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RELIGION ALS BESTANDTEIL UND FAKTOR NATIONALER IDENTITÄT
Von Privatdozent Dr. Stefan Mückl, Freiburg i. Br.
I.
Die Fragestellung
Religion als Bestandteil und Faktor nationaler Identität – unbefangene Wahrnehmung mag in
einer derartigen Zuordnung von Religion und Nation, jedenfalls für die europäischen
Verhältnisse, ein Paradoxon ausmachen: Europa als Ganzes wie die verschiedenen Staaten als
seine Teile sind zutiefst vom Christentum geprägt. Charakteristikum des christlichen
Glaubens aber ist doch, so ließe sich einwenden, gerade das Übergreifende, Verbindende,
Universale. Im Glauben und für den Glaubenden kommt es nicht mehr auf die Zugehörigkeit
zum Volk der Juden oder der Griechen an, sondern allein auf die einigende Zugehörigkeit
zum Volk Gottes1. Wenn nun aber die – christliche – Religion universal angelegt, wie soll sie
dann gleichwohl zur nationalen Identität rechnen können?
Indes zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die historischen Abläufe der europäischen
Geschichte, daß die christliche Religion in vielfältiger Weise dem kollektiven Bewußtsein
und, mehr noch, der kollektiven Identifikationsbildung einzelner europäischer Völker
zugerechnet werden kann. Von einem Konnex zwischen beiden Größen im eigentlichen Sinne
läßt sich erst ab dem Zeitalter des modernen Territorial- und Nationalstaates sprechen,
wiewohl manche seitdem eingetretene Entwicklungen weitaus längerfristig wirkende
historische wie ideelle Tiefenschichten aufweisen.
Am augenfälligsten stellt sich – historisch wie aktuell – die wechselseitige Bezogenheit von
Religion und Nation in den von der Orthodoxie geprägten Staaten Ost- und Südosteuropas
dar2. Bereits im Mittelalter übernahmen die bulgarischen und serbischen Zaren eine ähnlich
markante ekklesiale Funktion wie ehedem die byzantinischen Kaiser. Gleiches galt seit der
frühen Neuzeit für die Moskauer Großfürsten und nachmaligen russischen Zaren, welche mit
dem Bild eines „Dritten Rom“ zusätzlich einen universalen Anspruch erhoben. Die langfristig
angelegten religiös-nationalen Verflechtungen wurden abermals wirksam, als sich die Völker
Südosteuropas im 19. und frühen 20. Jahrhundert von der osmanischen Fremdherrschaft
lösten und in den neu entstandenen Nationalstaaten die gleichfalls neu errichteten
autokephalen Nationalkirchen als Staatskirchen verfaßten.
1
2
Vgl. Gal 3, 28.
Erste Orientierung bei Ernst Christoph Suttner, Kirche und Staat aus orthodoxer Sicht, Internationale
Katholische Zeitschrift „Communio“ 32 (2003), S. 177 ff.; eingehend Kyriakos Kyriazopoulos, The Orthodox
Cultural Area from Athens to Moscow and Minimal Guarantees of Religious Freedom, in diesem Band, S. 
ff.
1
Als geradezu konstitutiv für Religion erwies sich die im Entstehen begriffene Nation im
Protestantismus: Die Loslösung der Kirche in England von der römischen Universalkirche
unter Heinrich VIII. und ihre Umgestaltung in eine „Ecclesia anglicana“3 besaß schon ihren
antreibenden und gestaltenden Ausgang im Staat. Auch der zunächst als binnenreligiöse
Bewegung
auftretende
kontinentale
Protestantismus
hätte
seinen
mittel-
und
nordeuropäischen Siegeszug schwerlich ohne die Unterstützung der weltlichen Landesherren
wie der deutschen Territorialfürsten und der skandinavischen Monarchen4 durchführen
können. Mit der Institution der Staatskirche entstand eine besonders enge Verbindung von
Religion und Nation bzw. Staat, in aller Regel unter Dominanz der letztgenannten Größe.
Demgegenüber liegen die Verhältnisse im Katholizismus vielschichtiger: So sehr die Kirche
von Anfang an die verschiedenen Völker (wie später die Nationen und Staaten) in den Blick
nahm und manchen von ihnen auch ehrenvolle Kränze flocht (bekanntestes Beispiel:
Frankreich als die „älteste Tochter der Kirche“), so wenig verstand sie sich dabei zu einer
einfachen Gleichsetzung von katholischer Religion mit einer bestimmten Nation. Die Kirche
beharrte vielmehr auf ihrem das Nationale übersteigenden, universalen Ideal auch dann, als
sich die europäischen Herrscher konfessionsübergreifend als auf ihrem Herrschaftsgebiet
absolut verstanden und ihre Souveränität gegen jedwede externe Intervention – sei sie auch
geistlicher Natur – abzuschirmen bemüht waren. Anders als im orthodoxen und
protestantischen Bereich vermochten sich nationalkirchliche Bestrebungen im Katholizismus
niemals durchzusetzen, obgleich es an entsprechenden Bemühungen nicht gefehlt hat5.
Erschüttert demnach schon der – hier notgedrungen summarische – Blick in die europäische
Geschichte eine grundsätzliche Unvereinbarkeit von Religion und Nation, lohnte eine
grundlegende Aufbereitung der Zuordnung des Prinzips der Einheit im Glauben zur Tatsache
der Vielheit der Nationen. Sie kann hier nicht geleistet werden, statt dessen sei nur knapp auf
zwei Gesichtspunkte verwiesen: Die Thematik hat bereits im christlichen Altertum die
3
4
5
Am Beginn der Entwicklung zur englischen Staatskirche steht 1534 Act of Supremacy , welche für den
Monarchen die Rolle als Oberhaupt der Anglikanischen Kirche („the only supreme head in earth of the
Church of Christ of England, called Anglicana Ecclesia“) reklamiert; historischer wie juristischer Abriß bei
Paul Anthony Diaper, Law and Religion in England between 1532-1994, 2000, S. 64 ff., 110 ff.
Die Staatskirche wurde in Dänemark 1536 sowie in Schweden und Finnland (damals zu Schweden gehörend)
1536/44 eingeführt. Historische Hintergründe bei Matthias Asche/Anton Schilling (Hrsg.), Dänemark,
Norwegen und Schweden im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, 2003, speziell zu
Dänemark Jens Olesen, Dänemark, Norwegen und Island, S. 27 (53 ff.) sowie zu Schweden und Finnland
Werner Buchholz, Schweden mit Finnland, S. 107 (133 ff., 165 ff.).
So etwa im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts der „Febronianismus“ sowie in der weiteren
Entwicklung die „Emser Punktation“ von 1786; dazu Hans Erich Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 5.
Aufl. 1972, S. 564 ff.
2
Kirchenväter eingehend beschäftigt6. In neuerer Zeit hat sich das Lehramt der katholischen
Kirche im Grundsatz positiv zum Gedanken des Nationalen verhalten7.
Von diesen Überlegungen ausgehend, soll im folgenden versucht werden, den Stellenwert der
„Religion“ im Rahmen von „nationaler Identität“ auszumachen und näher zu konkretisieren.
Normativer Bezugspunkt ist dabei Art. 6 Abs. 3 EUV: „Die Union achtet die nationale
Identität der Mitgliedstaaten.“ Bevor der Frage nachgegangen werden kann, wie dieser
Rechtssatz zu verstehen ist und was aus ihm folgt (III.), ist doppelte Aufbauarbeit zu leisten:
Zunächst ist zu klären, inwieweit „Religion“ überhaupt „Bestandteil“ (dazu sogleich 1.) bzw.
„Faktor“ von „nationaler Identität“ sein kann. Daran schließt eine verfassungsrechtliche
Bestandsaufnahme der Mitgliedstaaten der Union an (II.). Freilich ist die Problematik mit
Erwägungen zum rechtlichen Gehalt von Art. 6 Abs. 3 EUV noch nicht zur Gänze erschöpft:
Die Relevanz der nationalen Identität der Mitgliedstaaten beschränkt sich nicht auf eine
negative Kompetenzabgrenzung zur Union. Sie vermag auch positive Auswirkungen im
Hinblick auf eine (noch näher zu entfaltende) Identität der Union zu zeitigen (IV.).
1. Religion als „Bestandteil“ nationaler Identität
Das europäische Primärrecht verwendet den Begriff der „Identität“ wie selbstverständlich als
rechtlichen Terminus. Dessen näherer Gehalt ist dabei wenig ausgeleuchtet, nur wenige der
thematisch einschlägigen Abhandlungen stellen überhaupt Erwägungen hierüber an 8. In
juristischen Zusammenhängen ist der Begriff „Identität“ vor allem im Völkerrecht geläufig.
Der Herkunft nach handelt es sich freilich um einen philosophischen Terminus – näherhin
einen der Logik sowie der Ontologie –, der aber schon längst auch Einzug in die Psychologie
und in die Sozialwissenschaften gefunden hat. Einen ersten Anhalt des im hiesigen Kontext
Relevanten vermag schon der ursprüngliche philosophische Gehalt zu geben 9: „Identität“
meint hier „Selbigkeit“, das Sich-selbst-Gleichbleiben eines Seienden in allen Veränderungen
im akzidentellen Bereich aus dem Grund seines Wesens heraus. Anders gewendet und stark
vereinfacht: Etwas ist dann nicht mehr (mit sich) identisch, wenn es ein wesensbestimmendes
Element mit der Folge einbüßt, daß es nicht mehr sich selbst, sondern etwas anderes ist.
6
7
8
9
Dazu Joseph Ratzinger, Die Einheit der Nationen, 2005.
II. Vatikanisches Konzil, Konstitution Gaudium et spes, Nr. 75 („hochherzige und treue Vaterlandsliebe“);
Dekret Ad gentes, Nr. 15 (Aufforderung an „die aus allen Völkern in der Kirche versammelten
Christgläubigen“, „die Vaterlandsliebe wahrhaft und tatkräftig zu üben“). – Ferner Johannes Paul II.,
Erinnerung und Identität, 2005, insbes. S. 81 ff.
So etwa Karl Doehring, Die nationale Identität der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in: Ole Due/
Marcus Lutter/Jürgen Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Band I, 1995, S. 263 (264); Albert
Bleckmann, Die Wahrung der „nationalen Identität“ im Unionsvertrag, JZ 1997, S. 265 f.
Dazu näher Josef de Vries, Artikel „Identität“, in: Walter Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, 16.
Auf. 1981, S. 177 f.
3
So verstanden, rechnet die – christliche – Religion fraglos zur Identität der europäischen
Nationen: Keine von ihnen kann in ihrer historischen und geistesgeschichtlichen Entwicklung
ohne jene gedacht, geschweige denn verstanden werden. Der Befund ist gemeineuropäisch
evident – von der Architektur und die bildende Kunst über die Musik und Literatur bis hin zur
Philosophie und zum Recht10. Im Positiven wie in Anfechtung und auch Ablehnung fehlte den
europäischen Nationen ohne (christliche) Religion Wesentliches.
Zuzugeben ist dabei freilich, daß die so umschriebene Zugehörigkeit der Religion zur
nationalen Identität kein exklusives specificum nationale ausdrückt. Unter christlichen
Vorzeichen kann und will Religion dies auch nicht: Im Unterschied zu einer „PolisReligion“11 (wie namentlich dem Judentum) bindet sich Religion nicht ausschließlich an ein
Volk, eine Nation oder einen Staat. Umgekehrt sind diese diesseitigen Größen für Religion
und Glauben aber keineswegs irrelevant. Entsprechend dem Missionsauftrag des
auferstandenen Christus geht die Religion zu allen Völkern, greift dabei in dem Bemühen, alle
Menschen zu Seinen Jüngern zu machen12, bestehende Eigen- und Besonderheiten auf und
richtet sie, mitunter korrigierend und reinigend, auf den Glauben aus. Gemeinsamer
Bezugspunkt ist demnach die Heilsgemeinschaft in Christus, welche Vielfalt in den
diesseitigen Rechtsgemeinschaften nationalen und staatlichen Charakters aber nicht
ausschließt, sondern sie umgekehrt als Bestandteil der Schöpfungsordnung positiv begreift13.
Die Zuordnung von Religion und Nation steht allgemein im Spannungsbogen von Jenseitigem
und Diesseitigem, wozu speziell im Christentum noch die weitere Polarität von Universalem
und Partikularem tritt. Gerade das Beispiel der europäischen Nationen offenbart aber in
signifikanter Weise geglückte „Inkulturation“: Religion durchdringt und gestaltet mit ihren
Derivaten das Leben der einzelnen Völker, ohne aber deren Eigen- und Besonderheiten
aufzuheben (zu wollen). Die christliche Religion beeinflußt die nationale Identität Polens
anders als diejenige Deutschlands, diejenige Spaniens wiederum anders als die französische.
Vor diesem Hintergrund wird man dem Einwand, der objektiv-kulturellen Komponente des
Terminus „nationale Identität“ mit ihren herkömmlicherweise genannten Kriterien (Sprache,
10
11
12
13
Allgemein Axel Frhr. von Campenhausen, Christentum und Recht, in: Peter Antes (Hrsg.), Christentum und
europäische Kultur, 2002, S. 96 ff.; Hans Liermann, Das kanonische Recht als Grundlage europäischen
Rechtsdenkens, ZevKR 6 (1957/58), S. 37 ff.; Gerald Göbel, Der Beitrag des kanonischen Rechts zur
europäischen Rechtskultur, ArchKathKirchR 159 (1990), S. 19 ff.; speziell für das Zivilrecht Hans-Jürgen
Becker, Spuren des kanonischen Rechts im Bürgerlichen Gesetzbuch, in: Reinhard Zimmermann (Hrsg.),
Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik, 1999, S. 159 ff.
Zu dieser Kategorie Ernst-Wolfgang Böckenförde, Stellung und Bedeutung der Religion in einer „Civil
Society“, in: ders., Staat, Nation, Europa, 1999, S. 256 (259 ff., insbes. Fn. 7).
Vgl. Mt 28, 19.
Joachim Cardinal Meisner, Rheinischer Merkur, Nr. 1 v. 3. Januar 1997, S. 3: „Die Nation gehört zu den
natürlichen Gliederungsformen, die der Schöpfer der Menschheit gegeben hat.“
4
Kultur, Geschichte) ermangele es an Aussagekraft14, im Hinblick auf die Religion nicht
beipflichten können. So richtig die Beobachtung der zunehmenden Pluralisierung auch ist,
muß damit nicht zwingend die Unmöglichkeit der Kriterienbestimmung verbunden sein.
2. Religion als „Faktor“ nationaler Identität
Rechnet also Religion gemeineuropäisch zur – jeweiligen – nationalen Identität, bedarf es im
weiteren der Differenzierung hinsichtlich der Art und Weise des Wirksamwerdens: Religion
mag einen bestimmenden oder einen abgeschwächten, einen verbindlich-bekenntnishaften
oder einen unverbindlich-kulturellen, einen staatlich abgestützten oder einen dem
Engagement der Bürger überantworteten Faktor darstellen, der die nationale Identität
mitkonstituiert. Eine trennscharfe Typologie wird sich freilich kaum ausmachen lassen, zu
sehr bedingen unterschiedliche, mitunter auch gegenläufige Entstehungsbedingungen und
Einflußmomente Überschneidungen und Verschränkungen.
In tatsächlicher Hinsicht rührt die Bedeutung des Faktors „Religion“ oftmals aus ihrer
dominanten Stellung in der Bevölkerung, welche sich vielfach (aber nicht notwendigerweise)
in einer entsprechenden gesellschaftlichen Bedeutung niederschlägt. Gesteigerte Relevanz
kommt der Religion für die nationale Identität vor allem dann zu, wenn sie in der
Vergangenheit ein Bündnis mit dem nationalen Gedanken insgesamt eingegangen ist, zumal
in Phasen der Selbstbehauptung gegen nationale und religiöse Fremdherrschaft. Der
Freiheitskampf der Völker Südosteuropas gegen das Osmanische Reich im 19. und 20.
Jahrhundert liefert ein besonders augenfälliges Beispiel. Derartige Konstellationen führten
auch im Katholizismus zu einer ausgeprägten Zuordnung von Religion und Nation, wofür die
markanten Beispiele Irland und Polen stehen – besonders bemerkenswert ist bei ihnen zudem,
daß sie in ekklesiologischer Hinsicht an ihrer universalen Ausrichtung nie einen Zweifel
aufkommen ließen und nationalkirchliche Bestrebungen keinerlei Bedeutung erlangten.
Eine gänzlich andere Frage ist es, in welcher Weise das Recht die tatsächliche Bedeutung des
Faktors „Religion“ aufgreift und regelt. Europäisches Gemeingut ist mittlerweile durchweg
das Grundrecht der Religionsfreiheit15, dem allerdings für die Untersuchung der nationalen
Identität keine spezifische Bedeutung zukommt: In seiner ursprünglichen Stoßrichtung schützt
es als Abwehrrecht primär den Nicht- und Andersgläubigen (obgleich inzwischen mitunter
14
15
Ulrich Haltern, Europäischer Kulturkampf, Der Staat 37 (1998), S. 591 (596 ff.).
Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005, S. 427 ff.; ders., Religions- und
Weltanschauungsfreiheit im Europarecht, 2002; Nikolaus Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und
Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1990.
5
der Gläubige vor jenen geschützt werden muß16), als universales Menschenrecht steht es
jedermann zu, unabhängig von Staatsangehörigkeit und Religionszugehörigkeit.
Für die Fragestellung als ergiebiger erweist sich zwar die Untersuchung des institutionellen
Rechts, also dem Beziehungsgefüge zwischen dem Staat und den verfaßten Trägern von
Religion17. Indes verschafft auch dieser Blickwinkel keinen vollständigen Aufschluß. Die
nationale Identität wird zwar vielfach, aber nicht notwendigerweise, in den Rechtstexten
widergespiegelt, sie ist nicht stets gleichbedeutend mit dem ordre public oder der
Verfassungsidentität eines Staates. Eine rechtliche Regelung gibt in der Regel die
tatsächlichen Verhältnisse des nationalen und staatlichen Lebens wieder. Hiervon gibt es nun
nicht wenige Ausnahmen (ob sie die Regel bestätigen oder nicht, ist eine Wertungsfrage):
Eine starke Verankerung der Religion in der Bevölkerung und eine dem entsprechende
gesellschaftliche Bedeutung ihrer institutionellen Träger veranlaßte manche Rechtsordnung
zu normativer Distanz (Prototyp: Frankreich)18. Umgekehrt drängt sich bei staatskirchlichen
Modellen zunehmend die Frage auf, ob der rechtlichen Überbau noch über eine diesen
tragende Basis im Tatsächlichen verfügt (namentlich: England19, aber auch Skandinavien20).
Der letztgenannte Aspekt leitet über zu einer übergreifenden Beobachtung: Die Zuordnung
von Religion und Nation wird unter den Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts um so eher dann
(Fort-)Bestand haben, als sie von der freien Entscheidung der Bürger und Gläubigen getragen
ist. Staatskirchliche und staatsreligiöse Systeme21, wiewohl ihnen im Grundsatz rechtlich
nichts entgegensteht22, geraten unter doppelten Druck: Faktisch können sie durch Phänomene
16
17
18
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21
22
Praxisrelevante Konstellationen: Begehren von Nicht-Gläubigen auf eine „religionslose“ Umgebung (etwa:
BVerfGE 93, 1 – Kruzifix; BVerfG, NJW 2003, S. 3469 – Tischgebet in kommunalem Kindergarten; OVG
NW, NJW 2006, S. 1228 – Kommando „Helm ab zum Gebet“ beim militärischen Zapfenstreich) sowie
Schutzbegehren von Gläubigen gegen blasphemische Verunglimpfungen (BVerwG, NJW 1999, S. 304 –
„Rock-Comical ‚Das Maria-Syndrom’“; OLG Nürnberg, NStZ-RR 1999, S. 238 – „Schweine-T-Shirt“; aus
der europäischen Konventionspraxis EGMR, ÖJZ 1995, S. 154 – Otto-Preminger-Institut; zuletzt LG
München, ZUM 2006, S. 578 – „Popetown“).
Zur unveränderten Bedeutung und Fruchtbarkeit der institutionellen Betrachtungsweise im Staatskirchenrecht
Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts (FN 15), S. 51 ff.
Historische Aufbereitung: Axel Freiherr von Campenhausen, Staat und Kirche in Frankreich, 1962; aktuelle
Bestandsaufnahme: Roland Minnerath, Das Verhältnis von Gesellschaft, Staat und Kirche in Frankreich, in:
Burkhard Kämper/Michael Schlagheck (Hrsg.), Zwischen nationaler Identität und europäischer
Harmonisierung, 2002, S. 47 ff.
Zur seit über 100 Jahren – diskursiv ergiebig, praktisch folgenlos – geführten disestablishment-Diskussion
Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts (FN 15), S. 85 ff.
Gerhard Robbers, Kirche und Staat in Schweden, in: Joachim Bohnert/Christof Gramm/Urs Kindhäuser/
Joachim Lege/Alfred Rinken/ders. (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander
Hollerbach zum 70. Geburtstag, 2001, S. 907 ff.; Kjell Å Modéer, Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche
in den skandinavischen Ländern, ZevKR 47 (2002), S. 339 (355 f.).
Zum Unterschied: Alexander Hollerbach, Artikel „Staatskirchen und Staatsreligionen“, in: GörresGesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon Recht ∙ Wirtschaft ∙ Gesellschaft, Band 5, 7. Aufl. 1989, Sp. 182 ff.
Aus Sicht der EMRK (Art. 9): EKMR, DR 5, 157 (158); EGMR, NJW 1991, S. 1404 – Darby; Nikolaus
Blum (FN 15), S. 56, 134 f.; Jochen Abr. Frowein, Freedom of Religion in the Practice of the European
6
wie Pluralisierung und Säkularisierung an Legitimität einbüßen. Die bekenntnishafte
Identifikation des Staates mit einer Religion oder einem Bekenntnis kollidiert, wie die
Proselytismus-Problematik in Griechenland zeigt23, jedenfalls dann mit der Religionsfreiheit,
wenn daraus auch für den Bürger Verbindlichkeit erwachsen soll.
II. Verfassungsrechtliche Bestandsaufnahme
1. Textbefund
Unverändert enthalten zahlreiche europäische Verfassungen markante Aussagen über den
Stellenwert der Religion im Gefüge der staatlichen Organisation24. Nicht selten bringt bereits
der Text zum Ausdruck, daß derartige Zuordnungen von dem Gedanken der bereits
bestehenden oder vorausgesetzten nationalen Identität motiviert sind. Der Regelungsort der
Aussagen ist einerseits – leitmotivartig und programmatisch – die Präambel, andererseits –
dann in der Verbindlichkeit und auch den Rechtsfolgen konturierter – der eigentliche
Verfassungstext.
Eine Kombination der Elemente findet sich in der griechischen Verfassung, die geradezu
prototypisch in ihrem Verfassungstext den engen Konnex von orthodoxer Religion und
nationaler Identität zum Ausdruck bringt: Beginnt die Präambel mit einer „klassischen“
invocatio Dei („Im Namen der Heiligen, Wesensgleichen und Unteilbaren Dreifaltigkeit“),
wird im weiteren als „(v)orherrschende Religion in Griechenland … die der Östlich
Orthodoxen Kirche Christi“ bestimmt (Art. 3 Abs. 1 S. 1 Verf.). Das Konzept wird
abgerundet durch ein verfassungsgesetzliches Verbot von „Proselytismus“ (Art. 13 Abs. 2 S.
3 Verf.).
In vergleichbarer Deutlichkeit stellt auch die Verfassung des Beitrittskandidaten Bulgarien
den Zusammenhang von Religion und Nation her: „Die traditionelle Religion in der Republik
Bulgarien ist das östlich-orthodoxe Glaubensbekenntnis“ (Art. 13 Abs. 2 und 3 Verf.)25.
Charakteristisch für die staatskirchlichen Ordnungen des Protestantismus ist die
verfassungskräftige Festlegung der betreffenden Konfession als Staatskirche sowie die
Verpflichtung des Monarchen, ihr anzugehören: So verhält es sich bezüglich des
23
24
25
Commission and Court of Human Rights, ZaöRV 46 (1986), S. 249 (257): „separation of church and State ...
is a doctrine not included in the Convention“; zur Indifferenz des EU-Rechts gegenüber den
staatskirchenrechtlichen Systemen Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts (FN 15), S. 563 ff.
EGMR, ÖJZ 1994, 59 – Kokkinakis; JBl 1998, 573 – Larissis.
Instruktive Länderberichte über das Staat-Kirche-Verhältnis in den Mitgliedstaaten der EU bei Gerhard
Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2005.
Näher Martin Illert, Die neuere Entwicklung im Verhältnis zwischen dem Staat und den
Religionsgemeinschaften in Bulgarien, in: Hartmut Kreß (Hrsg.), Religionsfreiheit als Leitbild, 2004, S. 305
ff.
7
anglikanischen Bekenntnisses in England26 sowie des lutherischen in Dänemark27,
Schweden28 und Norwegen29.
Gestalten sich heute diese Verfassungstexte juridisch und nüchtern, erweisen sich diejenigen,
die den Katholizismus in den Blick nehmen, als auch historisch-kulturell akzentuiert und
deutlich „farbenfroher“:
–
So beginnt die irische Verfassung30 mit den Worten: „Im Namen der Allerheiligsten
Dreifaltigkeit, von der alle Autorität kommt und auf die, als unserem letzten Ziel, alle
Handlungen sowohl der Menschen wieder Staaten ausgerichtet sein müssen, anerkennen
wir, das Volk von Irland, in Demut alle unsere Verpflichtungen gegenüber unserem
göttlichen Herrn, Jesus Christus, der unseren Vätern durch Jahrhunderte der
Heimsuchung hindurch beigestanden hat“. An späterer Stelle heißt es weiter: „Der Staat
anerkennt, daß dem allmächtigen Gott die Huldigung öffentlicher Verehrung gebührt. Er
erweist Seinem Namen Ehre und achtet und ehrt die Religion.“31
–
Auch die slowakische Verfassung32 bringt die enge Beziehung zwischen Religion und
Nation mit deutlichen Worten auf den Punkt. Die Präambel beschwört die „Erinnerung an
das politische und kulturelle Erbe unserer Vorfahren und an die jahrhundertelangen
Erfahrungen aus den Kämpfen um die nationale Existenz und die eigene Staatlichkeit“
und erwähnt in diesem Kontext zudem das „geistige Erbe von Kyrillios und Methodios“,
also jener Slawenapostel, die Papst Johannes Paul II. zu Co-Patronen Europas erhoben
hat33.
26
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29
30
31
32
33
Nach Art. 2 des Act of Settlement aus dem Jahr 1700 muß der Monarch der anglikanischen Kirche angehören
(„join in Communion with the Church of England as by Law established“); gem. Art. 3 sind Katholiken oder
mit einem Katholiken Verheiratete von der Thronfolge ausgeschlossen.
Art. 4 der Verfassung des Königreichs Dänemark vom 5. Juni 1953 lautet: „Die Evangelisch-lutherische
Kirche ist die dänische Volkskirche und wird als solche vom Staat unterstützt.“; nach Art. 6 „soll“ der König
ihr angehören. – Zur dänischen Verfassungsrechtslage Jens Ulf Jörgensen, Le système danois, Revue de droit
canonique 54 (2004), S. 163 ff.; monographisch Mark Hallett, Staat und Kirche in Dänemark, 2001.
Gem. § 4 der Thronfolgeordnung des Königreichs Schweden (i.d.F. von 1979; nach § 2 der Verfassung vom
28. Februar 1974 zählt sie zum Grundgesetz des Reiches) hat der „König stets von der reinen evangelischen
Lehre zu sein“, welche im „unveränderten Augsburgischen Glaubensbekenntnis“ besteht. Sanktionsfolge bei
Nichtbeachtung: „Wer von der königlichen Familie sich nicht zur selben Lehre bekennt, sei von der
Sukzession ausgeschlossen“.
Art. 2 S. 2 der (unverändert gültigen) norwegischen Verfassung vom 4. November 1814 statuiert: „Die
evangelisch-lutherische Konfession verbleibt öffentliche Religion des Staates.“, nach Art. 4 soll sich der
König „immer zur evangelisch-lutherischen Religion bekennen, sie ausüben und beschützen“. – Einzelheiten
bei Per-Otto Gullaksen, Das Verhältnis von Staat und Kirche in Norwegen, ZevKR 45 (2000), S. 277 ff.
Vom 1. Juli 1937.
Art. 44 Abs. 1.
Vom 1. September 1992.
Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Egregiae Virtutis vom 31. Dezember 1980, AAS 73 (1981), S.
258 ff.
8
–
Ein weiteres markantes Beispiel liefert schließlich die polnische Verfassung34: In ihrer
Präambel betont sie, daß die Kultur „im christlichen Erbe des Volkes und in allgemeinen
menschlichen Werten verwurzelt“ sei und benennt im normativen Teil der Verfassung die
so verstandene Kultur als „Quelle der Identität des polnischen Volkes“ (Art. 6 Abs. 1).
Bemerkenswert ist zudem die in Zeiten der Säkularisierung und Pluralisierung
vorbildhafte Synthese35 in der Präambel, welche sowohl die gläubigen wie die nichtgläubigen Bürger anzusprechen vermag und so dies Basis für die ausdrückliche
Erwähnung des historisch-kulturellen Hintergrundes legt: „Wir, die Polnische Nation –
alle Bürger ..., sowohl jene, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit,
des Guten und Schönen glauben, als auch jene, die einen solchen Glauben nicht teilen ...“
2. Einwände
Diese Textproben – sie ließen sie vermehren – sind in ihrer Aussage von einer derartigen
Eindeutigkeit, daß sie, von einem „postmodernen“ Verfassungsverständnis her gesehen,
Einwände geradezu provozieren.
Deren erster wäre die Reduzierung des verfassungsrechtlich hergestellten Zusammenhangs
von Religion und Nation auf ein bloßes Traditionsphänomen. Jene Bestimmungen, so würde
man argumentieren, entstammten aus Verfassungstexten ehrwürdigen Alters, deren Revision
entweder schon aus Respekt vor ihrer Ehrwürdigkeit unterbleibe oder aber infolge des
Widerstrebens beharrender Kräfte nicht erreichbar sei. Den tatsächlichen Verhältnissen
würden die Rechtsnormen aber nur noch bedingt oder überhaupt nicht mehr gerecht, weshalb
man über ihre Derogation nachdenken könne oder müsse.
Einer solchen Sicht wäre zuzugeben, daß manche der erwähnten Verfassungsbestimmungen
in der Tat auf eine veritable Geltungsdauer zurückblicken können – teilweise bis in die erste
Hälfte des 16. Jahrhunderts hinein. Richtig ist auch, daß in manchen der genannten Länder in
den vergangenen Jahre einzelne Verfassungsrevisionen durchgeführt wurden, welche
Verflechtungen von Religion und Staat gelockert und modifiziert haben (etwa: Irland 36 und
Schweden37), das grundsätzliche Konzept aber unberührt ließen. Können daraus noch
34
35
36
37
Vom 2. April 1997.
Würdigung: Joseph H. H. Weiler, Ein christliches Europa, 2004, S. 50 ff.
Bis 1972 enthielt Art. 44 Abs. 1 der irischen Verfassung noch ein UAbs. 2 des Inhalts: „Der Staat anerkennt
die besondere Stellung der Heiligen Katholischen, Apostolischen und Römischen Kirche als der Hüterin des
Glaubens, zu dem sich die überwiegende Mehrheit der Bürger bekennt“. Modifizierungen erfuhren überdies
das verfassungsgesetzliche Abtreibungs- und Scheidungsverbot in Art. 40 Abs. 3 bzw. 41 Abs. 3 UAbs. 2 der
irischen Verfassung (1992 bzw. 1995).
Namentlich die Bestimmung, derzufolge die Mitgliedschaft in der evangelischen Staatskirche automatisch
durch Geburt (und nicht etwa durch Taufe) erworben wurde, dazu Gerhard Robbers, in: FS Hollerbach (FN
20), S. 907 (909, 911).
9
unterschiedliche Schlüsse gezogen werden, spricht der Umstand, daß sog. Totalrevisionen von
Verfassungen die überkommene Rechtslage insgesamt aufrecht erhalten haben, für sich. In
den vergangenen Jahren war dieses Phänomen zweimal zu beobachten: 1999/2000 in der
Schweiz38 (Aufrechterhaltung der Invocatio Dei in der Präambel39) sowie 2001 in
Griechenland40. Mehr noch, mitunter scheint das Bedürfnis der historisch-kulturellen
Vergewisserung auch mit verfassungsrechtlichen Mitteln sogar zu wachsen: Im April 2006
proklamierten im österreichischen Bundesland Tirol im Rahmen eines vom Innsbrucker
Bischofs gefeierten Pontifikalamtes der Landeshauptmann und der Landtagspräsident den hl.
Georg zum zweiten Landespatron41. Vorangegangen war ein Landtagsbeschluß, der explizit
auf die „Geschichte des Landes Tirol“ sowie die „neue landesgeschichtliche Entwicklung“
abhob42.
Da das Erklärungsmodell des Traditionsphänomens bei den Nationen Mittel- und
Südosteuropas schon aus tatsächlichen Gründen ausscheiden muß – die Verfassungen
stammen durchweg aus den 1990er Jahren –, liegt ein anderer Einwand nahe: Die
Einbeziehung der Religion in die nationale Identität sei verständliche Reaktion auf die
Unterdrückung beider Phänomene in der Zeit des Kommunismus. Die demokratische Öffnung
und die Zuwendung zu Europa würde dem „Unions-Standard“ entsprechende Prozesse der
Säkularisierung und Relativierung bisheriger Gewißheiten auslösen, kurz: bei dem nunmehr
zu beobachtenden Konnex von Religion und Nation handle es sich um ein (temporäres)
Rückstandsphänomen. Stichhaltig ist auch das freilich nicht: Die gesellschaftliche und
staatliche Entwicklung läuft mitnichten in evolutionistischer Folgerichtigkeit auf eine globale
Säkularisierung hin. Im Gegenteil stellt weltweit gesehen die west- und zentraleuropäische
Entwicklung eher die Ausnahme als die Regel dar, wie bereits ein kurzer Blick auf die USA
erhellt. Auch in ökonomischer Hinsicht ließe sich eine wechselseitige Bedingtheit von
zunehmender Prosperität und steigender Säkularisierung schwerlich herstellen – ansonsten
müßte Bayern in hohem Maße säkularisiert, Mecklenburg-Vorpommern aber eine religiös
blühende Landschaft sein.
III. Europarechtlicher Schutz der nationalen Identität der Mitgliedstaaten
38
39
40
41
42
Näher Peter Häberle, Die „total“ revidierte Bundesverfassung der Schweiz von 1999/2000, in: Max-Emanuel
Geis/Dieter Lorenz (Hrsg.), Staat ∙Kirche ∙Verwaltung. Festschrift für Hartmut Maurer zum 70. Geburtstag,
2001, S. 935 ff.
Matthias Zeindler, „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“, Schweizerisches Jahrbuch für Kirchenrecht 2000,
S. 47 ff.; ferner René Pahud de Mortanges (Hrsg.), Das Religionsrecht der neuen Bundesverfassung, 2001.
Kostas Chryssogonos, Die umfassende griechische Verfassungsänderung von 2001, JöR n.F. 50 (2002), S.
433 ff.
Tiroler Landeszeitung v. 21. April 2006.
Tiroler Landtag, Kurzprotokoll der 14. Sitzung der XIV. Gesetzgebungsperiode am 30. Juni 2005, TOP 15.
Eingehende historisch-kulturelle Begründung im Antrag auf Drs. 186/05 v. 28. April 2005.
10
Dem Begriff der „nationalen Identität“ kommt seit knapp 15 Jahren auch europarechtliche
Bedeutung zu. Seit dem Vertrag von Maastricht enthält das Unionsrecht eine Bestimmung,
derzufolge die Union die nationale Identität der Mitgliedstaaten „achtet“ (seit dem
Amsterdamer Vertrag: Art. 6 Abs. 3 EUV). Die Aussage ist zwar deskriptiv formuliert, aber
in der Sache normativ gemeint: Die Formulierung beinhaltet ein an die Union gerichtetes
rechtliches Gebot. Dessen erste und unmittelbare Dimension ist negativer Art; es setzt der
Union kompetentielle Schranken.
1. Rechtlicher Gehalt
Für das nähere Verständnis der Bestimmung ist ein Blick auf ihre ratio förderlich.
Hintergrund der Verankerung einer Schutzklausel zugunsten der nationalen Identität im
Unionsrecht waren die in einigen Mitgliedstaaten artikulierten Befürchtungen vor ihrer
(schleichenden) Entstaatlichung und ihrer sukzessiven Auflösung im Rahmen der
Europäischen Union43. Kurz gesagt, will die Norm sicherstellen, daß der Prozeß der
europäischen Einigung nicht zu einer Unifizierung führt, welche den einzelnen Gliedern ihre
Eigenheit und Unterscheidbarkeit nimmt: Auch im geeinten Europa soll Frankreich
„Frankreich“ bleiben, Deutschland „Deutschland“ und Polen „Polen“.
Zur Ermittlung der Bestandteile der nationalen Identität i.S.v. Art. 6 Abs. 3 EUV ist erneut die
Heranziehung der ursprünglichen philosophischen Bedeutung des Terminus „Identität“44
hilfreich, womit die Frage nach den wesensbestimmenden Elementen aufgeworfen ist.
Fundamental ist zunächst als subjektiv-politische Komponente der Nationalidee45 die
Staatlichkeit und Souveränität der Mitgliedstaaten46, welche aus dem Willen, Nation sein zu
wollen, erwächst. Dieses Element indes ist zwar notwendig, aber noch nicht hinreichend: Der
Staat allein macht noch nicht eine Nation aus47. Weiterhin wesensbestimmend für die
nationale Identität ist somit jener Mindestbestand an Werten aus den verschiedenen Bereichen
menschlichen Zusammenlebens, die das Selbstverständnis des jeweiligen Staates prägen48.
43
44
45
46
47
48
Arnd Uhle, Staat – Kirche – Kultur, 2004, S. 151; Christoph Stumpf, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), EUKommentar, 2000, Art. 6 EUV Rn. 42; Meinhard Hilf/Frank Schorkopf, in: Eberhard Grabitz/Meinhard Hilf
(Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 6 EUV (Stand : Januar 2004) Rn. 72; Meinhard Hilf, Europäische Union und nationale Identität der Mitgliedstaaten, in: Albrecht Randelzhofer u.a. (Hrsg.),
Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995, S. 157 (161); Albert Bleckmann, JZ 1997, S. 265.
Dazu oben, Text nach FN 9.
Ulrich Haltern, Der Staat 37 (1998), S. 591 (594).
BVerfGE 89, 155 (189); Doehring, in: FS Everling I (FN 8), S. 263 (264).
Josef Isensee, Nationalstaat und Verfassungsstaat – wechselseitige Bedingtheit, in: Rolf Stober (Hrsg.), Recht
und Recht. Festschrift für Gerd Roellecke zum 70. Geburtstag, 1997, S. 137 ff.
Umfassend Arnd Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2004, S. 473 ff.; ders., Staat –
Kirche – Kultur (FN 43), S. 150 ff.; Peter Lerche, Achtung der nationalen Identität (Art. F Abs. 1 EUV), in:
Bundesnotarkammer (Hrsg.), Festschrift für Helmut Schippel zum 65. Geburtstag, 1996, S. 919 (920, 927
11
Als ein relevanter Bereich kommt dabei – wie dargelegt – auch derjenige der Religion zum
Tragen49. Allerdings muß diese Prägung nicht notwendigerweise auch verfassungsrechtlich
abgebildet sein: Nationale und Verfassungsidentiät der Mitgliedstaaten sind keine
deckungsgleichen Größen50, diese muß weder zu jener rechnen noch sich in ihr erschöpfen51.
In allem liegt der Fixpunkt der „nationalen Identität“ nach Wortlaut und ratio der
Bestimmung im Schutz der Spezifika eines Mitgliedstaates52. Daher führen Bestrebungen
nicht weiter, ihren rechtlichen Gehalt durch gemeineuropäische Anreicherungen, etwa den
Verweis auf die grundsätzliche Integrationsoffenheit aller Mitgliedstaaten (der als solcher
selbstredend zutreffend ist)53, zu relativieren.
2. Rechtsfolge
Was aus der Formulierung „achtet“ rechtlich folgt, ergibt sich nicht schon aus dem Wortlaut
der Bestimmung. Unter Hinweis darauf, daß nicht weitergehend eine Sicherung und
Bewahrung der nationalen Identität festgeschrieben sei, wird teilweise angenommen, der
nationalen Identität käme kein Vorrang vor dem Gemeinschaftshandeln zu, vielmehr sei im
Konfliktfall ein Ausgleich anzustreben54. Ein derartiges Verständnis – Peter Lerche nennt es
treffend „Wechselbad gegenseitiger Rücksichtnahme“55 –, würde indes Art. 6 Abs. 3 EUV der
Sache nach auf den Gehalt des Subsidiaritätsprinzips verkürzen und damit der Bestimmung
eine Bedeutung zuweisen, bei der sie keinen eigenständigen Gehalt mehr hätte. Daher
sprechen die besseren Gründe dafür, einem Mitgliedstaat für den Fall einer Beeinträchtigung
seiner nationalen Identität einen entsprechenden Unterlassungsanspruch einzuräumen56.
49
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52
53
54
55
56
ff.); Adelheid Puttler, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl. 2003, Art. 6 EUV
Rn. 213.
Explizit auch im Rahmen des Art. 6 Abs. 3 EUV Albert Bleckmann, JZ 1997, S. 265 (269).
In diese Richtung aber Hans Heinrich Rupp, Bemerkungen zum europarechtlichen Schutz der „nationalen
Identität“ der EU-Mitgliedstaaten, in: Hans-Wolfgang Arndt/Franz-Ludwig Knemeyer/Dieter Kugelmann/
Werner Meng/Michael Schweitzer (Hrsg.), Völkerrecht und deutsches Recht. Festschrift für Walter Rudolf
zum 70. Geburtstag, 2001, S. 173 (174).
Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts (FN 15), S. 414; ders., Religions- und
Weltanschauungsfreiheit (FN 15), S. 25 f.; Christian Waldhoff, Staatskirchenrecht oder
Religionsverfassungsrecht – Einwirkungen des Völker- und Europarechts, in: Christian Walter/Hans Michael
Heinig (Hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?, 2006, S. ▪ (Text zu Fn. 126); ders.,
Kirchliche Selbstbestimmung und Europarecht, JZ 2003, S. 978 (985); anders Marcel Vachek, Das
Religionsrecht
der
Europäischen
Union
im Spannungsfeld
zwischen
mitgliedstaatlichen
Kompetenzreservaten und Art. 9 EMRK, 2000, S. 272.
Meinhard Hilf, in: GS Grabitz (FN 43), S. 157 (163), betont mit Recht, daß dem Begriff der „nationalen
Identität“ auch ein abgrenzendes Moment zu anderen Nationen innewohnt.
Hans Michael Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 422 f.
Meinhard Hilf, in: GS Grabitz (FN 43), S. 157 (164 f.); Ulrich Haltern, Der Staat 37 (1998), S. 591 (618 ff.);
Adelheid Puttler, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV (FN 48), Art. 6 EUV Rn. 217.
Peter Lerche, in: FS Schippel (FN 48), S. 919 (929).
Arnd Uhle, Staat – Kirche – Kultur (FN 43), S. 154; Alexander Schmitt Glaeser, Grundgesetz und
Europarecht als Elemente Europäischen Verfassungsrechts, 1996, S. 178 ff.; Markus Heintzen, in: Die
12
Für die Rechtsanwendung steht außer Frage, daß die Schwelle für die Geltendmachung der
Gefährdung der nationalen Identität hoch liegt und liegen muß: Könnte jeder Mitgliedstaat
ihm mißliebige gemeinschaftsrechtliche Ingerenzen schon unter bloßen Hinweis auf Art. 6
Abs. 3 EUV abwehren, würde dies die Grundentscheidung für den Vorrang des
Gemeinschaftsrechts unterlaufen und in letzter Konsequenz aufgeben. Für den Normalfall
wird es eines Rückgriffs auf die Kompetenzschranke der „nationalen Identität“ kaum
bedürfen; finden sich in der Regel konkretere rechtliche Maßstäbe zur Abgrenzung
europäischer und nationaler Kompetenzen. Im Ergebnis dürfte sich daher Art. 6 Abs. 3 EUV
nur in evidenten und eklatanten – aus gegenwärtiger Sicht: wenig wahrscheinlichen –
„Übergriffen“ der Gemeinschaft in das Hausgut der Mitgliedstaaten aktivieren lassen57.
3. Konkretisierung für den Bereich „Religion“
Aus dem Dargelegten rechtliche Folgerungen für den Bereich „Religion“ zu ziehen, verlangt
zunächst nach einer präzisierenden Einschränkung: Zu handeln ist im Folgenden von der
Zuordnung der Religion zur nationalen Identität nur insofern, als sich diese auch in
rechtlichen Bestimmungen niederschlägt. Der Kernbestand jenes Zusammenhangs, der in der
historisch-kulturellen Prägung im engeren Sinn manifestiert, wäre allenfalls im Wege einer
Kulturrevolution zu erschüttern (welche freilich in einer Rechtsgemeinschaft wie der
Europäischen Union58 außerhalb des Vorstellbaren liegt) – und selbst dann nicht dauerhaft.
Die europäische Geschichte belegt die Vergeblichkeit einschlägiger Versuche zur Genüge.
Einer der (seltenen) Anwendungsfälle, in denen sich eine Rechtsmaterie dem Begriff der
„nationalen Identität“ zuordnen läßt, ist die in einer nationalen Rechtsordnung getroffene
Ausgestaltung des Beziehungsgefüges zwischen Staat und Kirche59: Das Staatskirchenrecht
ist autochthones, spezifisch nationales Recht60, in besonderem Maße historisch geronnen und
weit über ihren unmittelbaren Anwendungsbereich rechts- und kulturprägend61.
57
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61
Kirchen im Recht der Europäischen Union, in: Josef Isensee/Wilhelm Rees/Wolfgang Rüfner (Hrsg.), Dem
Staates, was des Staates – der Kirche, was der Kirche ist. Festschrift für Joseph Listl zum 70. Geburtstag,
1999, S. 29 (36); Albert Bleckmann, JZ 1997, S. 265 (269).
In der Konsequenz wird damit die Frage nach dem „quis iudicabit“ aufgeworfen. Wie im allgemeinen das
Problem der Letztentscheidungskompetenz in Fällen der Kollision zwischen Unions- und Verfassungsrecht
umstritten ist (zu den Positionen Rudolf Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, Rn. 201 ff., insbes. 224 ff.), wird
auch hier unterschiedlich beurteilt, wem die Definitionshoheit über die Elemente der „nationalen Identität“
zukommt; einerseits Peter Lerche, in: FS Schippel (FN 48), S. 919 (930 f.); andererseits Ulrich Haltern, Der
Staat 37 (1998), S. 591 (600, Fn. 50).
Klassische Formulierung: Walter Hallstein, Die EWG – Eine Rechtsgemeinschaft, in: Thomas Oppermann
(Hrsg.), Europäische Reden, 1979, S. 341 ff.; ders., Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl. 1979, S. 51 ff.
Umfangr. Nachw. bei Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts (FN 15), S. 415.
Josef Isensee, Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts, in: FS Listl (FN 58), S. 67 (72).
Christian Waldhoff, in: Christian Walter/Hans Michael Heinig (Hrsg., FN 53), S. ▪.
13
Dieser einhellige Befund besagt freilich nicht, daß „das“ (gesamte) Staatskirchenrecht der
einzelnen Mitgliedstaaten in allen seinen Einzelausprägungen und Rechtsfiguren schon zu
deren nationaler Identität rechnen würde. Vielmehr gilt es – für einen jeden gesondert – die
tragenden Grundpfeiler jenes Beziehungsgefüges ausfindig zu machen, die als historisch wie
aktuell gleichermaßen prägend zum normativen Kernbestand des Gemeinwesens rechnen62.
Neben fundamentalen, die unterschiedlichen staatskirchenrechtlichen Systeme übergreifenden
Gemeinsamkeiten
(Säkularität,
Neutralität,
Parität)63
weisen
die
europäischen
Rechtsordnungen naturgemäß auch signifikante Unterschiede auf: In Deutschland zählt das
Verbot der Staatskirche zur nationalen Identität, in England umgekehrt ihr Bestehen.
Untersagt in Frankreich das überkommene Verständnis der laïcité die Berücksichtigung
religiöser Überzeugungen im staatlichen Bereich, ist sie in Polen und Spanien von
Verfassungs wegen gefordert.
Als die wesentlichen, der nationalen Identität zuzurechnenden Strukturprinzipien sind für das
deutsche
Verfassungsrecht64
zu
nennen:
Die
Institute
der
Religions-
und
Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) und des Verbots der Diskriminierung aus
religiösen und weltanschaulichen Gründen (Art. 3 Abs. 3, 33 Abs. 3 GG) bilden
gewissermaßen das grundrechtliche Fundament. Diese Prinzipien haben sich gerade in
Deutschland in einem wechsel- und mitunter leidvollen historischen Prozeß als Bedingung
des Friedens im staatlichen Verband entwickelt65. Aus dem gleichen Grund ist für die
nationale Identität in Deutschland auch das in Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 1 WRV
verankerte Verbot der Staatskirche prägend. Es untersagt als grundsätzliche „Scheidung in der
Wurzel“66 die institutionelle Verbindung von Staat und Kirche, ohne damit eine
Zusammenarbeit in einzelnen Sachgebieten (Bereich der „gemeinsamen Angelegenheiten“,
res mixtae) auszuschließen67. Spiegelbildlich zum Verbot der Staatskirche ist schließlich die
Garantie des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3
WRV) zu nennen, welches erst die Voraussetzung der Unabhängigkeit für die Sendung und
das Wirken der Kirche bildet.
62
63
64
65
66
67
Stefan Mückl, Religions- und Weltanschauungsfreiheit (FN 15), S. 27; Claus Dieter Classen,
Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, 2003, S. 17.
Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts (FN 15), S. 396 ff.
Zum folgenden zuletzt Christian Waldhoff, in: Christian Walter/Hans Michael Heinig (Hrsg., FN 53), S. ▪;
ferner Arnd Uhle, Staat – Kirche – Kultur (FN 43), S. 151 ff.
Prägnant zu dieser Friedensfunktion Paul Mikat, Zur rechtlichen Bedeutung religiöser Interessen, 1973, S.
17, 33 ff.; näher entfaltend Martin Heckel, Religionsfreiheit, in: ders., Gesammelte Schriften, Band IV, 1997,
S. 647 (653 ff., 661 f.).
Alexander Hollerbach, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, VVDStRL 26 (1968), S. 57 (62).
Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Neudruck
1999, Rn. 471 f.
14
Auch im speziellen Anwendungsfall gilt freilich die schon zur grundsätzlichen Exegese von
Art. 6 Abs. 3 EUV geäußerte Zurückhaltung, was die praktische Effektuierbarkeit der Norm
betrifft:
Der
Union
ermangelt
es
an
einer
Kompetenz
für
den
Bereich
des
Staatskirchenrechts68. Zwar vermögen Rechtsakte der Unionsorgane infolge der funktionalen
Systemlogik des Unionsrechts auch auf staatskirchenrechtliche Sachverhalte – mittelbare –
Auswirkungen zu entfalten69. Diese werden aber kaum eine derartige Intensität erreichen, daß
sie die tragenden Grundpfeiler des Verhältnisses von Staat und Kirche in einem Mitgliedstaat
identitätsgefährdend zu erschüttern. Somit wird sich Art. 6 Abs. 3 EUV gegen die
europarechtlich veranlaßte Modifizierung einzelner Institute und Bestimmungen des
nationalen Staatskirchenrechts in der Regel nicht fruchtbar machen lassen.
IV. Bedeutung für Europa
Bei allen Deutungsunterschieden in der Substanz wie im Detail besteht – jedenfalls im
deutschen Schrifttum – eine weitgehende Übereinstimmung dahin, daß der Schutz der
nationalen Identität in Art. 6 Abs. 3 EUV auf die Gewährleistung einer „multikulturellen
Gesellschaft“ in Europa zielt70. Damit stellt sich aber an die „immer engere Union“ der
europäischen Völker die Rückfrage, wie es um ihre eigene Identität steht – bedarf nicht auch
sie einigender Prinzipien, die gleichfalls historisch-kulturellen Wurzeln entspringen? Daran,
daß der Rekurs auf einen Kernbestand von elementaren Verfassungsgrundsätzen, die aus dem
gemeineuropäischen Fundus entstammen, schon eine allein tragfähige Basis darzustellen
vermag, zweifeln augenscheinlich auch die Unionsorgane wie die Autoren des
„Verfassungsvertrags“ – anders wären die mitunter artifiziellen Bemühungen um eine eigene
europäische Symbolik nicht zu erklären71.
Als überaus bezeichnend für den Stand des Identitätsdiskurses auf europäischer Ebene erwies
sich in den vergangenen Jahren die Frage, ob der europäische „Verfassungsvertrag“ eine
Bezugnahme auf Gott72 oder das Christentum enthalten solle. Bekanntlich vermochte sich der
Konvent nur zu der minimalistischen Formulierung „schöpfend aus ... religiösen ...
68
69
70
71
72
Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts (FN 15), S. 410 ff.
Ebd., S. 411; Auflistung derartiger Einwirkungen S. 459 ff., 478 ff.
Albert Bleckmann, JZ 1997, S. 265 (269), ebenso Ulrich Haltern, Der Staat 37 (1998), S. 591 (621 ff.). – In
die gleiche Richtung geht Art. II-82 des einstweilen gescheiterten „Verfassungsvertrags“: „Die Union achtet
die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.“
Treffende Kritik bei Ulrich Haltern, Europäische Verfassungsästhetik, KritV 2002, S. 261 ff.
Grundsätzlich zum Thema Josef Isensee, Rekurs des Verfassunggebers auf Gott – Invocatio dei und
provocatio ad deum in der Verfassung des säkularen Staates, in: Maksymilian Pazdan (Hrsg.), Valeat
aequitas. Festschrift für Remigiusz Sobanski, 2000, S. 177 ff.
15
Überlieferungen Europas“ durchzuringen73 – dabei den evidenten Umstand ausblendend, daß
Europa aus religionssoziologischer Sicht christlich ist: Im „Europa der 25“ bekennen sich
über 80% der Bevölkerung zum Christentum74.
An dieser Stelle soll die Diskussion zu den Komplexen Gottesbezug bzw. Erwähnung des
Christentums in der Sache nicht vertieft werden75. Sie sind aber symptomatisch für die
Ziellosigkeit der Fragen nach dem Selbstverständnis Europas wie seiner Finalität. Die
Präambel des einstweiligen gescheiterten „Verfassungsvertrags“ gibt auf die Frage, aus
welchen Wurzeln Europa schöpft, eine unvollständige (und damit unrichtige) und auf die
Frage, was es in der Zukunft sein will, eine nebulöse Antwort (um „dieses große Abenteuer
fortzusetzen, das einen Raum eröffnet, in dem sich die Hoffnung der Menschen entfalten
kann“.).
Religion und europäische Identität – das wäre ein neues Thema76. Aber die Überlegungen
zum Zusammenspiel von Religion und nationaler Identität ließen sich auch dafür fruchtbar
machen. Überdies stellt es einen bemerkenswerten Umstand dar, daß der Begriff „Religion“
allein in den Sprachen der europäischen Zivilisation anzutreffen ist77 – ausgehend vom
Lateinischen in den romanischen, germanischen und slawischen Sprachen. Vor allem aber
benötigt die Diskussion über Identität – national wie europäisch – ein tatsächlich tragfähiges
Fundament, das bei der Ermittlung ihrer Bestandteile auf falsche Weichenstellungen
verzichtet. Vielfach bestehen solche in der Annahme, die eigene Identitätsbestimmung führe
zu konfessionellen Spannungen oder zur „Dialogunfähigkeit“ mit anderen. Das Gegenteil
davon trifft zu: Toleranz ist nicht der Sache, sondern der Person geschuldet78 und wer sich
73
74
75
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78
Die Diskussionen um den „Verfassungsvertrag“ hatten ihre Vorläufer bei der Erarbeitung der „Europäischen
Grundrechte-Charta“ im Jahr 2000. Schon damals galt ein Gottesbezug nicht als „vermittelbar“ oder
„mehrheitsfähig“, allein die Wendung „spiritual heritage“ bzw. „patrimoine spirituel“ fand in den Text
Eingang (in der deutschen Fassung als „geistig-religiöses Erbe“ erweiternd akzentuiert).
58% der EU-Bürger sind katholisch, 14% protestantisch, 8% anglikanisch und 3% orthodox.
Außer dem scharfsinnigen Essay von Joseph H. H. Weiler (FN 35), s. ferner noch Helmut Goerlich/Wolfgang
Huber/Karl Lehmann (Hrsg.), Verfassung ohne Gottesbezug?, 2004; Christoph Konrath, Vermittlung zu den
Präambeldiskussionen in der EU und in Österreich, ÖARR 51 (2004), S. 189 ff.; Norbert Riedel, Gott in der
Europäischen Verfassung?, EuR 2005, S. 676 ff.
S. nur Herbert Schambeck, Die christlichen Wurzeln in der Europäischen Verfassungsidee, in: Peter
Tettinger/Klaus Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta,
2006, S. 199 ff.; Anton Rauscher, Die christlichen Wurzeln der Europäischen Einigung, in: Dieter
Blumenwitz/Gilbert Gornig/Dietrich Murswiek (Hrsg.), Die Europäische Union als Wertegemeinschaft,
2005, S. 19 ff.
Friedrich Tenbruck, Die Religion im Maelstroem der Reflexion, in: Jörg Bergmann/Alois Hahn/Thomas
Luckmann (Hrsg.), Religion und Kultur, 1993, S. 31 (37).
Treffend Max Scheler, Christentum und Gesellschaft, in: ders., Schriften zur Soziologie und
Weltanschauungslehre, 2. Aufl. 1963, S. 228: Konfessioneller Friede als „die Forderung, daß der Mensch
denen die sittliche Treue halten soll, daß er diejenigen lieben und achten soll, die eben das verwerfen, was
ihm das Teuerste ist: seinen Glauben und seine Weltanschauung … und daß er diese Treue halte nicht aus
Gleichgültigkeit, aus der Schwäche seines Glaubens und aus Kleinglauben heraus, sondern gerade kraft
seines Glaubens und der in ihm eingeschlossenen Sittengesetze“.
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seiner selbst und seines Standortes gewiß ist, ist gerade dadurch zum Dialog in der Lage.
Diese Abfolge hat im Jahr 2004 Papst Benedikt XVI. – seinerzeit noch Kardinal – vor dem
Italienischen Senat mit den Worten ausgedrückt:
„Hier gibt es einen merkwürdigen und nur als pathologisch zu bezeichnenden Selbsthaß des
Abendlandes, das sich zwar lobenswerterweise fremden Werten verstehend zu öffnen
versucht, aber sich selbst nicht mehr mag, von seiner eigenen Geschichte nur noch das
Grausame und Zerstörerische sieht, das Große und Reine aber nicht mehr wahrzunehmen
vermag. … Die immer wieder leidenschaftlich geforderte Multikulturalität ist manchmal vor
allem Absage an das Eigene, Flucht vor dem Eigenen. Aber Multikulturalität kann ohne
gemeinsame Konstanten, ohne Richtpunkte des Eigenen nicht bestehen.“79
79
Joseph Cardinal Ratzinger, Europas Identität. Seine geistigen Grundlagen gestern, heute, morgen, in: ders.,
Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, 2005, S. 68 (87 f.). – Ganz
ähnlich aus staatsrechtlicher Sicht: Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, S. 183 f.
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