Staates – der Kirche, was der Kirche ist. Festschrift für Joseph Listl zum 70. Geburtstag, 1999, S. 29 (36); Albert Bleckmann, JZ 1997, S. 265 (269). In der Konsequenz wird damit die Frage nach dem „quis iudicabit“ aufgeworfen. Wie im allgemeinen das Problem der Letztentscheidungskompetenz in Fällen der Kollision zwischen Unions- und Verfassungsrecht umstritten ist (zu den Positionen Rudolf Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 201 ff., insbes. 224 ff.), wird auch hier unterschiedlich beurteilt, wem die Definitionshoheit über die Elemente der „nationalen Identität“ zukommt; einerseits Peter Lerche, in: FS Schippel (FN 48), S. 919 (930 f.); andererseits Ulrich Haltern, Der Staat 37 (1998), S. 591 (600, Fn. 50). Klassische Formulierung: Walter Hallstein, Die EWG – Eine Rechtsgemeinschaft, in: Thomas Oppermann (Hrsg.), Europäische Reden, 1979, S. 341 ff.; ders., Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl. 1979, S. 51 ff. Umfangr. Nachw. bei Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts (FN 15), S. 415. Josef Isensee, Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts, in: FS Listl (FN 58), S. 67 (72). Christian Waldhoff, in: Christian Walter/Hans Michael Heinig (Hrsg., FN 53), S. ▪. 13 Dieser einhellige Befund besagt freilich nicht, daß „das“ (gesamte) Staatskirchenrecht der einzelnen Mitgliedstaaten in allen seinen Einzelausprägungen und Rechtsfiguren schon zu deren nationaler Identität rechnen würde. Vielmehr gilt es – für einen jeden gesondert – die tragenden Grundpfeiler jenes Beziehungsgefüges ausfindig zu machen, die als historisch wie aktuell gleichermaßen prägend zum normativen Kernbestand des Gemeinwesens rechnen62. Neben fundamentalen, die unterschiedlichen staatskirchenrechtlichen Systeme übergreifenden Gemeinsamkeiten (Säkularität, Neutralität, Parität)63 weisen die europäischen Rechtsordnungen naturgemäß auch signifikante Unterschiede auf: In Deutschland zählt das Verbot der Staatskirche zur nationalen Identität, in England umgekehrt ihr Bestehen. Untersagt in Frankreich das überkommene Verständnis der laïcité die Berücksichtigung religiöser Überzeugungen im staatlichen Bereich, ist sie in Polen und Spanien von Verfassungs wegen gefordert. Als die wesentlichen, der nationalen Identität zuzurechnenden Strukturprinzipien sind für das deutsche Verfassungsrecht64 zu nennen: Die Institute der Religions- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) und des Verbots der Diskriminierung aus religiösen und weltanschaulichen Gründen (Art. 3 Abs. 3, 33 Abs. 3 GG) bilden gewissermaßen das grundrechtliche Fundament. Diese Prinzipien haben sich gerade in Deutschland in einem wechsel- und mitunter leidvollen historischen Prozeß als Bedingung des Friedens im staatlichen Verband entwickelt65. Aus dem gleichen Grund ist für die nationale Identität in Deutschland auch das in Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 1 WRV verankerte Verbot der Staatskirche prägend. Es untersagt als grundsätzliche „Scheidung in der Wurzel“66 die institutionelle Verbindung von Staat und Kirche, ohne damit eine Zusammenarbeit in einzelnen Sachgebieten (Bereich der „gemeinsamen Angelegenheiten“, res mixtae) auszuschließen67. Spiegelbildlich zum Verbot der Staatskirche ist schließlich die Garantie des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV) zu nennen, welches erst die Voraussetzung der Unabhängigkeit für die Sendung und das Wirken der Kirche bildet. 62 63 64 65 66 67 Stefan Mückl, Religions- und Weltanschauungsfreiheit (FN 15), S. 27; Claus Dieter Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, 2003, S. 17. Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts (FN 15), S. 396 ff. Zum folgenden zuletzt Christian Waldhoff, in: Christian Walter/Hans Michael Heinig (Hrsg., FN 53), S. ▪; ferner Arnd Uhle, Staat – Kirche – Kultur (FN 43), S. 151 ff. Prägnant zu dieser Friedensfunktion Paul Mikat, Zur rechtlichen Bedeutung religiöser Interessen, 1973, S. 17, 33 ff.; näher entfaltend Martin Heckel, Religionsfreiheit, in: ders., Gesammelte Schriften, Band IV, 1997, S. 647 (653 ff., 661 f.). Alexander Hollerbach, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, VVDStRL 26 (1968), S. 57 (62). Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Neudruck 1999, Rn. 471 f. 14 Auch im speziellen Anwendungsfall gilt freilich die schon zur grundsätzlichen Exegese von Art. 6 Abs. 3 EUV geäußerte Zurückhaltung, was die praktische Effektuierbarkeit der Norm betrifft: Der Union ermangelt es an einer Kompetenz für den Bereich des Staatskirchenrechts68. Zwar vermögen Rechtsakte der Unionsorgane infolge der funktionalen Systemlogik des Unionsrechts auch auf staatskirchenrechtliche Sachverhalte – mittelbare – Auswirkungen zu entfalten69. Diese werden aber kaum eine derartige Intensität erreichen, daß sie die tragenden Grundpfeiler des Verhältnisses von Staat und Kirche in einem Mitgliedstaat identitätsgefährdend zu erschüttern. Somit wird sich Art. 6 Abs. 3 EUV gegen die europarechtlich veranlaßte Modifizierung einzelner Institute und Bestimmungen des nationalen Staatskirchenrechts in der Regel nicht fruchtbar machen lassen. IV. Bedeutung für Europa Bei allen Deutungsunterschieden in der Substanz wie im Detail besteht – jedenfalls im deutschen Schrifttum – eine weitgehende Übereinstimmung dahin, daß der Schutz der nationalen Identität in Art. 6 Abs. 3 EUV auf die Gewährleistung einer „multikulturellen Gesellschaft“ in Europa zielt70. Damit stellt sich aber an die „immer engere Union“ der europäischen Völker die Rückfrage, wie es um ihre eigene Identität steht – bedarf nicht auch sie einigender Prinzipien, die gleichfalls historisch-kulturellen Wurzeln entspringen? Daran, daß der Rekurs auf einen Kernbestand von elementaren Verfassungsgrundsätzen, die aus dem gemeineuropäischen Fundus entstammen, schon eine allein tragfähige Basis darzustellen vermag, zweifeln augenscheinlich auch die Unionsorgane wie die Autoren des „Verfassungsvertrags“ – anders wären die mitunter artifiziellen Bemühungen um eine eigene europäische Symbolik nicht zu erklären71. Als überaus bezeichnend für den Stand des Identitätsdiskurses auf europäischer Ebene erwies sich in den vergangenen Jahren die Frage, ob der europäische „Verfassungsvertrag“ eine Bezugnahme auf Gott72 oder das Christentum enthalten solle. Bekanntlich vermochte sich der Konvent nur zu der minimalistischen Formulierung „schöpfend aus ... religiösen ... 68 69 70 71 72 Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts (FN 15), S. 410 ff. Ebd., S. 411; Auflistung derartiger Einwirkungen S. 459 ff., 478 ff. Albert Bleckmann, JZ 1997, S. 265 (269), ebenso Ulrich Haltern, Der Staat 37 (1998), S. 591 (621 ff.). – In die gleiche Richtung geht Art. II-82 des einstweilen gescheiterten „Verfassungsvertrags“: „Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.“ Treffende Kritik bei Ulrich Haltern, Europäische Verfassungsästhetik, KritV 2002, S. 261 ff. Grundsätzlich zum Thema Josef Isensee, Rekurs des Verfassunggebers auf Gott – Invocatio dei und provocatio ad deum in der Verfassung des säkularen Staates, in: Maksymilian Pazdan (Hrsg.), Valeat aequitas. Festschrift für Remigiusz Sobanski, 2000, S. 177 ff. 15 Überlieferungen Europas“ durchzuringen73 – dabei den evidenten Umstand ausblendend, daß Europa aus religionssoziologischer Sicht christlich ist: Im „Europa der 25“ bekennen sich über 80% der Bevölkerung zum Christentum74. An dieser Stelle soll die Diskussion zu den Komplexen Gottesbezug bzw. Erwähnung des Christentums in der Sache nicht vertieft werden75. Sie sind aber symptomatisch für die Ziellosigkeit der Fragen nach dem Selbstverständnis Europas wie seiner Finalität. Die Präambel des einstweiligen gescheiterten „Verfassungsvertrags“ gibt auf die Frage, aus welchen Wurzeln Europa schöpft, eine unvollständige (und damit unrichtige) und auf die Frage, was es in der Zukunft sein will, eine nebulöse Antwort (um „dieses große Abenteuer fortzusetzen, das einen Raum eröffnet, in dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten kann“.). Religion und europäische Identität – das wäre ein neues Thema76. Aber die Überlegungen zum Zusammenspiel von Religion und nationaler Identität ließen sich auch dafür fruchtbar machen. Überdies stellt es einen bemerkenswerten Umstand dar, daß der Begriff „Religion“ allein in den Sprachen der europäischen Zivilisation anzutreffen ist77 – ausgehend vom Lateinischen in den romanischen, germanischen und slawischen Sprachen. Vor allem aber benötigt die Diskussion über Identität – national wie europäisch – ein tatsächlich tragfähiges Fundament, das bei der Ermittlung ihrer Bestandteile auf falsche Weichenstellungen verzichtet. Vielfach bestehen solche in der Annahme, die eigene Identitätsbestimmung führe zu konfessionellen Spannungen oder zur „Dialogunfähigkeit“ mit anderen. Das Gegenteil davon trifft zu: Toleranz ist nicht der Sache, sondern der Person geschuldet78 und wer sich 73 74 75 76 77 78 Die Diskussionen um den „Verfassungsvertrag“ hatten ihre Vorläufer bei der Erarbeitung der „Europäischen Grundrechte-Charta“ im Jahr 2000. Schon damals galt ein Gottesbezug nicht als „vermittelbar“ oder „mehrheitsfähig“, allein die Wendung „spiritual heritage“ bzw. „patrimoine spirituel“ fand in den Text Eingang (in der deutschen Fassung als „geistig-religiöses Erbe“ erweiternd akzentuiert). 58% der EU-Bürger sind katholisch, 14% protestantisch, 8% anglikanisch und 3% orthodox. Außer dem scharfsinnigen Essay von Joseph H. H. Weiler (FN 35), s. ferner noch Helmut Goerlich/Wolfgang Huber/Karl Lehmann (Hrsg.), Verfassung ohne Gottesbezug?, 2004; Christoph Konrath, Vermittlung zu den Präambeldiskussionen in der EU und in Österreich, ÖARR 51 (2004), S. 189 ff.; Norbert Riedel, Gott in der Europäischen Verfassung?, EuR 2005, S. 676 ff. S. nur Herbert Schambeck, Die christlichen Wurzeln in der Europäischen Verfassungsidee, in: Peter Tettinger/Klaus Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, S. 199 ff.; Anton Rauscher, Die christlichen Wurzeln der Europäischen Einigung, in: Dieter Blumenwitz/Gilbert Gornig/Dietrich Murswiek (Hrsg.), Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, 2005, S. 19 ff. Friedrich Tenbruck, Die Religion im Maelstroem der Reflexion, in: Jörg Bergmann/Alois Hahn/Thomas Luckmann (Hrsg.), Religion und Kultur, 1993, S. 31 (37). Treffend Max Scheler, Christentum und Gesellschaft, in: ders., Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre, 2. Aufl. 1963, S. 228: Konfessioneller Friede als „die Forderung, daß der Mensch denen die sittliche Treue halten soll, daß er diejenigen lieben und achten soll, die eben das verwerfen, was ihm das Teuerste ist: seinen Glauben und seine Weltanschauung … und daß er diese Treue halte nicht aus Gleichgültigkeit, aus der Schwäche seines Glaubens und aus Kleinglauben heraus, sondern gerade kraft seines Glaubens und der in ihm eingeschlossenen Sittengesetze“. 16 seiner selbst und seines Standortes gewiß ist, ist gerade dadurch zum Dialog in der Lage. Diese Abfolge hat im Jahr 2004 Papst Benedikt XVI. – seinerzeit noch Kardinal – vor dem Italienischen Senat mit den Worten ausgedrückt: „Hier gibt es einen merkwürdigen und nur als pathologisch zu bezeichnenden Selbsthaß des Abendlandes, das sich zwar lobenswerterweise fremden Werten verstehend zu öffnen versucht, aber sich selbst nicht mehr mag, von seiner eigenen Geschichte nur noch das Grausame und Zerstörerische sieht, das Große und Reine aber nicht mehr wahrzunehmen vermag. … Die immer wieder leidenschaftlich geforderte Multikulturalität ist manchmal vor allem Absage an das Eigene, Flucht vor dem Eigenen. Aber Multikulturalität kann ohne gemeinsame Konstanten, ohne Richtpunkte des Eigenen nicht bestehen.“79 79 Joseph Cardinal Ratzinger, Europas Identität. Seine geistigen Grundlagen gestern, heute, morgen, in: ders., Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, 2005, S. 68 (87 f.). – Ganz ähnlich aus staatsrechtlicher Sicht: Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, S. 183 f. 17