I. John Stuart Mills Utilitarismus - UK

Werbung
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
I. John Stuart Mills Utilitarismus
John St. Mills relativ schmales Buch Der Utilitarismus (1861) darf als eins der Hauptwerke
nicht nur der utilitaristischen Ethik, sondern der Ethik insgesamt gelten. Wie Kants GMS
gehört Der Utilitarismus zum Standardrepertoire der philosophischen Ethik, und jeder der
sich philosophisch ernsthaft mit ethischen Fragen beschäftigen möchte, sollte es kennen und
darüber nachgedacht haben. Anders als Benthams Werk An Introduction to the Principles of
Morals and Legislation, das für Mill der zentrale Anstoß für seine eigene praktische Philosophie bildete, finden wir Mill in seinem Essay Der Utilitarismus bemüht, einem weiten intellektuellen Publikum den Utilitarismus als eine rationale und überzeugende Moraltheorie
vorzustellen, und das vor allem vor dem Hintergrund verbreiteter Kritiken, die der Benthamismus heraufbeschworen hat.
Die reformerische Emphase, mit der Bentham die fundamentalen Prinzipien der Moral und
des Rechts als kritische Instrumente gegen die herrschenden Rechtsinstitutionen wendete, ist
in Mills Essay nicht tonangebend. Zu seinem Bemühen, die Rationalität und Plausibilität des
Utilitarismus darzulegen, gehört vielmehr auch der Versuch, ihn nicht als eine radikal
revisionäre, sondern als eine mit der Alltagsmoral im großen und ganzen konvergierenden
Moralauffassung darzustellen.
Zunächst ein Überblick über den Aufbau. Mills Essay ist in fünf Kapitel gegliedert. Kapitel 1:
„Allgemeine Anmerkungen“ hat die Funktion einer Einleitung, in der Mill einerseits das
Vorhaben des Essays umreißt, und andererseits nicht-utilitaristische Moraltheorien kritisiert.
Das Kapitel 2: „Was heißt Utilitarismus“ entwickelt die utilitaristische Moralkonzeption
zusammen mit der Beantwortung von Kritiken des Utilitarismus. Hier werden zentrale
Bestandteile des Utilitarismus entwickelt – so Mills eigene, gegenüber Bentham modifizierte
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
Wohlfahrtstheorie, und eine differenzierte Sicht über die Rolle des utilitaristischen
Moralprinzips. Kapitel 3: „Von der fundamentalen Sanktion des Nützlichkeitsprinzips“
behandelt die Frage moralischer Motivation – und insbesondere die Frage nach den
Motivationsquellen für die utilitaristische Moral. „Sanction“ war ein technischer Terminus in
der Ethik des 18. und 19. Jahrhunderts und wird bei Bentham definiert als eine Quelle von
Lust und Schmerz, die Menschen zu handeln motivieren oder zu einer Handlung verbinden
(Bentham, S. 34, Kap III). Kapitel 4: „Welcherart Beweis sich für das Nützlichkeitsprinzip
führen lässt“ ist, wie Sie sich vorstellen können, nicht nur ein sehr zentrales, sondern auch
eins der umstrittensten Kapitel des Essays: Hier geht es um die Begründung des Nützlichkeitsprinzips oder näher um die der entscheidenden These, dass das allgemeine Glück das
einzige Kriterium der Moral ist. Das Kapitel 5: „Über den Zusammenhang zwischen
Gerechtigkeit und Nützlichkeit“ ist für Mills Verteidigung des Utilitarismus von besonderer
Bedeutung. Denn der Utilitarist muss sicherstellen, dass es keinen eigenständigen Standard
moralischer Beurteilung unter dem Namen der Gerechtigkeit gibt, um seine Sicht, dass
Nützlichkeit die letzte Berufungsinstanz in allen ethischen Fragen ist (vgl. Mill, Über die
Freiheit, S. 18), einsichtig machen zu können.
1. Mills Kritik der intuitionistischen oder aprioristischen Ethik
In dem sehr kurz gehaltenen ersten Kapitel setzt sich Mill kritisch mit Schulen der Ethik
auseinander, die er – in gewissen Hinsichten – für unvereinbar mit dem Utilitarismus hält.
Seine Diskussion ist denkbar knapp und führt sicherlich nicht zu einem zwingenden Ergebnis.
Trotzdem ist es interessant, auf seine Punkte kurz einzugehen. Ethiken, gegen die er sich
wendet, bezeichnet Mill hier als intuitionistische oder auch als aprioristische Ethiken und
kontrastiert sie mit der „induktiven“ Schule der Ethik: „Der einen Auffassung zufolge sind die
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
Grundsätze der Moral a priori evident und erzwingen Zustimmung, sobald die Wortbedeutungen verstanden sind; der anderen zufolge sind Recht und Unrecht ebenso wie Wahrheit
und Falschheit eine Frage von Beobachtung und Erfahrung.“ (§3, S. 6)
Wie Mill den Unterschied hier darstellt, handelt es sich klarerweise um einen Unterschied
nicht innerhalb der Ethik, sondern um einen auf der Ebene der Metaethik: Intuitionismus ist
eine bestimmte Auffassung über die Art und Weise wie wir herausfinden oder wie wir wissen
können, was moralisch von uns gefordert wird, keineswegs aber eine Auffassung darüber, was
es denn ist, was moralisch von uns gefordert wird.
Wenn Intuitionismus nur die Auffassung ist, dass wir die Grundsätze der Moral intuitiv und
weder auf der Basis von Erfahrungen, noch auf der Basis von Argumenten erfassen und dass
die Grundsätze der Moral folglich selbstevidente Handlungsregeln sind, dann scheint Intutionismus gegenüber der Frage, was denn diese Grundsätze sind, neutral zu sein. Könnte nicht
auch das utilitaristische Prinzip selbst eben ein Prinzip sein, das wir intuitiv erfassen oder das
den Status eines selbstevidenten Prinzips hat? Das scheint eine echte Option zu sein. Und in
der Tat hat die nächste große Figur des utilitaristischen Denkens nach Mill – Henry Sidgwick
– die Auffassung vertreten, dass das Prinzip der rationalen Benevolenz, wie er es nennt,
axiomatischen Status hat und nicht nur ein, sondern das einzige Prinzip moralischen Denkens
ist, das wirklich selbstevident genannt werden darf und genannt werden muss: „Utilitarianism
is thus presented as the final form into which Intuitionism tends to pass, when the demand for
really self-evident first principles is rigorously pressed.“1
Zu beachten ist hier allerdings, dass es lediglich das oberste Prinzip der Moral ist, von dem
Sidgwick behauptet, es sei selbstevident. Untergeordnete Grundsätze oder Sekundärprinzipien, wie Mill sie nennt, können jedoch keineswegs selbstevident sein. Denn die Folgen von
Handlungen, von denen nach utilitaristischer Auffassung die moralische Richtigkeit und
Falschheit der Handlungen abhängt, können ja nicht a priori gewusst werden. Selbst wenn
1
Henry Sidgwick, The Methods of Ethics. S. 388. (Buch III, Kapitel XIII).
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
Sidgwick recht hätte, würde deshalb nicht folgen, dass die praktische Frage: Was soll ich tun?
selbstevidente Antworten hat, deren Richtigkeit unabhängig von unserem erfahrungsbasierten
Wissen über die Welt und über uns selbst unmittelbar einsichtig sind.
Mills Gegnerschaft gegen die intuitionistische Schule der Ethik lese ich daher vor allem als
eine Zurückweisung der Prätention, dass wir lediglich an unsere moralischen Intuitionen appellieren müssen und auch an nichts anderes appellieren können, um die Gültigkeit moralischer Urteile und Forderungen einsehen zu können. Mill sieht, dass diese Prätention nicht nur
metaethischer Natur ist, sondern sich vielmehr auch in einer charakteristischen Auffassung
über die Gestalt der Moral und damit in einer charakteristischen Ausgestaltung der Ethik
niederschlägt. Die Intuitionisten, schreibt er, machen
[...] nur selten den Versuch, ein Verzeichnis der Prinzipien a priori anzulegen, die als
Prämissen dieser Wissenschaft [der Moral] dienen könnten, und noch seltener machen
sie sich die Mühe, jene verschiedenen Prinzipien auf ein Grundprinzip, eine
gemeinsame Grundlage aller moralischen Verpflichtungen zurückzuführen. Entweder
erkennen sie die gewöhnlichen Moralvorschriften als a priori gegeben an, oder aber sie
stellen als gemeinsame Grundlage jener Maximen irgendein allgemeines Prinzip auf,
dessen Verbindlichkeit viel weniger einsichtig ist als die der Maximen selbst und dem
es nie gelungen ist, allgemeine Anerkennung zu finden. Wollten sie ihren Anspruch
begründen, müsste es jedoch entweder ein grundlegendes Prinzip oder Gesetze geben,
auf der die gesamte Moral letztlich beruht, oder, falls es deren mehrere geben sollte,
eine bestimmte Rangordnung unter ihnen; und jenes grundlegende Prinzip bzw. die
Regel, nach der in Konfliktfällen zwischen den einzelnen Prinzipien zu entscheiden ist,
sollte unmittelbar evident sein. (§ 3, S. 6)
Wenn man Mills Gedanken hier auf einen Punkt bringen will, so besteht er darin, dass der
Intuitionismus deshalb zutiefst unglaubwürdig ist und rational nicht akzeptiert werden kann,
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
weil er kein kritisches Potential zur Begründung moralischer Verpflichtungen enthält. Und
das in mehrerer Hinsicht. Er enthält erstens keine kritisches Potential im Hinblick auf die
Beurteilung der Alltagsmoral. Denn wie soll sich der Intuitionist zur Alltagsmoral stellen? Er
kann die moralischen Urteile oder Verhaltensvorschriften der Alltagsmoral als a priori gegeben, das heißt als selbstevidente Urteile oder Vorschriften akzeptieren. Aber hier taucht ein
Problem auf. Denn der Intuitionist scheint keine Möglichkeit zu haben, die Tatsache, dass er
sie akzeptiert, selbst eine kritischen Prüfung zu unterziehen. Das heißt es scheint für ihn keine
Möglichkeit zu geben, die behauptete Selbstevidenz jener Urteile oder Vorschriften von der
schlichten Tatsache zu unterscheiden, dass er sie zu akzeptieren geneigt ist. Das heißt aber
nichts anderes, als dass er diejenigen Urteile, die er akzeptiert, gar nicht weiter rationalisieren
kann. Der Mangel an kritischem Potential ist also ein Mangel an der Möglichkeit einer
kritischen Beurteilung der eigenen Intuitionen. Der Intuitionist steht also immer in der Gefahr,
das, was er selbst zu akzeptieren geneigt ist, nachträglich mit der Weihe der Selbstevidenz zu
versehen.
Daraus entspringt, zweitens, als ein weiteres Problem das Problem wie man sich als
Intuitionist rational mit abweichenden Moralvorstellungen auseinandersetzen soll. Denn
angenommen, der Intuitionist teilt nicht alle Urteile der Alltagsmoral. Dann kann er die
Alltagsmoral nicht als Verkörperung eines Systems selbstevidenter Handlungsbeschränkungen einstufen. In diesem Fall muss er aber einen Unterschied machen zwischen dem, was
jemand als unmittelbar einsichtig zu akzeptieren bereit ist, und dem, was unmittelbar
einsichtig ist. Und das wird ihn als einen Intuitionisten in die Verlegenheit bringen, sein Urteil
als gültig auszuweisen, unabhängig von seiner Bereitschaft, es zu akzeptieren. Aber wie sollte
er das tun, wenn die letzte Appellationsinstanz in moralischen Fragen das moralische Gefühl,
das Gewissen oder die moralische Intuition ist?
Nun können Intuitionisten – und das ist eine Möglichkeit, die Mill im zitierten Text anzeigt –
aber durchaus ein höherstufiges Prinzip aufstellen, das jenen von ihnen akzeptierten Urteilen
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
oder Verhaltensregeln zugrunde liegt. Dieses Prinzip müsste dann jedoch im Unterschied zu
den von ihm abhängigen Verhaltensregeln in sehr viel höherem Masse einsichtig sein, ja
intuitiv gewiss sein. Aber das ist, wie Mill hervorhebt, keineswegs der Fall. Mill denkt hier
wahrscheinlich an so etwas wie Kants kategorischen Imperativ. Verglichen mit einem gemeinhin akzeptierten Urteil wie dem, dass es unmoralisch ist, andere zu belügen, oder dem
ebenfalls einhelligen Urteil, dass es unmoralisch ist, andere zu quälen, ist dieses Prinzip aber
zweifellos nicht in höherem Masse evident oder gewiss.
Ein weiterer, dritter, Punkt, den Mill kritisch gegen die intuitionistische Schule hervorhebt,
betrifft das Problem der Anwendung der als selbstevident ausgegebenen Verhaltensregeln.
Wenn es selbstevidente Regeln gibt, die mir sagen, was ich tun und unterlassen soll, sollte es
eigentlich auch selbstevident sein, was ich in einer gegebenen Situation tun soll. Es sollte also
eine wiederum gewisse Regel geben, „nach der in Konfliktfällen zwischen den einzelnen
Prinzipien zu entscheiden ist.“ Um das Problem zu veranschaulichen, denken sie an David
Ross’ pluralistische Deontologie der prima facie Pflichten. Ross hatte darauf hingewiesen,
dass wir auch in Fällen des Konflikts von Pflichten unser moralisches Denken keineswegs als
ein an den Konsequenzen des Handelns orientiertes Denken rekonstruieren müssen. Dass ich
in einer Situation, in der ein anderer ohne meine Hilfe ums Leben kommen würde, einem
relativ belanglosen Versprechen nicht Folge leisten muss, liegt in seiner Sicht nicht daran,
dass das Halten des Versprechens weniger gute Konsequenzen hat, als die Hilfsleistung, sondern daran, dass in einem solchen Fall, wie er sich ausdrückt, die eine Pflicht die andere
überwiegt oder mehr von einer Pflicht ist: „it is not because I think I shall produce more good
thereby but because I think it the duty which is in the circumstances more of a duty.“ Dass die
Pflicht zur Hilfsleistung in einer solchen Situation ‚mehr von einer Pflicht’ ist, würden wir
sicherlich alle akzeptieren. Aber mehr als ein Appell an unsere Intuition lässt Ross’ Auffassung nicht zu. Das bedeutet aber, dass wir gar nicht mehr zu sagen im Stande sind, warum
in einer solchen Situation jene Pflicht stärker bindet als diese Pflicht. Es gibt hier keine Regel
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
zur Beurteilung und Entscheidung in Situationen des Pflichtenkonflikts. Eine solche Regel
müsste es aber, glaubt Mill, geben, wenn der Intuitionist seinem eigenen Anspruch gerecht
werden will, dass die moralische Beurteilung von Handlungen auf selbstevidenten Prinzipien
beruht.
Die geringe Plausibilität der intuitionistischen Schule zeigt sich für Mill nach meiner Auffassung also nicht so sehr auf der Ebene der Metaethik, sondern auf der Ebene der Ethik
selbst. Ihr fehlt es (1) an Ressourcen der kritischen Beurteilung der eigene Theoriebildung, sie
stellt (2) keine Ressourcen zur kritischen Beurteilung unserer moralischen Praxis bereit, und
sie bietet (3) gerade da keine Orientierung, wo wir sie brauchen, wo die Frage: Was soll ich
tun? wirklich drängend wird.
Die Unglaubwürdigkeit einer intuitonistischen oder aprioristischen Ethik zeigt sich für Mill
auch indirekt daran, dass sich Intuitionisten, wenn sie moralische Urteile überhaupt einer
kritischen Prüfung unterziehen, dann insgeheim utilitaristischer Argumente bedienen: „[...]
zumindest jene Apriori-Moralisten, die das Argumentieren überhaupt noch für notwendig
halten, [können] auf utilitaristische Argumente nicht verzichten.“ (§ 4, S. 7) Diesen Punkt
versucht Mill am Beispiel von Kant zu erhärten:
Sobald er es [...] unternimmt, aus dieser Regel [dem kategorischen Imperativ] einige
konkrete moralische Pflichten herzuleiten, misslingt ihm in geradezu grotesker Weise
der Nachweis, dass darin, dass alle vernünftigen Wesen nach den denkbar unmoralischsten Verhaltensnormen handeln, irgendein Widerspruch, irgendeine logische oder
auch nur physische Unmöglichkeit liegt. Was er zeigt, ist eigentlich das, dass die
Folgen einer allgemeinen Befolgung dieser Normen derart wäre, dass jedermann von
ihnen verschont bleiben wollte. (§4, S. 8)
Mills Punkt ist hier nicht von Interesse als eine Interpretation von Kant. Wichtig ist seine
Beobachtung, dass es zumindest nicht leicht fällt, unabhängig von jeder Folgenorientierung
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
eine moralische Überlegungen zu rekonstruieren, durch die bestimmte Handlungen als richtig
oder falsch bewertet werden. Jeder Versuch einer Zurückweisung des Utilitarismus im Namen
einer deontologischen Ethik hat daher zu achten hat, nicht selbst von utilitaristischen Erwägungen Gebrauch zu machen. Einen in diese Richtung gehenden Punkt hatte schon Bentham
herausgestrichen:
When a man attempts to combat the principle of utility, it is with reasons drawn,
without his being aware of it, form that very principle itself. His arguments, if they
prove any thing, prove not that the principle is wrong, but that, according to the
applications he supposes to be made of it, it is misapplied. Is it possible for man to
move the earth? Yes, but he must first find out another earth to stand upon.
Benthams Bemerkung ist natürlich vollkommen überzogen. Wenn er recht hätte, dann wäre es
unmöglich das Prinzip der Nützlichkeit zurückzuweisen, ohne es zugleich zu akzeptieren; und
Bentham hätte eine Art transzendentales Argument für den Utilitarismus geliefert. Das ist
natürlich nicht so. Auch Mill glaubt keinesfalls, dass seine Kritik an der intuitionistischen
Schule schon irgendeine Art von Beweis für den Utilitarismus ist. Einen solchen indirekten
Beweis führt er selbst nicht und er glaubt auch weder, dass das erforderlich, noch, dass es
besonders sinnvoll ist, wenn Beweise die Funktion haben sollen, eine Position rational
einsichtig zu machen. Sein nächster Schritt ist daher zunächst einmal die genaue Klärung des
Sinns des utilitaristischen Moralprinzips.
2. Das Nützlichkeitsprinzip - Vorklärungen
Das zweite Kapitel „Was heißt Utilitarismus“ beschäftigt sich nicht mit der Begründung,
sondern mit der Erläuterung des Nützlichkeitsprinzips. Mill hält dieses Prinzip vor allem
angesichts der weitverbreiteten Kritiken am Utilitarismus für erläuterungsbedürftig. Er
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
bemüht sich zu zeigen, dass diese Kritiken auf Missverständnissen beruhen, und dass, wenn
diese Missverständnisse behoben sind, der Spielraum für eine rationale Zurückweisung des
Utilitarismus zumindest extrem klein wird. Obwohl er sich hier nicht mit der Frage nach der
Beweisfähigkeit oder dem Beweis für das utilitaristische Moralprinzip, sondern nur mit
dessen Sinn beschäftigt, hat daher das zweite Kapitel für Mill doch die wichtige dialektische
Funktion, dem Gegner des Utilitarismus den Wind aus den Segeln zu nehmen. Auf die dialektischen Aspekte werde ich jedoch zunächst einmal nicht eingehen und mich vor allem auf die
Frage nach dem Gehalt des utilitaristischen Moralprinzips beschränken. Mill präsentiert es im
§ 2 des zweiten Kapitels:
Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzip des größten Glücks die
Grundlage der Moral ist, besagt, dass Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch
richtig sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch
falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken. Unter „Glück“
[happiness] ist dabei Lust [pleasure] und das Freisein von Unlust [pain], unter
„Unglück“ [unhappiness] Unlust und das Fehlen von Lust verstanden. (§ 2, S. 13).
Betrachten wir das gesamte Kapitel, so sind es vor allem zwei Fragen, deren Beantwortung
aus Mill’scher Sicht zum Verständnis dieses Standards der Moral besonders dringlich sind.
Die erste Frage betrifft den genauen Sinn der Rede von Lust und Unlust/Schmerz. Die zweite
Frage betrifft die Rolle dieses Prinzips. Im großen und ganzen strukturieren diese beiden
Fragen das zweite Kapitels, wobei Mill der ersten Frage in den §§ 3 – 18 (S. 13 – 31)
nachgeht, der zweiten in den darauffolgenden §§ 19 – 25 (S. 31 – 45). Bevor wir Mills
Diskussion dieser Punkte näher betrachten, ist es nützlich, noch einige Vorklärungen zu
treffen. Wir können an Mills Formulierung einmal weitere strukturelle Merkmale des
Utilitarismus ablesen; aber dann auch einige irreführende Formulierungen in Mills eigener
Präsentation beseitigen.
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
(1) Für das Verständnis des utilitaristischen Standards der Moral ist es wesentlich, dass das
Glück, um dessen Beförderung es geht, nicht das Glück des jeweils Handelnden ist. Das
sagt Mill auch selbst explizit in § 18 (S. 30): „[...] das Glück, das den utilitaristischen Maßstab
des moralisch richtigen Handelns darstellt, [ist] nicht das Glück des Handelnden selbst,
sondern das Glück aller Betroffenen.“ Der utilitaristische Standard verlangt also nicht das,
was ein egoistischer Standard verlangen würde. Ein am Glück als Endzweck des Handelns
orientierter egoistischer Standard würde verlangen, dass jeder sein eigenes Glück befördern
soll. Utilitarismus und Egoismus sind also miteinander unvereinbar. Aber das heißt wiederum
nicht, dass das Glück des Handelnden selbst nicht zählt. Das heißt, wenn der utilitaristische
Standard verlangt, das Glück zu befördern, dann ist darin das Wohl des Handelnden selbst
eingeschlossen. Der utilitaristische Standard impliziert also nicht unmittelbar die Selbstaufopferung des eigenen Glücks zugunsten des Glücks anderer. Wenn ich also zum Beispiel
entscheiden müsste, ob ich meine bettlägerige und pflegebedürftige Mutter selbst pflegen soll
oder die Pflege einer unpersönlichen Institution anvertrauen soll, dann zählt nicht nur, was die
Alternativen für meine Mutter, sondern auch, was sie für mich selbst bedeuten.
(2) Der Ausdruck „alle Betroffenen“ kann in zwei verschiedenen Weisen gedeutet werden.
Wenn wir eine bestimmte Entscheidungsangelegenheit betrachten, in der ein Handelnder
zwischen Alternativen A und B wählen muss, dann sind die Betroffenen die von den zur
Entscheidung stehenden Handlungen A und B Betroffenen. Es gibt aber auch einen grundsätzlicheren Sinn der Rede von allen Betroffenen. Das wird klar, sobald wir uns bewusst
machen, dass eine Antwort auf die rein faktische Frage, wer oder was alles von einer Handlung betroffen wird, uns noch keine Antwort auf die Frage gibt, wer oder was unter den
Betroffenen in moralischer Hinsicht auch berücksichtigt werden muss. In utilitaristischer
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
Hinsicht zählen zu den in moralischen Urteilen zu berücksichtigen Wesen alle empfindungsfähigen Wesen. Der Utilitarismus ist also nicht anthropozentrisch, sondern, wie manche sagen, pathozentrisch. Außerdem zählen zu den Betroffenen im Sinne der in der moralischen
Handlungsbeurteilung zu berücksichtigenden Wesen nicht nur die gegenwärtig Lebenden,
sondern auch die zukünftig Lebenden.
(3) Mit der Antwort auf die Frage, wer oder was zum Kreis der Betroffenen zählt, deren
Glück in utilitaristischer Sicht zu berücksichtigen ist, ist noch nicht gesagt, wie diese
Betroffenen zu berücksichtigen sind. Hier fordert der Utilitarismus auf der Ebene des
Moralprinzips selbst eine strenge Unparteilichkeit. Das hebt Mill im § 18 hervor: „Der
Utilitarismus fordert von jedem Handelnden, zwischen seinem eigenen Glück und dem der
anderen mit ebenso strenger Unparteilichkeit zu entscheiden wie ein unbeteiligter und
wohlwollender Zuschauer.“ Der Kreis der Betroffenen lässt also – auf der prinzipiellen Ebene
des utilitaristischen Standards – keine normative Abstufung in dem Sinne zu, dass das Glück
einiger mehr zählt als das Glück anderer. Bentham hatte diese strenge Unparteilichkeit mit der
berühmten Formel ausgedrück: Everyone to count as one and no one more than one. Um
keine Missverständnis aufkommen zu lassen, ist es hier wichtig zwischen einem formalen und
einem substantiellen Egalitarismus zu unterscheiden. Die Unparteilichkeit der Berücksichtigung ist ein formal egalitäres Prinzip: es schließt nur aus, dass das Wohl einiger von einer
Handlung Betroffener mehr zählt als das Wohl anderer. Es ist aber nicht substantiell egalitär,
insofern das utilitaristische Prinzip nicht vorschreibt, dass unter den Betroffenen ein gleiches
Nutzen oder Wohlfahrtsniveau herzustellen ist.
(4) Mill spricht von dem Glück aller Betroffen, das zu befördern nach utilitaristischer Sicht
moralisch gefordert ist. An anderer Stelle (Kap. 4, § 3, S. 61) spricht er auch vom allgemeinen
Glück. Der Ausdruck „das Glück aller“ und der Ausdruck „allgemeines Glück“ suggerieren,
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
dass damit auf eine bestimmte Entität Bezug genommen wird, die unabhängig von und zusätzlich zum Glück der Individuen bestehen kann. Aber so ist das von Mill nicht gemeint. Das
Glück aller oder das allgemeine Glück ist nach utilitaristischen Verständnis nichts anderes als
die Summe des Glücks der Individuen. Glück ist, wenn Sie so wollen, additiv. Schädige ich
eine Person und vermindere damit ihr Glück, so vermindere ich damit (ceteris paribus) auch
das Glück aller oder das allgemeine Glück. Es gibt in utilitaristischer Sicht aber nicht
irgendeinen mysteriösen Allgemeinnutzen, der von der Verminderung oder der Erhöhung des
Glücks der Individuen unberührt bleiben könnte. Dieser Punkt ist besonders wichtig, um nicht
dem Missverständnis zu erliegen, der Utilitarismus verfolge unter dem Titel „der Allgemeinnutzen“ oder „das Gemeinwohl“ ein abstraktes Ideal, dessen Realisierung von uns
verlang, die Interessen der Individuen nicht zu berücksichtigen. Eine solche Vorstellung ist
dem Geist des Utilitarismus geradezu entgegengesetzt. Mills Utilitarismus kennt nur ein
intrinsisches Gut: das Glück.
(5) Mill bezeichnet das utilitaristische Prinzip dort, wo er es eingeführt hat, als das Prinzip des
größten Glücks. Mills Text kümmert sich nicht sonderlich um eine Erklärung dieses Punktes,
der für die utilitaristische Ethik aber eine besondere Bedeutsamkeit hat. Nehmen wir seine
nachfolgende Darstellung, der zu Folge Handlungen insofern und in dem Maße moralisch
richtig sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, als eine Erläuterung, dann wird
der Sinn der Rede vom größten Glück aber leidlich klar. Der utilitaristische Standard kann in
dem Sinne als das Prinzip des größten Glücks bezeichnet werden, dass er die Maximierung
des Glücks zum Kriterium der moralischen Bewertung macht. [Mills Formulierung ist daher
unglücklich. Denn eine Handlung kann durchaus das Glück (aller) befördern ohne es zu
maximieren. Die Maximierungsforderung steckt also im Namen, nicht in der Formulierung
des Prinzips].
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
Dabei ist es wichtig zu sehen, dass die Forderung der Maximierung des Glücks (so wie sie in
Mills Formulierung des Prinzips figuriert) nicht die Forderung zu einer bestimmten Handlung
oder die Forderung zu einem bestimmten Handlungsplan ist. Obwohl „maximieren“ ein Verb
– ein Tätigkeitswort – ist, darf man hier nicht der Assoziation mit einer Tätigkeit erliegen.
Gemeint ist einfach folgendes. Wenn wir zum Beispiel vor der Entscheidung zwischen zwei
Handlungsalternativen A und B (wobei B auch für die Unterlassung von A stehen kann)
stehen, dann wäre es in moralischer Hinsicht falsch, B zu wählen, wenn A die im Hinblick auf
das Glück aller Betroffenen besseren Konsequenzen hat. Unter den gegebenen Alternativen
hat A nicht nur den größeren, sondern den maximalen Nutzen: A ist dann unter den
gegebenen Alternativen diejenige, die den Nutzen oder das Glück maximiert. Die Rede vom
größten Glück ist also kriteriell gemeint und gibt uns einen Maßstab zur Handlungsbeurteilung oder besser: ein Kriterium für die Richtigkeit und Falschheit einer Handlung.
Eine andere Interpretation der Maximierungsforderung würde ungefähr so aussehen: Das
utilitaristische Prinzip verlang von uns, unser Leben darauf auszurichten, soviel Glück wie
möglich zu realisieren. Unter dieser Interpretation wäre das utilitaristische Prinzip zunächst
einmal sehr viel anspruchsvoller als unter der eben erwähnten. Unter der eben erwähnten gilt
einfach: Wenn Du in einer Situation bist, in der Du zwischen zwei oder mehr
Handlungsalternativen zu wählen hast, dann sollst Du diejenige wählen, die im Hinblick auf
das Glück aller Betroffenen die beste ist. Unter der substantiellen Lesart von ‚Maximierung
des Glücks’ gilt jedoch: Versuche alles in Deiner Macht stehende zu tun, das Glück aller zu
befördern. Der Unterschied zwischen beiden Lesarten ist nicht unbeträchtlich: Denn nach der
zweiten, nicht aber nach der ersten Lesart ist die Beförderung des Glücks aller ein Lebensziel,
das der Utilitarismus vorschreibt. Eine Standardkritik des Utilitarismus liest das utilitaristische Prinzip gerade auf diese Weise. Ich werde darauf noch zurückkommen. An dieser
Stelle ist jedoch wichtig festzuhalten: Das utilitaristische Prinzip sagt uns, unter welchen
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
Bedingungen eine Handlung falsch und unter welchen Bedingungen eine Handlung richtig ist.
Es schreibt uns aber nicht die Maximierung des Glücks als ein Lebensprojekt vor.
(5a) Klar ist, dass Handlungen oftmals sowohl negative als auch positive Wohlfahrtseffekte
haben. Diejenige von zwei Handlungen, die das Glück aller Betroffenen maximiert, ist daher
nicht diejenige, die den größten positiven Nutzen hat, sondern diejenige die, wie man sagt,
den größten Nettonutzen hat. Es kommt also auf die Nutzenbilanz einer Handlung an und
nicht auf den Betrag ihrer positiven Effekte. Henry Sidgwick hat das in seiner Formulierung
des utilitaristischen Standards sehr viel klarer expliziert als Mill. Nach seiner Formulierung
lautet der utilitaristische Standard:
an action is right if and only if it brings about at least as much net happiness as any
other action the agent could have performed; otherwise it is wrong.
Nehmen wir einmal nur zur Veranschaulichung an, dass es möglich sei, die Größe von
Glück und Unglück mit mathematischer Präzision, also rein quantitativ auszudrücken. Und
nehmen wir an eine Handlung A würde 8 Einheiten von Glück und 4 Einheiten von
Unglück produzieren. Der Nettonutzen der Handlung A wäre dann gleich 4 Einheiten von
Glück. Eine andere Handlung B, nehmen wir an, würde 10 Einheiten von Glück aber 7
Einheiten von Unglück produzieren. Obwohl B mehr Glück produzieren würde, ist der
Nettonutzen von B gleich 3 und damit kleiner als der von A. Also ist A und nicht etwa B
diejenige Handlung, die den Nutzen oder das Glück maximiert. Nach dem utilitaristischen
Standard ist A die moralische richtige, B jedoch die moralisch falsche Handlung.
Damit haben wir weitere wichtige strukturelle Merkmale des Utilitarismus vor Augen.
Utilitarismus ist (1) teleologisch oder konsequentialistisch (der moralische Wert einer
Handlung ist abhängig vom komparativen Wert ihren Konsequenzen), (2) welfaristisch
(Wohlergehen ist der einzige intrinsische Wert), (3) monistisch (es gibt einen Standard der
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
moralischen Bewertung), (4) aggregativ (der Gesamtnutzen ist eine Funktion des
individuellen Nutzens), (5) universalistisch (das Glück aller Betroffenen und nicht das
Glück des Handelnden allein zählt), (6) unparteilich oder formal egalitär (das Wohl jedes
einzelnen zählt und zählt gleich wie das Wohl jedes anderen). (6) maximierend
Jetzt noch einige wichtige Implikationen und Klärungen.
(A) Das utilitaristische Prinzip macht den moralischen Wert einer Handlung offenbar nicht
abhängig von den Motiven des Handelnden. Es macht sie daher – und das ist überaus wichtig
– auch nicht davon abhängig, ob der Handelnde nach dem utilitaristischen Prinzip selbst oder
aus anderen Motiven und Erwägungen heraus handelt. Mill unterscheidet daher scharf
zwischen Handlungs- und Charaktermoral. So unterstreicht er in § 19 (S. 32), „dass das Motiv
zwar sehr viel mit dem moralischen Wert des Handelnden, aber nichts mit der moralischen
Richtigkeit der Handlung zu tun hat. Wer einen Mitmenschen vor dem Ertrinken rettet, tut,
was moralisch richtig ist, einerlei, ob er es aus Pflichtgefühl tut oder in der Hoffnung, für
seine Mühe entschädigt zu werden.“ Das ist ein wichtiger Punkt, der uns noch an späterer
Stelle etwas näher beschäftigen wird.
(B) Wenn Mill das Nützlichkeitsprinzip als das Kriterium der moralischen Richtigkeit einer
Handlung beschreibt, sollte man den Begriff der Handlung so fassen, dass auch Unterlassungen darunter fallen. Das ergibt sich schon daraus, dass nicht der Wert der Folgen einer
Handlung für sich betrachtet, sondern der komparative Wert der Folgen einer Handlung das
Kriterium ist. Das folgt aus der Logik der Maximierung.
Obwohl Mill sich dazu nicht äußert, gehört es zur typischen utilitaristischen Auffassung, dass
zwischen Tun und Unterlassen in moralischer Hinsicht kein grundlegender Unterschied
besteht. Einem Hunger leidenden Menschen kein Stück Brot zu geben ist nicht allein darum,
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
weil es sich um die Unterlassung einer Hilfeleistung handelt, schon weniger zu verurteilen als
wenn man ihm sein letztes Stück Brot wegnehmen würde. Wer das Brot nicht gibt, hat
vielleicht einen weniger perfiden Charakter als der, der das Brot nimmt. Wenn aber die
Konsequenzen des Wegnehmens und die des Nicht-Gebens gleich sind, besteht zwischen
beiden Verhaltensweisen moralisch gesehen kein interessanter Unterschied.
(C) Der letzte Punkt macht schon deutlich, dass der Utilitarist die Rede von Folgen, Konsequenzen und Resultaten nicht so eng interpretiert, wie wir das im Alltag tun. Unserem
Alltagsverständnis nach ist das Resultat einer Handlung etwas das (1) zeitlich nach der
Handlung kommt, (2) von der Handlung verursacht ist. Was das letztere betrifft, ist klar, dass
damit die Resultate von Unterlassungen nicht erfasst werden könnten. Denn wenn ich etwas
nicht tue und es geschehen lasse, dass jemand verhungert, dann kann man nicht sagen, dass
ich einen kausalen Beitrag zu seinem Verhungern geleistet habe. Dennoch wollen wir hier
von einem Resultat meiner Untätigkeit sprechen. Und das macht Sinn. Denn es ist wahr, dass
dann, wenn ich nicht untätig geblieben wäre, der Hungernde nicht verhungert wäre. Zweitens
müssen Resultate auch nicht unbedingt etwas sein, was zeitlich nach einer Handlung eintritt.
Das hat zumindest zwei Gründe. (1) Glück und Unglück können eine Handlung begleiten und
müssen nicht zeitlich nachfolgende Konsequenzen sein. Die Befriedigung des Musikhörens
oder Lesens ist eine Befriedigung, die mit dem Hören oder dem Lesen einhergeht. (2)
Standardhandlungsbeschreibungen umfassen oftmals selbst oder implizieren logisch Folgen
oder Konsequenzen. Bsp. „Mord“, „Betrug“, „Verrat“. Es wäre aber absurd, würde man nur
das als Konsequenzen zählen, was von Standardbeschreibungen einer Handlung nicht umfasst
oder logisch impliziert wird.
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
(D) Als letztes möchte ich noch auf einige Unbestimmtheiten und Unklarheiten in Mills
Präsentation des utilitaristischen Standards hinweisen, soweit sie nicht mit den beiden Fragen
zusammenhängen, die wir im folgenden besprechen werden.
(1) Der erste Punkt betrifft die Zuordnung von moralischer Richtigkeit zur Glücksförderung
und die Zuordnung von moralischer Falschheit zur Bewirkung des Gegenteils von Glück. Hier
liegt eine Unbestimmtheit in Mills Formulierung des utilitaristischen Standards. Mill sagt
dort, dass Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch richtig sind, als sie die Tendenz
haben, Glück zu befördern und insoweit falsch als sie die Tendenz haben das Gegenteil von
Glück zu bewirken. Diese Formulierung legt nahe, dass einige Handlungen sowohl richtig als
auch falsch sein können, dass nur solche Handlungen richtig sind, die überhaupt keine
negativen Konsequenzen haben, und dass nur solche Handlungen falsch sind, die überhaupt
keine positiven Konsequenzen haben. Aber diese Sicht würde dem utilitaristischen
Grundgedanken gerade widersprechen. Wir haben gesehen, dass es der komparative Wert
einer Handlung ist, wodurch ihr moralischer Wert bestimmt wird: Die richtige Handlung kann
daher durchaus negative Folgen haben und die falsche durchaus positive. Also kann eine
Handlung nicht zum Teil richtig, zum Teil falsch sein, weil sie sowohl positive als auch
negative Folgen hat.
(2) Ein damit direkt zusammenhängendes Problem ergibt sich aus Mills Behauptung, dass
eine Handlung in dem Maße richtig ist, wie sie die Tendenz hat Glück zu befördern. Das
Problem liegt darin, dass die Semantik von „richtig“ und „falsch“ im Unterschied zur
Semantik von „gut“ einen Komparativ verbietet. Es macht daher keine Sinn von zwei Handlungen zu sagen, dass die eine richtiger sei als die andere. Der geradlinige utilitaristische
Gedanken ist der, dass eine Handlung richtig ist, wenn sie das Glück maximiert, und
andernfalls falsch.
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
(3) Ein drittes Problem hängt mit Mills Rede von den Tendenzen einer Handlung ab. Eine
Möglichkeit ihn zu interpretieren ist diese: Es geht um die Frage, ob die aktualen oder die
erwarteten bzw. erwartbaren Konsequenzen den moralischen Wert einer Handlung bestimmen. Ein wichtiger Punkt ist hier, dass Mill wie der Utilitarist im allgemeinen, nur zwischen
diesen beiden Optionen entscheiden kann. Der Utilitarist wird beispielsweise nicht
berücksichtigen welche unter den aktualen Handlungsfolgen von dem Handelnden intendiert
waren. Das folgt meines Erachtens schon daraus, dass für Utilitaristen Tun und Unterlassen in
moralischer Hinsicht nicht grundsätzlich verschieden zu beurteilen sind. Wer etwas zu tun
unterlässt beabsichtigt typischerweise ja nicht die Folgen seiner Unterlassung. So wäre es
natürlich eine phantastische Konstruktion, wollten wir jemandem, der es unterlässt einem
Ertrinkenden zur Hilfe zu eilen, nur deshalb, weil er es unterlässt, den Wunsch zuschreiben,
dass der Betreffende ertrinkt. Würden wir nun lediglich die vom Akteur gewünschten oder
intendierten Konsequenzen berücksichtigen, wären Unterlassungen von Hilfsleistungen typischerweise niemals moralisch falsch. Aber eben das kann der Utilitarist sicherlich nicht
zulassen, wenn er daran festhalten will, dass etwas zu tun unterlassen nicht grundsätzlich
anders zu bewerten ist als etwas tun.
Soweit sich aus Mills Text überhaupt etwas in Bezug auf unsere Frage entnehmen lässt,
spricht einiges dafür, dass er die Auffassung favorisiert, dass die Richtigkeit oder Falschheit
einer Handlung durch die nach einem objektiven Informations- und Wissensstandard
erwartbaren oder voraussehbaren Konsequenzen bestimmt wird. Das scheint mir eben der
Punkt seiner Rede von einer Tendenz von Handlungen zu sein. Denn damit scheint er die
Auffassung, nach welcher die faktischen Konsequenzen den moralischen Wert einer
Handlung bestimmen, ausschließen zu wollen. Mills Rede von der Tendenz einer Handlung
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
weist auf die Regelmäßigkeit unter so etwas wie Normalbedingungen hin, wobei Normalbedingungen jene Bedingungen sind, unter denen sich ein regelmäßiger Zusammenhang
zwischen Handlungen eines Typs und Konsequenzen eines Typs im Verlaufe der Geschichte
menschlicher Erfahrungen gezeigt hat. Diesen Punkt hat Mill selbst herausgestrichen, wenn er
(§ 24, S. 40) darauf hinweist, dass es keine prinzipielles Problem mit der Bestimmung der
Auswirkungen von Handlungsweisen auf das allgemeine Glück gebe, da die Erfahrungen, die
uns zu einer solchen Bestimmung befähigen, tradiert werden und damit in ein sozial geteiltes
Wissen eingehen.
(4) Ein letzter Punkt über den Mill uns etwas im Unklaren lässt ist der Begriff einer das Glück
befördernden Handlung. Das heißt es ist nicht ganz klar, unter welchen Bedingungen eine
Handlung als eine solche zählen kann, durch die Glück befördert wird. Die Unklarheit ergibt
sich vor allem aufgrund einer Passage in § 12 (S. 22). Dort sagt Mill, dass „das utilitaristische
Prinzip ja nicht nur das Streben nach Glück, sondern auch die Verhinderung und Milderung
von Unglück beinhaltet.“ Diese Stelle suggeriert, dass die Verhinderung und Milderung von
Unglück etwas anderes ist als die Beförderung von Glück. Wenn wir jedoch den utilitaristischen Standard auf der Basis dieser so interpretierten Textstelle lesen würden, wären wir
zu einer Revision gezwungen: Wir müssten dann sagen, dass (nach Mill’scher Auffassung)
der utilitaristische Standard von jedem Handelnden verlangt Glück zu befördern oder Leid zu
verhindern. Aber diese Lesart lässt sich in Anbetracht des Gesamttextes nicht legitimieren. So
bezeichnet er beispielsweise schon im ersten Kapitel die Frage nach dem summum bonum als
die Frage nach den Grundlagen der Moral. Der Gedanke ist hier der, dass es ein oberstes Ziel
der Moral gibt und dass das moralisch richtige Handeln im Hinblick auf dieses oberste Ziel
bestimmt werden muss. Das summum bonum ist für Mill nun aber klarerweise das Glück:
„Der Utilitarismus sagt, dass Glück wünschenswert ist, dass es das einzige ist, das als Zweck
wünschenswert ist, und dass alles andere nur als Mittel zu diesem Zweck wünschenswert ist.“
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
(4. Kap. § 2, S. 60). Damit kommen wir zu einer eindeutigen Lesart der Begriff einer das
Glück befördernden Handlung. Glück wird durch eine Handlung befördert, wenn es den von
der Handlung Betroffenen aufgrund der Handlung besser geht als vorher oder wenn es den
von der Handlung Betroffenen schlechter ginge, wäre die Handlung nicht ausgeübt worden.
Daher zählt auch jede Handlung, durch die Leiden vermindert wird, und auch jede Handlung,
durch die Leiden verhindert wird, als glücksfördernde Handlung. Eine das Glück aller
Betroffenen fördernde Handlung ist dann die das Glück aller maximierende Handlung.
3) Die Wertbasis des Mill’schen Utilitarismus
Der Utilitarismus ist eine konsequentialistische Ethik. Die moralische Qualität einer Handlung
ist abhängig und allein abhängig von ihren Konsequenzen. Genauer gesagt: vom Wert ihrer
Konsequenzen. Moralischer Wert wird deshalb kriteriell abhängig von einem oder mehreren
außermoralischen Werten. Die außermoralischen Werte oder der außermoralische Wert liefert
die Grundlage zur Beurteilung des moralischen Werts. Was wir bisher schon wissen ist, dass
es für Mill durchaus verschiedene wünschenswerte Dinge gibt, aber nur eins, was um seiner
selbst willen wünschenswert ist und von dem der Wert aller anderen wünschenswerten Dinge
wiederum abhängt – nämlich Glück. Ich zitierte noch einmal: „Der Utilitarismus sagt, dass
Glück wünschenswert ist, dass es das einzige ist, das als Zweck wünschenswert ist, und dass
alles andere nur als Mittel zu diesem Zweck wünschenswert ist.“ (Kap. 4, § 2, S. 60). Glück
ist, anders gesagt, das summum bonum, das in utilitaristischer Sicht die Grundlage (nämlich
die Wertbasis) der Moral bildet. Weiterhin wissen wir, dass Mill Glück mit Hilfe der Begriffe
von pleasure (Lust) und pain (Unlust oder Schmerz) analysiert. Ich zitiere auch hier noch
einmal: „Unter Glück ist dabei Lust und das Freisein von Unlust, unter Unglück Unlust und
das Fehlen von Lust verstanden.“ (Kap. 2, § 2, S. 13). Diese These lässt sich natürlich als eine
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
hedonistische These bezeichnen. Es handelt sich dabei aber nicht um einen psychologischen
Hedonismus, welcher Handlungen aus dem Streben nach Lust erklärt. Dass Glück in den
Begriffen von Lust und Unlust/Schmerz zu analysieren ist, sagt ja nichts über die Erklärung
menschlichen Handelns. Es handelt sich aber auch nicht um einen ethischen Hedonismus,
welcher moralische Richtigkeit und Falschheit kriteriell von deren hedonischen Konsequenzen abhängig macht. Was die These zum Ausdruck bringt ist vielmehr eine Wohlfahrtstheorie: es handelt sich um einen wohlfahrtstheoretischen Hedonismus. Eine Wohlfahrtstheorie ist eine Theorie über das Wesen und die Quellen menschlichen Wohlergehens. Sie
untersucht, was es heißt, dass das Leben eines Menschen ein gutes Leben ist, oder was es
heißt, dass es einem Menschen wohl ergeht, und untersucht dann auch, was dazu erforderlich
ist, dass es einem Menschen wohl ergeht. Mit Hilfe des Begriffs der Wohlfahrt oder des
Wohlergehens können wir das Charakteristische von Mills Auffassung zunächst in zwei
verschiedene, aber aufeinander aufbauende Thesen zerlegen: (1) Wohlfahrt besteht in oder ist
identisch mit Glück, (2) Glück besteht in oder ist identisch mit Lust und dem Freisein von
Schmerz. Womit Mill sich in der ersten Hälfte des zweiten Kapitels beschäftigt ist nun etwas,
das wir dann in Form einer dritten These formulieren müssten. Er beschäftigt sich mit der
Analyse der Begriffe von Lust und Schmerz. Zur Verdeutlichung des utilitaristischen Standards müsse nämlich „insbesondere [etwas] darüber [gesagt werden], was die Begriffe Lust
und Unlust einschließen“ (Kap. 2, § 2, S. 13).
Wir sollten uns zunächst einmal einen Überblick über Mills Thesen zu diesem Punkt
verschaffen. Seine bekannteste These ist die, dass es nicht nur quantitative, sondern auch
qualitative Differenzen zwischen pleasures (Freuden) gibt. Seine zweite These ist die, dass
einige Freuden aufgrund ihrer Qualität einen höheren Wert haben als andere Freuden. Seine
dritte These ist die, dass die qualitativ höherwertigen Freuden diejenigen sind, die mit den
spezifisch menschlichen Fähigkeiten verbunden sind. In Mills eigener Darstellung werden
diese drei sachlich zu unterscheidenden Thesen nicht getrennt behandelt. Das liegt nicht
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
zuletzt daran, dass er seine These von den qualitativen Differenzen zwischen Freuden als
Antwort auf eine Kritik am Utilitarismus entwickelt – eine Kritik, die in der Polemik gipfelt,
der Utilitarismus enthalte eine niedrige Ansicht von den Zielen des Lebens, welche „nur der
Schweine würdig [ist]“ (Kap. 2, §3, S. 14). Um seine These von den qualitativen Differenzen
richtig zu verstehen, ist zunächst ein negativer Punkt – ein Punkt darüber, wie diese These
nicht zu verstehen ist – wichtig. Im § 4 spricht Mill von Quellen der Lust und dann davon,
dass „einige Arten der Freude wünschenswerter und wertvoller sind als andere“ (ebd.). Mit
dem Ausdruck „Arten von Freuden“ umschreibt Mill natürlich seinen Begriff qualitativ
verschiedener Freuden. Dass es bei Freuden eine qualitative Differenz gibt – und das ist der
hier wichtige negative Punkt – lässt sich aber nicht hinreichend durch den Verweis auf eine
Unterschiedlichkeit der Lustquellen begründen. Denn die Quellen der Lust können unterschiedlicher Natur sein, ohne dass die durch sie hervorgerufenen Freuden in qualitativer
Hinsicht verschieden wären. So hatte auch Bentham, für den pleasures und pains lediglich
quantitativ – im Hinblick auf ihre Intensität und im Hinblick auf ihre Dauer – unterschieden
waren, ohne sich dabei eines Widerspruchs schuldig zu machen durchaus von Sorten und
Arten von Freuden und Leiden gesprochen. (Vgl. Bentham, An Introduction, Kap. 4, S. 38
ff.). In seiner Auflistung finden sich etwa: Pleasures of sense, Pleasures of wealth, Pleasures
of skill, Pleasures of amity, Pleasures of a good name usw. Diese Auflistung unterscheidet
aber nicht zwischen Freuden für sich betrachtet, sondern zwischen Freuden im Hinblick auf
ihre Quellen oder Ursprünge. Für sich selbst – in Absehung von ihren Ursprüngen betrachtet –
gibt es in Bentham’scher Sicht aber keine Unterschiede zwischen Freuden außer den quantitativen der Intensität und der Dauer. Wenn daher Mill von Arten der Freude im Sinne qualitativ
unterschiedener Freuden redet, dann meint er damit nicht, dass die Empfindung der Freude
unterschiedliche Quellen haben kann, sondern dass Freuden als solche betrachtet qualitativ
voneinander verschieden sind. Dem steht nicht im Wege, dass die qualitativen Verschiedenheiten der Freuden für Mill offenbar mit den qualitativen Verschiedenheiten der Quellen
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
der Freude positiv korreliert ist. Welche Basis hat Mill für seine Behauptung der qualitativen
Verschiedenheit? Die Basis ist einfach introspektive Psychologie: Ob es qualitative Unterschiede zwischen Freuden gibt, lässt sich durch Introspektion und nur durch Introspektion –
durch eine aufmerksame Betrachtung der eigenen Erlebnisse – belegen. So betont Mill, wenn
es um die Bewertung von verschiedenen Freuden geht, dass nur derjenige eine Urteilskompetenz hat, welcher die in Frage stehenden Freuden erfahren hat. (Kap. 2, § 5, S. 15) Er
muss sie, mit anderen Worten, selbst erlebt haben und in diesem Sinne eine unmittelbare Bekanntschaft mit ihnen haben, um urteilen zu können, welche vorziehenswert ist. Mills These
von der qualitativen Verschiedenheit von Freuden lässt sich durch eine aufmerksam phänomenologische Betrachtung von Erlebnissen sicherlich belegen. Die Freude oder Lust, die man
bei einem kühlen Glas Bier empfindet, ist sicherlich nicht nur quantitativ von der Freude
verschieden, die man empfindet, wenn man ein Examen bestanden hat, und entsprechend sind
etwa auch der Schmerz einer Niederlage und der Schmerz einer Sehnenscheidenentzündung
nicht nur quantitativ – was ihre Intensität und Dauer betrifft – verschieden. Dass es qualitative
Unterschiede zwischen Freuden gibt, sagt uns aber noch nichts über die Natur dieser
Erlebnisse. Zwei Modelle oder Auffassungen können hier miteinander kontrastiert werden.
Der einen Auffassung nach sind Freuden Empfindungen, die sich von anderen Erlebnissen
durch die Art wie sie sich anfühlen unterschieden sind. Kombinieren wir diese Auffassung
mit der Mill’schen These von der qualitativen Verschiedenheit, so besteht die qualitative
Verschiedenheit von zwei Freuden darin, dass sie sich anders anfühlen auch wenn sie in
quantitativer Hinsicht gleichartig sind. Die andere Auffassung konstruiert Freude nicht als
eine distinkte Art von Empfindung, sondern als eine Einstellung zu den Empfindungsaspekten
von Erfahrungen. Die Freude an einem kühlen Glas Bier besteht dann nicht in einer beim
Trinken erlebten Empfindung, sondern darin, dass man die beim Trinken erlebten Empfindungen mag. Diese zweite Auffassung ist schwer mit der Mill’schen These von der qualitativen Verschiedenheit von Freuden zu kombinieren. Lesen wir das Einstellungsmodell in
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
Mill hinein, dann müsste seine Auffassung etwa die sein, dass zwei Freuden qualitativ
verschieden sind, wenn wir einer Sache, die wir mögen, einer anderen Sache, die wir mögen,
den Vorzug geben unabhängig von der quantitativen Differenz der jeweils beteiligten Empfindungen. Diese zweite Auffassung ist aber sicherlich nicht Mills Auffassung über die
Natur von pleasure und pain. Denn er unterscheidet deutlich zwischen der qualitativen
Differenz von Freuden und der Bewertung, der Wertschätzung oder dem Wert von Freuden.
Er ist also nicht bereit, Freuden mit Bewertungen oder wertenden Haltungen zu identifizieren,
noch durch Bewertungen zu erklären. Das geht aus der folgenden Textstelle hervor:
Fragt man mich nun, was ich meine, wenn ich von der unterschiedlichen Qualität von
Freuden spreche, und was eine Freude – bloß als Freude, unabhängig von ihrem
größeren Betrag – wertvoller als eine andere macht, so gibt es nur eine mögliche
Antwort: von zwei Freuden ist diejenige wünschenswerter, die von allen oder nahezu
allen, die beide erfahren haben [...] entschieden bevorzugt wird. (Kap. 2, § 5, S. 15 f.)
Hier ist deutlich, dass nach Mill’scher Auffassung Freuden Gegenstände der Bewertung sind,
die unabhängig von wertenden Einstellungen erlebt werden, so dass sich dann erst die Frage
stellt, welche von zwei qualitativ verschiedenen Freuden zu bevorzugen ist. Pleasure und
pain können wir daher sagen, sind für Mill Empfindungen, die durch ihre jeweilige
phänomenale Gefühlsqualitäten unterschieden sind. Pleasures selbst wiederum sind dann
ebenfalls qualitativ verschieden aufgrund der Art wie sie sich anfühlen. Es ist nicht so, dass
eine Empfindung als Freude oder Lust beschrieben werden kann, weil wir sie mögen, sondern
umgekehrt so, dass wir eine Empfindung mögen, weil sie eine Freude oder Lust ist. Dass
pleasure und pain für Mill Empfindungen und nicht Einstellungen lässt sich direkt durch den
Text unterstützen. In § 8 (S. 20) spricht er ausdrücklich von Schmerz- und von lustvollen
Empfindungen, und dann auch davon dass angenehme und unangenehme Empfindungen
untereinander sehr ungleichartig sind. Wenn diese Rekonstruktion richtig ist, dann haben wir
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
mit der Bestimmung von pleasure und pain als Empfindungen, die aufgrund ihrer phänomenalen Gefühlsqualitäten verschieden sind, den grundlegenden Aspekt der dritten Komponente
der Mill’schen Wohlfahrtstheorie festgestellt.
Die beiden weiteren Aspekte betreffen den Wert oder die Bewertung der hedonisch unterschiedlichen Freuden. Erinnern wir uns, dass die beiden Mills hier lauten, dass einige Freuden
aufgrund ihrer Qualität einen höheren Wert haben als andere Freuden, und dass die qualitativ
höherwertigen Freuden diejenigen sind, die mit den spezifisch menschlichen Fähigkeiten verbunden sind. Beide Thesen werden von Mill zusammen behandelt, da der Test, den er vorschlägt, um die eine These zu untermauern zugleich auch der Test ist, der nach seiner
Auffassung die andere These untermauert. Bevor wir darauf zu sprechen kommen, sind noch
einige Vorbemerkungen angebracht.
(1) Wenn Freuden qualitativ verschieden sind, dann ist damit zumindest die Möglichkeit
eröffnet, dass eine Freude wünschenswerter ist als eine andere aufgrund ihrer qualitativen
Verschiedenheit. Dass Freuden qualitativ verschieden sind, impliziert für sich genommen
jedoch weder, dass die Qualität einer Freude das einzige, noch dass es immer das vorrangige
Bewertungskriterium sein muss. Dass einige Freuden aufgrund ihrer Qualität anderen
vorgezogen werden können, ist jedoch keine Überraschung. Denn wenn es sich um
Erlebnisse mit qualitativ verschiedenen Gefühlstönungen handelt, dann wäre es sehr seltsam,
wenn diese Unterschiede keine Rolle für ihre komparative Bewertung spielen würden.
(2) Dass Freuden qualitativ verschieden sind, impliziert nicht, dass sie im Hinblick auf ihre
Rolle für das Wohlergehen eines Wohlfahrtssubjekts unvergleichbar sind. Unvergleichbarkeit
würde besagen, dass komparative Urteile der Form „A ist besser als B“ in Bezug auf Freuden
unmöglich sind. Qualitative Verschiedenheit schließt lediglich aus, dass komparative Urteile
in quantitativen Termen ausgedrückt werden können: Wir können zwar sagen, dass A besser
als B ist, nicht aber um wieviel A besser als B ist. Letzteres wäre nur möglich, wenn Freuden
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
wie bei Bentham lediglich quantitativ verschieden sind. Für Mill selbst ist dabei nicht nur die
Vergleichbarkeit unterschiedlicher Freuden unter dem Aspekt ihrer Qualität, sondern auch die
Vergleichbarkeit zwischen Qualität und Quantität unproblematisch. So spricht er (Kap. 2, §
10, S. 21) von einem „Maßstab, an dem Qualität gemessen und mit der Quantität verglichen
wird.“
(3) Angesichts von Mills These über den höheren Wert bestimmter Arten von Freuden darf
man nicht vergessen, dass aus seiner Sicht jede Freude intrinsisch wertvoll ist oder um ihrer
selbst willen erstrebenswert ist. Dass eine Freude A einer anderen Freude B vorzuziehen ist,
impliziert daher nicht, dass B nicht der Kategorie des intrinsisch Wertvollen angehört. Es
impliziert aber auch nicht, dass B eine Art von Erlebnis ist, das zu haben oder nicht zu haben
gleichgültig wäre.
Betrachten wir nach diesen Vorbemerkungen nun den von Mill vorgesehenen Test. Sowohl
dass einigen Freuden aufgrund ihrer Qualität und ungeachtet quantitativer Differenzen anderen vorzuziehen sind, als auch welche Freuden diese Superiorität genießen ist für Mill
aufgrund des Urteils kompetenter Urteilender zu entscheiden: „Gegen das Urteil der einzig
zuständigen Richter kann es, so meine ich, keine Berufung geben.“ (§ 8, S. 19). Hier ist
natürlich zu fragen, was dazu erforderlich ist, damit ein Richter über den Wert von Freuden
ein kompetenter Richter ist. Das hauptsächliche Erfordernis für Mill ist, dass der Richter die
zu beurteilenden Freuden erfahren hat: „Darüber, welche von zwei Befriedigungen es sich zu
verschaffen am meisten lohnt [...] kann nur das Urteil derer, die beide erfahren haben [...] als
endgültig gelten.“ (ebd.) Ein weiteres Erfordernis scheint für Mill darin zu liegen, dass die
Richter in ihrem Urteil in dem Sinne unvoreingenommen sind, dass sie sich nicht durch
Erwägungen über externe Faktoren beeinflussen lassen: „Aus Charakterschwäche“, schreibt
Mill, „entscheiden sich die Menschen sowohl bei der Wahl zwischen zwei sinnlichen wie
auch bei der Wahl zwischen sinnlichen und geistigen Freuden oft für das nähere Gut, obgleich
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
sie wissen, dass es einen geringeren Wert hat.“ (§ 7, S. 18). Zeitliche Nähe oder Ferne,
Aufwendigkeit oder Unaufwendigkeit, sowie auch die Wahrscheinlichkeit des Eintretens, sind
alles externe Faktoren, welche die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit der Realisierung
eines Zustands betreffen, gehören aber nicht zur Frage nach dem Wert des Zustands. Daher
sollte das Urteil über der Wert einer Freude nicht von diesen Faktoren abhängig gemacht
werden. Hochhängende Trauben zum Beispiel sind nicht deshalb, weil sie schwer zu
bekommen sind, auch sauer. Und ein zeitlich näherliegendes Gut ist nicht allein darum besser
als ein anderes nur deshalb weil es zeitlich näher liegt.
Die nächste Frage wäre, wie ein kompetenter Richter zu urteilen hat, wenn er über den in ihrer
Qualität begründeten Wert von Freuden beurteilt. Hier fordert Mills Test negativ, dass die zu
beurteilenden Freuden (a) als solche „unabhängig von ihrem größeren Betrag“ (§ 5, S. 15)
oder „ungeachtet ihrer Intensität“ (§ 8, S. 20) betrachtet werden müssen, und dass sie (b)
„ungeachtet des Gefühls, eine von beiden aus moralischen Gründen vorziehen zu müssen“ (§
5, S. 15 f.) bzw. „ungeachtet ihrer moralischen Eigenschaften und ihrer Folgen“ betrachtet
werden müssen (§8, S. 19). Das erste Erfordernis der Vernachlässigung quantitativer Aspekte
ergibt sich trivialer Weise daraus, dass eben in Frage steht, ob und wenn ja welche Freuden
allein aufgrund ihrer qualitativen Beschaffenheit vorziehenswert sind. Das zweite Erfordernis
ergibt sich daraus, dass eine Beurteilung glückskonstituierender Erlebnisse nach moralischen
Maßstäben erstens in eine Zirkularität führen würde (wir können, was für Glück relevant ist,
nicht auf der Basis moralischer Erwägungen bestimmen, wenn Glück die Basis der Moral sein
soll), und weil das zweitens auch sachlich falsch wäre, da eine nach moralischen Maßstäben
gute Lebensführung nicht auch eo ipso ein nach dem Maßstab des Wohlergehens gutes Leben
ist. [Was allerdings nicht einschließt, dass Glück und Tugendhaftigkeit einander ausschließen
würden!]
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
Außer diesen negativen Erfordernissen finden wir bei Mill aber auch eine positive
Charakterisierung der Art der Beurteilung. Um ein angemessenes Urteil über den Wert
qualitativ unterschiedlicher Freuden zu gewinnen, fordert uns Mill implizite auf, nicht
besondere Realisierungen hedonischer Zustände zu betrachten, sondern ganze Lebensweisen.
(Vgl. § 6 und § 8) Eine Lebensweise ist dabei durch eine charakteristische Orientierung an
bestimmten Arten von Freuden bestimmt und von anderen unterschieden. Der Test, ob eine
Freude der Art A einer Freude der Art B vorzuziehen ist, besteht für Mill daher letztlich darin,
ob ein kompetenter Richter eine an A orientierte Lebensweise einer an B orientierten
Lebensweise vorziehen würde. Und auf der Basis dieses Test ergibt sich nun für Mill, dass
einige Freuden aufgrund ihrer Qualität anderen vorzuziehen sind, und dass es die geistigen
oder intellektuellen Freuden sind, die den sinnlichen vorzuziehen sind.
Das erste Ergebnis ergibt sich aus einem recht einfachen Grund – der in der Tat so einfach ist,
dass Mill sich darüber nicht äußert. Der Grund ist der, dass auch kompetente Richter
Präferenzen haben, so dass es ihnen wie auch jedem nicht kompetenten Richter nicht
gleichgültig sein kann, in welcher Weise er sein Leben lebt. Das zweite Ergebnis ergibt sich
aus einem fast ebenso einfachen Grund. Ob geistige Freuden sinnlichen vorzuziehen sind, soll
der kompetente Richter anhand der Frage entscheiden, ob er bereit wäre, eine an geistigen
Freuden orientierte Lebensweise gegen eine ausschließlich an sinnlichen Freuden orientierte
einzutauschen.
Bedenken wir nun, dass von einem kompetenten Richter verlangt ist, dass er beide Arten von
Freuden kennt und erlebt hat. Geistige Freuden sind nun solche, die aufs engste mit der
Entwicklung und der Ausübung intellektueller Fähigkeiten verbunden sind. Eine ernsthafte
Bereitschaft zu haben, eine ausschließlich an sinnlichen Freuden orientierte Lebensweise zu
wählen, hieße nun aber nichts anderes als auf die Entwicklung und Ausübung geistiger Fähigkeiten zu verzichten. Und das hieße, dass der kompetente Richter auf etwas verzichten
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
müsste, was seine eigene Identität ausmacht – er müsste darauf verzichten, der zu sein, der er
ist. Ich zitiere Mill:
Nur wenige Menschen würden darein einwilligen, sich in eines der niederen Tiere
verwandeln zu lassen, wenn man ihnen verspräche, dass sie die Befriedigungen des
Tiers im vollen Umfange auskosten dürften. Kein intelligenter Mensch möchte ein Narr,
kein gebildeter Mensch ein Dummkopf, keiner, der feinfühlig und gewissenhaft ist,
selbstsüchtig und niederträchtig sein – auch wenn sie überzeugt wären, dass der Narr,
der Dummkopf oder der Schurke mit seinem Schicksal zufriedener ist als sie mit dem
ihren. (§ 6, S. 16)
Wie sind Mills Thesen zu bewerten? Um das zu entscheiden, müssen wir uns anschauen,
welche Implikationen sie haben. Diese sind, wie wir gleich sehen werden, durchaus nicht
eindeutig. Zunächst müssen wir uns daran erinnern, dass Mill eine Wohlfahrtstheorie entwirft
– eine Theorie, die uns sagen soll, worin das Wohlergehen eines Wohlfahrtssubjekts besteht;
und diese Theorie sollte uns eine Antwort darauf geben, was ein Leben besser und was ein
Leben schlechter macht. Die Frage ist nun, ob Mill uns mit seinen Thesen darüber schon
hinreichend Auskunft gibt: Ist eine Reflexion über den Wert unterschiedlicher Lebensweisen
überhaupt geeignet, um darüber urteilen zu können, ob es einer Person gut oder schlecht geht?
Kann eine Reflexion über Lebensweisen eine hinreichende Basis für interpersonelle Vergleiche sein, bei denen es darum geht, ob es einer Person besser oder schlechter geht als einer
anderen? Kann schließlich eine Reflexion über Lebensweisen eine hinreichende Basis für
intrapersonelle Vergleiche sein, bei denen es darum geht, ob der Verlauf des Lebens einer
Person eine Verbesserung oder Verschlechterung darstellt? Hilft uns, allgemein gesagt, die
kontrastive Bewertung von Lebensweisen bei einer Bewertung von Leben?
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
Das wäre der Fall, wenn die These von der Superiorität geistiger Freuden eine These darüber
wäre, wie wir unser Leben gestalten müssen, damit wir glücklich sind. Aber diese Lesart von
Mills Superioritätsthese würde zu einer vollkommen unplausiblen Auffassung führen. Wir
müssten dann nämlich sagen, dass ein kompetent Urteilender bei jeder Gelegenheit, bei der er
vor der Wahl zwischen einer qualitativ höheren und einer qualitativ niedrigeren Freude steht,
die höhere vorzieht. Diese Auffassung würde besagen, dass geistigen Freuden eine absolute
Priorität gegenüber anderen Freuden haben. Aber das ist klarerweise absurd. Hätten geistige
Freuden eine absolute Priorität, dann müssten wir sagen, dass eine geistige Freude, und sei sie
noch so geringen Ausmaßes, allein aufgrund ihrer Qualität jeder anderen Freude, und hätte sie
ein noch so großes Ausmaß, vorzuziehen ist. Und entsprechend müsste dann auch gelten, dass
eine sinnliche Unlust jeder geistigen Unlust vorzuziehen ist selbst wenn die geistige Unlust
von sehr geringem, die sinnliche Unlust aber von erheblichem Ausmaß ist. Diese Auffassungen scheint aber auch Mill selbst nicht unterstützen zu wollen. In § 10 (S. 21) schreibt
er: „Nach dem Prinzip des größten Glücks ist [...] der letzte Zweck, bezüglich dessen und um
dessentwillen alles andere wünschenswert ist [...] ein Leben, das so weit wie möglich frei von
Unlust und in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht so reich wie möglich an Lust ist.“
Diese Beschreibung impliziert offenbar, dass qualitative Differenzen keine absolute Priorität
bei der Wahl eines Lebens genießen können. So fährt Mill an der besagten Stelle auch fort,
indem er von einem Maßstab spricht, „an dem Qualität gemessen und mit der Quantität
verglichen wird“ – was offenbar impliziert, dass das größere Ausmaß einer Freude ein guter
Grund sein kann, sie einer anderen vorzuziehen, die von höherer Qualität ist.
Der sachlich wichtige Punkt ist hier der folgende. Wir müssen unterscheiden zwischen der
Superioritätsthese und einer Prioritätsthese.
Die Superioritätsthese besagt: Der qualitative Unterschied zwischen zwei Freuden A und B
kann ein Grund sein die eine der anderen vorzuziehen, so dass A höherwertig ist als B, wenn
der qualitative Unterschied zwischen beiden dafür spricht A zu wählen.
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
Die Prioritätsthese würde etwas sehr viel stärkeres besagen: Wenn A (qualitativ)
höherwertig ist als B, dann ist A gegenüber B zu präferieren, egal was sonst noch der Fall ist.
Es ist klar, dass die Superioritätsthese die Prioritätsthese nicht impliziert. Das sieht man
bereits daran, dass diese Prioritätsthese nur aufgrund einer Zusatzannahme etabliert werden
kann. Die Zusatzannahme besagt, dass bei einer Entscheidung darüber, welche von zwei
Freuden vorzuziehen ist, zunächst einmal nur die qualitativen Differenzen beachtet werden
müssen. Das heißt: Quantitative Differenzen können erst ins Spiel gebracht werden, wenn auf
der Ebene der Qualität kein Unterschied besteht. Kurz, die Zusatzannahme, die zur Etablierung der Prioritätsthese vonnöten ist, ist die, dass Qualität immer vor Quantität geht.
Gerade diese Zusatzannahme wird von Mill aber nicht unterstützt. Im Gegenteil. Implizite
lehnt er eine solche Sichtweise ab, wie wir gerade gesehen haben, denn für ihn kann ein größeres Ausmaß an Freude ihre qualitative Unterlegenheit aufwiegen. Wir sollten ihm die
Prioritätsthese also nicht zuschreiben.
Das ist ein erster Hinweis darauf, dass die Reflexion über Lebensweisen uns zwar Auskunft
über die Bedeutsamkeit qualitativ unterschiedlicher Freuden gibt, damit aber durchaus keine
Auskunft über die Art geben kann, wie eine rationale Person ihr eigenes Leben gestalten
muss, damit es ihr gut geht. Das Problem, das hier im Hintergrund steht, ist, dass der bei der
Reflexion über Lebensweisen in Anschlag gebrachte Test – wärest Du bereit diese Art von
Freuden für jene Art aufzugeben – nichts darüber impliziert, was man bei einer bestimmten
Gelegenheit wählen würde. Gefragt, ob ich bereit wäre, die Philosophie zugunsten einer
anderen Aktivität wie etwa Radfahren aufzugeben, würde ich sagen: Nein. Aber das impliziert
nicht, dass ich bei jeder Gelegenheit mich lieber mit Philosophie beschäftige als Rad zu
fahren. Es gibt vieles, was ich für die Möglichkeit mich mit Philosophie zu beschäftigen
aufgeben würde, aber dennoch gibt es viele Situationen, in denen ich andere Dinge einer
philosophischen Beschäftigung klarerweise vorziehe. Was ich bereit wäre aufzugeben, ist also
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
kein Test, durch den entschieden werden könnte, wie ich mein Leben gestalten muss, damit es
mir gut geht.
Ein weiteres Problem, an dem sich der begrenzte Wert von Mills Tests zeigt, besteht darin,
dass sehr viel von dem Umfang der Frage, was man bereit ist für was aufzugeben, abhängt.
Die Frage, ob man bereit wäre, die geistige Freude der Lektüre eines (guten) philosophischen
Buchs zugunsten der sinnlichen Freude des Schwimmens aufzugeben, führt sicherlich zu
einem ganz anderen Ergebnis als die Frage, ob man bereit ist, jene geistige Freude zugunsten
aller sinnlichen Freuden aufzugeben. Ein kompetenter Richter könnte, wenn ihm die letztere
Frage gestellt wird, durchaus eine negative Antwort geben. Das allerdings würde uns dann
nicht zeigen, dass eine ausschließlich an sinnlichen Freuden orientierte Lebensweise einer an
geistigen orientierten vorzuziehen ist. Es würde uns zeigen, dass ein Leben ohne jede
sinnliche Freude ein depraviertes Leben ist.
Mills Test mag uns also zwar zeigen, dass Utilitarismus keineswegs eine Lehre ist, die nur der
Schweine würdig ist. Was er nicht zeigt ist jedoch, dass geistige Freuden in dem Sinne höher
sind, dass das Glück allein von dem Ausmaß der Realisierung geistiger Freuden abhängt. Eine
geistige Freude kann aus Gründen ihrer Qualität vor anderen Freuden bevorzugt werden, sie
muss es aber nicht. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass Mill durchaus nicht
die Auffassung vertritt, dass ein Mangel an geistigen Freuden die Quelle allen Unglücks ist.
Denn in § 14 finden wir eine Auflistung der größten Übel des Lebens und diese sind:
körperliches und seelisches Leid, Not, Krankheit, Herzlosigkeit, Unwürdigkeit und der vorzeitige Verlust derer, die wir lieben.
Damit müssen wir noch auf die These zu sprechen kommen, ob sich der Unterschied
zwischen geistigen und sinnlichen Freuden mit dem von höherstufigen und niederstufigen
deckt. Hat Mill also Recht, dass die mit den spezifisch menschlichen Fähigkeiten
verbundenen Freuden die höheren sind? Der Test: Was ich bereit wäre aufzugeben, etabliert
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
diese These nicht. Denn ein Leben ohne sinnliche Freuden ist klarerweise ein depraviertes
Leben. Der Punkt ist hier der, dass geistige Freuden, einen Mangel an sinnlichen nicht
kompensieren können. Wer zum Beispiel keine Geschmacksempfindung hat, ist schlecht dran,
auch wenn er oder sie sich am Lesen von Büchern erfreut. Wenn aber keine Kompensation
stattfindet, kann man dann sagen, dass geistige Freuden zu haben ipso facto mehr zählt als
sinnliche Freuden zu haben? Das zieht Mills These zumindest in Zweifel. Eine bessere
Strategie ist aber die Suche nach Gegenbeispielen. Denken wir an die Aktivität des Spielens –
sagen wir das Spielen von Kindern oder das Spielen von Erwachsenen mit Kindern. Das ist
zweifellos keine spezifisch menschliche Aktivität; und es bedarf auch keine spezifisch
menschlichen Fertigkeiten, keiner höheren intellektuellen Fähigkeiten, um zu Spielen.
Trotzdem scheint es klar zu sein, dass die Freude am Spielen eine Qualität besitzt, aufgrund
derer sie vorziehenswert ist. Wenn das richtig ist, dann lässt sich nicht sagen, dass die
höherwertigen Freuden mit den geistigen Freuden zusammenfallen.
Fassen wir das bisherige zusammen, so ergibt sich das folgende Bild: Mill weist uns, wie ich
meine, zurecht darauf hin, dass Freuden nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ
verschieden sind. Damit ist die Möglichkeit eröffnet, dass eine rationale, um ihr eigenes
Wohlergehen besorgte Person, sich aus Gründen der qualitativen Beschaffenheit für eine
Freude entscheidet. Wird eine Freude aufgrund ihrer qualitativen Beschaffenheit einer
anderen vorgezogen (oder ist ihre qualitative Beschaffenheit ein Grund, sie vorzuziehen),
dann ist diese Freude höherwertig als eine andere. Auch das scheint mir plausibel und
unproblematisch zu sein: Mills zweite These kann man also unterstützen. Diese These
impliziert jedoch nicht, dass eine höherwertige Freude immer vorziehenswert ist oder dass
eine Freude die einen höheren Wert hat als eine andere dieser gegenüber Priorität genießt.
Diese Behauptung wird von einigen Überlegungen Mills zwar nahegelegt, passt aber mit
PD Dr. A. Lohmar, VL SS 06, Utilitarismus
anderen zentralen Thesen nicht zusammen. Dazu gehört Mills Auffassung, dass die Quantität
von Freuden keine untergeordnete Rolle spielt. Da die Prioritätsthese auch sachlich nicht
haltbar ist, sollte man sie Mill nicht zuschreiben. Außerdem gilt, dass auch ein kompetenter
Richter nicht bei jeder Gelegenheit eine höherwertige Freude einer anderen vorziehen wird.
Auch ein kompetenter Richter wird urteilen, dass ein Leben ohne sinnliche Freuden ein
depraviertes Leben ist – selbst wenn diese nicht so wertvoll sein sollten wie geistige Freuden.
Schließlich haben wir gesehen, dass Mills Identifikation von höherstufigen mit geistigen
Freuden zumindest extrem zweifelhaft ist. Das besagt nicht, dass geistige Freuden nicht zu
den höherwertigen gehören. Was mir unplausibel erscheint ist lediglich die These, dass die
Klasse der höherwertigen mit der Klasse der geistigen Freuden zusammenfällt. Diese
überaus anspruchsvolle These von Mill ist sicherlich seinem Bemühen geschuldet, den
Kritikern des Utilitarismus zu verdeutlichen, dass der Utilitarismus keineswegs eine nur der
Schweine würdige Theorie ist. Um das zu zeigen genügt es aber schon auf die Tatsache
hinzuweisen, dass auch geistige Freuden aufgrund ihrer besonderen Qualität zählen.
Festzuhalten bleibt aber, dass Mills fundamentale These die des Hedonismus ist.
Herunterladen