„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob“ Predigt anlässlich der Gemeindeversammlung am 1. Februar 2015 Liebe Gemeinde, in der Vorbereitung auf diesen Sonntag ist mir bewusst geworden, dass heute ein besonderes Datum ist: für mich persönlich, aber auch für die Gemeinde. Genau heute vor 20 Jahren, am 1. Februar 1995, habe ich nämlich meinen Dienst hier aufgenommen. 20 Jahre bin ich jetzt also schon hier. Bei diesem Gedanken bin ich ein bisschen zusammen gezuckt: 20 Jahre, das ist schon eine ziemlich lange Zeit. Zu lange vielleicht? Zum vierten Mal bereite ich hier nun schon eine Kirchenvorstandswahl mit. Sollte ich mich nicht vielleicht nach einer neuen Stelle, und die Gemeinde nach einem neuen Pfarrer umschauen, der frischen Schwung in die Gemeinde bringt? Schleift sich nach so langer Zeit nicht doch zu viel ab? Kennt man sich nicht längst viel zu gut, weiß immer sofort schon, wie der andere tickt? Das sind so ein paar Fragen, die ich mir gestellt habe und stelle. Wenn ich so zurückschaue auf diese 20 Jahre, dann denke ich allerdings auch: langweilig war es selten. Wie viel haben wir zusammen erlebt: die vielen Ausstellungen und Feiern früher im Café Komm, oder die Jahre, in denen die Kirchenmusik unter Frau Hess eine größere Rolle gespielt hat. Was haben wir miteinander gekämpft und durchgefochten: ich denke an die schwere Krise, die wir vor über 10 Jahren im Kindergarten hatten, und an den jahrelangen Kampf um den Erhalt der Kirche. Und wie viel hat sich auch geändert in der Gemeinde: neue Themen sind dazu gekommen, die Stadtteilarbeit, interreligiöse und interkulturelle Arbeit, die Flüchtlingsarbeit, und jetzt zuletzt der Neubau mit dem erweiterten Kindergarten, mit dem wieder eine neue Epoche eingeleitet wird. Wenn ich das alles an mir vorbei ziehen lasse, dann denke ich: Es gab eigentlich keine Zeit, sich auf die faule Haut zu legen. Und es gab selten die Versuchung, nur noch im gewohnten Trott dahin zu traben. Im Gegenteil: eigentlich habe ich mich als Pfarrer alle paar Jahre neu erfinden müssen, und als Kirchenvorstand und als Gemeinde waren wir immer wieder mit neuen Aufgaben und Herausforderungen konfrontiert. Beim Graben in meinen Unterlagen habe ich ein Bild wieder gefunden, das ich damals meinem ersten Gottesdienst in der Bonhoeffergemeinde zugrunde gelegt hatte. Es stammt aus Lateinamerika und zeigt Menschen einer dortigen Basisgemeinde beim Diskutieren über die Bibel, beim Singen, beim Arbeiten und beim Abendmahlfeiern. Es wirkt vielleicht etwas jugendbewegt, aber damals, vor 20 Jahren, hat sich in diesem Bild meine Vision von Gemeinde, von Kirche widergespiegelt. Was mir daran gefallen hat und eigentlich auch noch heute gefällt: dass hier Menschen in kleinen Grüppchen mit unterschiedlichen Tätigkeiten beschäftigt sind, und trotzdem spürt man sofort, dass sie zusammen gehören. Man merkt einfach, dass sie durch einen gemeinsamen Geist miteinander verbunden sind. Und man merkt, dass sie mit Begeisterung bei der Sache sind. Warum habe ich das Bild wieder vorgeholt? Ich glaube, weil ich mir Gemeinde auch heute immer noch so wünsche. So lebendig wie auf diesem Bild soll es bei uns zugehen. So, mit ganzem Herzen, sollten wir bei der Sache sein, wenn wir in der Gemeinde zusammen kommen. So kraftvoll, wie es hier der Fall zu sein scheint, sollten unsere Lieder klingen. Die Frage ist: Wie kann ich mich selbst, wie kann ich andere, wie können wir uns gegenseitig motivieren, so mit Freude und Begeisterung unser Zusammenleben zu gestalten? Wie können wir gegensteuern, wenn uns die Puste ausgeht, wenn wir Gemeinde nur noch verwalten, oder anfangen uns gegenseitig auf den Wecker zu gehen, oder uns nur noch um uns selber drehen? Motivation – das ist es, was wir für unsere Arbeit immer wieder ganz dringend brauchen, auch hier in der Gemeinde. Gerade jetzt, wo es darum geht, einen neuen Kirchenvorstand zu wählen. Die neuen Kandidatinnen und Kandidaten, die wir erfreulicher Weise gefunden haben, müssen die Motivation verspüren, sich mit neuen Ideen einzubringen. Diejenigen, die dem KV schon länger angehört haben und ebenfalls erfreulicher Weise wieder kandidieren, müssen motiviert sein weiter zu machen. Und ich als Pfarrer, der jetzt schon 20 Jahre in der Gemeinde ist, muss mich auch wieder neu motivieren, um euch, der Gemeinde, Lust zu machen, weiter gerne hierher zu kommen und aktiv mitzuwirken. Woher können wir alle gemeinsam unsere Motivation beziehen, um weiterhin lebendige Gemeinde zu sein – unter schwieriger werdenden Bedingungen? Eigentlich ganz einfach: indem wir uns auf unsere Botschaft besinnen, die uns an unseren Auftrag als Kirche erinnert. Und da ist uns für dieses Jahr ein gutes Wort mit auf den Weg gegeben: ein Wort, das in meinen Augen tatsächlich geeignet ist, uns zu stärken und neuen Schwung zu geben - als Einzelnen und als Gemeinde: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob!“ So heißt der Bibelvers aus dem Römerbrief des Paulus, der für 2015 ausgelost worden ist. Ich denke, damit können wir wohl alle einiges anfangen: Da ist als erstes die Aufforderung, dass wir uns gegenseitig annehmen sollen, so unterschiedlich wir auch sein mögen. Und im gleichen Atemzug damit verbunden die Aussage, dass Christus uns angenommen hat, in unserer Unterschiedlichkeit. Das setzt Maßstäbe für den Umgang miteinander: in der Gemeinde, aber auch in der Gesellschaft! Es geht darum, dieses wertschätzende Miteinander, zu dem uns die Jahreslosung aufruft, im Alltag zu leben – auch wenn es manchmal vielleicht schwer fällt. Nicht Abschottung ist angesagt, sondern aufeinander zugehen. Aufeinanderzugehen innerhalb der Gemeinde: auch wenn ich mir manchmal schwer tue mit dem einen oder der anderen - die Gemeinde soll ein Ort sein, wo Menschen sich angenommen fühlen, so wie sie sind. Wo ich lerne, andere gelten lassen, auch wenn sie anders ticken, anders denken, anders empfinden als ich. Denn gerade das macht Kirche so spannend: dass hier so viele Menschen aus völlig unterschiedlichen Bereichen und mit unterschiedlichen Erfahrungen zusammen treffen. Einander annehmen, aufeinanderzugehen: das wird wichtig sein ganz konkret auch im Blick auf unsere neuen Räume und auf den erweiterten Kindergarten. Dass alle Menschen, die dort aus- und eingehen, sich in den neuen Räumen willkommen fühlen, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Kultur oder Religion so wie es uns die Kinder im Grunde ja längst vorleben… – dafür zu sorgen, dass wird eine unserer vorrangigen Aufgaben sein in den nächsten Jahren. Und ich denke, das ist eine schöne und spannende Aufgabe. Einander annehmen, aufeinander zugehen: das hat uns schließlich auch etwas zu sagen im Blick auf die Diskussionen, die es in den letzten Wochen um Pegida gegeben hat und immer noch gibt. Die Jahreslosung leitet uns auch dazu an, ein gutes Zusammenleben aller Menschen in der Gesellschaft mitzugestalten. Auch hier geht es darum, Andere in ihrem Anderssein gelten zu lassen. Vielfalt, wie wir sie in unserem Stadtteil erleben, sehen wir nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung an. Und jeder Versuch, Menschen gegeneinander aufzubringen und die Gesellschaft zu spalten, sollte auf unseren entschiedenen Widerspruch stoßen. Der gestern verstorbene ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat in seiner historischen Rede von 1985 zum 40. Jahrestag der Befreiung bereits dazu aufgerufen: Das Wort von Paulus erinnert uns daran: wir können einander annehmen, aus der Erfahrung heraus, dass wir selber angenommen sind. Das ist die Grundlage, aus der alles andere folgt: Weil Christus uns angenommen hat, in unserer Vielfalt und Unterschiedlichkeit, darum können auch wir einander und anderen Menschen mit Offenheit und Wertschätzung begegnen - und damit das Klima des Zusammenlebens positiv beeinflussen. Immer wieder muss das unser Ziel sein: dass die Gemeinde etwas davon ausstrahlt von diesem annehmenden Miteinander, das darin begründet ist, dass jede und jeder von uns sich von Christus angenommen wissen darf. Ich denke, das ist es auch, was Paulus meint, wenn er am Ende der Jahreslosung sagt: überall, wo ihr untereinander etwas weitergebt von der Erfahrung des Angenommenseins, dient das dem Lob Gottes. Ja, wir können Gott loben nicht nur mit unseren Liedern, nicht nur mit unseren Gebeten. Sondern wir loben Gott auch und mindestens genauso durch ein Miteinander , wo man sich untereinander mit Wertschätzung begegnet und niemand ausgegrenzt wird. Eine Gemeinschaft, in der viele unterschiedliche Menschen mit ihren unterschiedlichen Talenten verbunden sind durch einen Geist, so wie auf dem Bild – das ist auch heute, 20 Jahre nach meinem Beginn hier in der BonhoefferGemeinde, meine Vision von Kirche, die ich gerne weiterhin mit euch und mit ihnen gestalten möchte: zum Lobe Gottes und zum Wohl der Menschen.