20 GRUNDBEGRIFFE DER POLITISCHEN THEORIE und arbeiten soll. Wenn jeder das tut, was er am besten kann, dementsprechend handelt und lebt, dann führt er ein gerechtes Leben und trägt somit zur gerechten Gesellschaft bei. Definition Die drei Formen der Polis • Ur-Polis bzw. Schweinestadt: Sie stellt eine primitive Stadt dar, in der ein einfaches aber rechtes Leben möglich ist. Die Grundbedürfnisse der Einwohner können befriedigt werden, jedoch sind Kunst und Kultur nicht fortgeschritten, Gerechtigkeit kann es hier noch nicht geben. • Üppige Polis: In ihr gibt es Gerechtigkeit wie auch Ungerechtigkeit. Kultur und Kunst sind weit fortgeschritten. Um ihren hohen Lebensstandard zu finanzieren, muss die üppige Polis Krieg führen; er verdrängt die Gerechtigkeit. Der Ursprung des Krieges ist gefunden: die pleonexie, das unbegrenzte Streben nach Gütern. • Ideale Polis: Sie hat die Harmonie der drei Seelenteile erreicht, der Vernunft, des Mutes und der Selbstbeherrschung. Dieser Dreiteilung entspricht die Ordnung der Polis in Herrscher, Wächter und das Volk. Dies hat Gerechtigkeit zur Folge, da in dieser Stadt »jeder das Seine« tut. Gerechtigkeit und Sittenlehre Platons Konzept der Gerechtigkeit ist eng verbunden mit seiner Sittenlehre. Gerechtigkeit ist der höchste anzustrebende Zustand, sie ist eine der vier Kardinaltugenden, jedoch überragt sie die drei anderen, da sie deren Harmonie darstellt. Die drei anderen Kardinaltugenden sind die Weisheit, die Tapferkeit und die Besonnenheit. Diese entsprechen den drei Seelenteilen: der Vernunft, dem Mut und der Selbstbeherrschung, die wiederum für die drei Teile der idealen Polis stehen: den Herrscher, die Wächter und das Volk. Nun wird auch deutlich, wie »das Seinige tun« jeweils aussieht: der Herrscher herrscht mit Hilfe der Vernunft. Der Wächter beschützt die Stadt durch seinen Mut. Das Volk arbeitet, d. h. produziert, was die Stadt zum Leben benötigt, und hält durch seine Selbstbeherrschung Maß, sodass es nicht wie in der »üppigen Polis« zu einem unbegrenzten Streben nach Gütern kommt und somit zu Krieg. GRUNDBEGRIFFE DER POLITISCHEN 21 IDEENGESCHICHTE Die Polis wird von Platon als ein vergrößertes Abbild der drei menschlichen Seelenteile dargestellt. Sind die drei Teile des Staates alle in vollendeter Übereinstimmung organisiert, ist ein gerechter Staat die Folge, in dem das Ziel der Gerechtigkeit für alle Einwohner erreicht ist (ebd., 441e–443c). Insofern kann man feststellen, dass nur harmonische Menschen einen harmonischen Staat ermöglichen. Gemeinwohlorientierung Dieses Ziel macht deutlich, dass sich Platons Herrschaftsentwurf am Gemeinwohl orientiert. Im Gegensatz zu dem heute weit verbreiteten Gerechtigkeitsverständnis, das seinen Maßstab an der gerechten Verteilung des materiellen Wohlstands hat, macht Platon einen anderen Maßstab geltend: die Möglichkeit für jeden Bürger der Polis, den eigenen Anlagen und Neigungen gemäß zu leben. Hier wird Gerechtigkeit und damit auch das Glück von materiellen Erwägungen abgekoppelt. Gerecht ist der Einzelne und damit auch das Ganze (die Polis), wenn jeder das Seine tut (ebd., 433a). Somit wird aus der Möglichkeit eigentlich eine Pflicht, das jeweils »Seinige« zu tun. Platon deutet Gerechtigkeit nicht nur als Verhältnis zu anderen, sondern auch als ein Verhältnis zu sich selbst. Nur wenn die Menschen sich selbst gegenüber gerecht sind, können sie es auch gegenüber ihren Mitmenschen sein. Nur dadurch, dass jeder seinen Fähigkeiten und seiner Aufgabe gemäß handelt, wird die Ordnung der Polis aufrechterhalten. Gleichzeitig betont Platon am Ende der »Politeia«, dass das gerechte Leben immer auch das gute Leben ist. Somit wird erkennbar, dass bei Platon die personale und die politische Gerechtigkeit noch unmittelbar miteinander verbunden sind. Zusammenfassung Platons Gerechtigkeitskonzeption Gerechtigkeit ist ein Gut, das man um seiner selbst Willen liebt und das nicht Mittel zum Zweck ist. Sie ist die höchste Kardinaltugend. Die Seele des Einzelnen ist wie die ideale Polis in drei Teile gegliedert. Nur wenn diese drei Teile – im Individuum wie in der Polis – je das Ihre tun, ist ein Zustand der Gerechtigkeit vorstellbar. Gerechtigkeit bedeutet für jeden Bürger der platonischen Polis die Pflicht, den eigenen Anlagen und Neigungen gemäß zu leben. Hier Maßstab der Gerechtigkeit Gerechtigkeit als Verhältnis zu sich selbst 22 GRUNDBEGRIFFE DER POLITISCHEN THEORIE wird Gerechtigkeit und damit auch das Glück von materiellen Erwägungen abgekoppelt. Nur wenn die Menschen sich selbst gegenüber gerecht sind und gemäß ihrer Talente leben sowie ein harmonisches Miteinander ihrer drei Seelenteile (Vernunft, Mut und Selbstbeherrschung) besteht, können sie es auch gegenüber ihren Mitmenschen sein. Daraus folgt die unmittelbare Verbundenheit von personaler und politischer Gerechtigkeit. 2.1.1.2 | Utilitarismus Definition Der Utilitarismus Utilitarismus ist der Sammelbegriff für die Philosophie aller Utilitaristen: u. a. Jeremy Bentham (1748–1832), John Stuart Mill (1803–1873) und Henry Sidgwick (1838–1900). Die Grundfrage dieser Philosophie ist: »Was ist moralisch verbindlich und wie kann man es rational begründen?« Um hierauf eine Antwort zu finden, stellt der Utilitarismus ein Kriterium auf, mit dem sich Handlungen, Entscheidungen, Institutionen etc. als moralisch richtig bzw. falsch beurteilen lassen. Dieses Kriterium ist das Utilitätsprinzip, d. h. das Nützlichkeitsprinzip. Das Nützlichkeitsprinzip Der bekannteste Vertreter des Utilitarismus ist John Stuart Mill (→ vgl. auch Kap. 2.1.2.2), weswegen hier vor allem sein Gerechtigkeitsbegriff dargestellt wird. Der Utilitarismus ist der hedonistischen Auffassung, dass der Begriff »Glück« durch den der »Lust« definiert werden muss. Das zentrale Prinzip des Utilitarismus ist das Nützlichkeitsprinzip. Es wird wie folgt definiert: »Die Auffassung, für die die Nützlichkeit oder das Prinzip des größten Glücks die Grundlage der Moral ist, besagt, dass Handlungen insoweit und in dem Maße moralisch richtig sind, als sie die Tendenz haben, Glück zu befördern, und insoweit moralisch falsch, als sie die Tendenz haben, das Gegenteil von Glück zu bewirken« (Mill 1976, 13). Es ist hier zu betonen, dass die Utilitaristen unter Glück Lust und die Abwesenheit von Unlust verstehen. GRUNDBEGRIFFE DER POLITISCHEN 23 IDEENGESCHICHTE Definition Das Nützlichkeitsprinzip Das Nützlichkeitsprinzip ist das zentrale Prinzip des Utilitarismus. Es besagt, dass immer diejenige Handlung ausgewählt werden soll, die den größtmöglichen Nutzen zur Folge hat. Das Ergebnis dieser Handlungswahl ist, dass das Glück, das diesem Handeln entspringt, nicht nur dem Handelnden zugute kommt, sondern allen, die von diesem Handeln betroffen sind. Daraus folgt, dass alle Gesetze, die diesem Prinzip gemäß erlassen werden, immer sowohl die Interessen des Einzelnen wie die aller berücksichtigen müssen. Das größtmögliche Glück aller Das »größte Glück der größten Zahl« ist für die Utilitaristen das oberste Bewertungsprinzip von Handlungen und Institutionen (Bentham). Dabei ist das »Glück, das den utilitaristischen Maßstab des moralisch richtigen Handelns darstellt, […] nicht das Glück des Handelnden selbst, sondern das Glück aller Betroffenen« (ebd., 30). Insofern müssen Gesetze immer die Interessen des Einzelnen und die Interessen aller so weit wie möglich in Einklang bringen. Der nach utilitaristischen Gesichtspunkten organisierte Staat muss seine Bewohner so erziehen, dass sie diese utilitaristische Maxime immer befolgen und das persönliche Glück immer mit dem Wohl aller in Beziehung setzen. Dies bedeutet aber nicht, dass alle Handlungen der Menschen immer darauf abzielen müssen, allen Menschen Gutes zu tun. Die Utilitaristen gehen davon aus, dass auch die Handlungen, die nur aus wohlverstandenem Eigeninteresse durchgeführt werden, der Allgemeinheit zugute kommen. Als »konsequentialistische Ethik« bemisst der Utilitarismus Handlungen immer nur nach ihren Folgen und nicht daran, ob die Handlung selbst gerecht oder ungerecht ist. Die Handlung eines Diebes wäre beispielsweise dann gerecht, wenn er seine Beute so verteilen würde, dass die Folgen des Diebstahls insgesamt einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen zeitigen würde. Vier Teile des Nützlichkeitsprinzips Mill ist auch der Auffassung, dass der moralische Wert von Handlungen und Handlungsregeln immer argumentativ, d. h. ohne Das Glück aller als Maßstab des Utilitarismus Konsequentialistische Ethik 24 GRUNDBEGRIFFE Glück und Gerechtigkeit Abb. 2 | Die vier Teile des Nützlichkeitsprinzips DER POLITISCHEN THEORIE Bezug auf einen moralischen Instinkt, entschieden werden muss. Dieser Bedingung entspricht das oben zitierte Nützlichkeitsprinzip, das man in vier Teilprinzipien gliedern kann (s. Abb. 2). Diese vier Teilprinzipien haben keine Rangfolge. Zusammengefasst kann man formulieren: Man soll so handeln, dass die Folgen des eigenen Handelns für alle Betroffenen optimal sind. Inwiefern ist dies nun hilfreich bzw. zielführend bei der Beschreibung der Gerechtigkeitskonzeption des Utilitarismus? Der ethische Hedonismus der Utilitaristen zielt darauf, das kollektive Glück als obersten Zweck menschlichen Handelns zu etablieren. Daher ist es gleichzeitig das einzige Kriterium, das moralisches Handeln und dessen Regeln leitet oder bestimmt (Schumacher 1994, 118). Im 5. Kapitel von »Der Utilitarismus« diskutiert Mill, welche Beziehung zwischen der Nützlichkeit und der Gerechtigkeit besteht. Er beschreibt fünf Arten von (Un-)Gerechtigkeit und stellt fest, dass aus dieser Unübersichtlichkeit nur der Utilitarismus helfen kann, denn dieser gründet den Begriff der Gerechtigkeit alleine auf dem Prinzip der Nützlichkeit (Mill 1976, 83–102). Mill geht davon aus, dass jeder Mensch in der Lage ist, sein »wohlverstandenes Eigeninteresse« zu erkennen (ebd., 92). Dieses besteht darin, dass jeder Einzelne ein Interesse daran hat, dass kollektive Glück der Gesellschaft zu erhöhen, weil dies letztlich seine eigenen Interessen fördert und damit sein Glück zunimmt. Die Einsicht in das »wohlverstandene Eigeninteresse« führt automatisch auch zu der Erkenntnis bei allen Menschen, dass Individual- und 1. Folgen- bzw. Konsequenzprinzip 2. Nutzen- bzw. Utilitätsprinzip 3. Hedonistisches Prinzip 4. Universalistisches Prinzip Alle Handlungen und Handlungsregeln werden nach ihren Folgen bzw. Konsequenzen beurteilt. Gibt den Teil der Handlung an, dessen Folgen in die moralische Beurteilung einfließen. Hier geht es um den Nutzen der Folgen einer Handlung. Es bestimmt, worin der Nutzen besteht, aufgrund dessen der moralische Wert der Handlungen und Handlungsregeln festgelegt wird. Für Bentham und Mill gilt, dass die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse und Interessen der höchste Wert ist. Dieser Nutzen ist das menschliche Glück. Der Nutzen einer Handlung darf nicht alleine auf das handelnde Subjekt bezogen werden, sondern muss für alle von ihr betroffenen Subjekte gelten (vgl. Höffe 1992, 9 ff.).