Pressedienst Travail.Suisse – Nr. 2 – 13. Februar 2006 – Globalisierung _______________________________________________________________________________ Gewerkschaftliche Euro-Demonstration in Strassburg Europäische Dienstleistungsrichtlinie: So nicht! Zehntausende europäische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer demonstrieren am 14. Februar 2006 in Strassburg, um das europäische Parlament dazu zu bewegen, die Dienstleistungsrichtlinie1 abzuändern. Die Schweiz ist ebenfalls von dieser Richtlinie betroffen, denn die Liberalisierung der Dienstleistungen in der EU wirkt sich auch auf unser Land aus. Travail.Suisse und die Gewerkschaft Syna nehmen an der Demonstration teil. Unter dem Motto «Services for the people. Es ist Zeit, die Richtlinie zu ändern» verfolgt die gewerkschaftliche Euro-Demonstration das Ziel, eine Änderung des Entwurfs für die «Dienstleistungsrichtlinie für den europäischen Binnenmarkt» zugunsten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erwirken. Das europäische Parlament stimmt am 15. Februar über den Entwurf ab. Am 13. Januar 2004 legte die Europäische Kommission einen Entwurf für die Dienstleistungsrichtlinie für den europäischen Binnenmarkt, genannt BolkesteinRichtlinie, vor. Das Ziel besteht darin, die Wettbewerbsschranken im Dienstleistungssektor aufzuheben, so zum Beispiel Beschränkungen hinsichtlich der Nationalität, von Berufsverbänden auferlegte Beschränkungen, übermässiger Papierkrieg usw. Der Dienstleistungssektor macht in der EU 56 Prozent des BIP und fast 70 Prozent der Beschäftigung aus, so dass die Schaffung eines europäischen Binnenmarkts für Dienstleistungen zur Förderung des Wirtschaftswachstums und der Beschäftigung beitragen kann. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) stellt sich nicht gegen das Prinzip eines Binnenmarkts für Dienstleistungen. Er fordert indes, dass bei der Schaffung eines solchen Binnenmarkts der faire Wettbewerb, gerechte Arbeitsbedingungen und die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer/innen gewährleistet werden. Die Bolkestein-Richtlinie wird von den Gewerkschaften also nicht wegen des angestrebten Ziels abgelehnt, sondern weil sie die folgenden zwei grundlegenden Mängel aufweist: 1) Die Richtlinie unterscheidet nicht zwischen den kommerziellen Dienstleistungen und den «Dienstleistungen von allgemeinem Interesse» (z. B. soziale Dienstleistungen, Post, Strom- und Wasserversorgung, Abfallentsorgung). 1 Eine Richtlinie ist ein europäisches Gesetz, das alle EU-Staaten in ihre Gesetzgebung übernehmen müssen. Pressedienst Travail.Suisse – Nr. 2 – 13. Februar 2006 – Globalisierung _______________________________________________________________________________ 2) Die Richtlinie geht vom Herkunftslandprinzip aus, das zu einer Angleichung nach unten bei den Arbeitsbedingungen führen kann. Die «Dienstleistungen von allgemeinem Interesse» bewahren… Die kommerziellen Tätigkeiten und die wesentlichen Dienstleistungen dürfen nicht im selben Gesetzesrahmen zusammengefasst werden. Die «Dienstleistungen von allgemeinem Interesse» brauchen einen anderen rechtlichen Rahmen, der die Dienstleistungspflicht der Mitgliedstaaten genau bestimmt und definiert; das ist sehr wichtig für die Chancengleichheit und den sozialen Zusammenhalt. Die Richtlinie bedroht die öffentlichen Einrichtungen und kann zu ihrer allmählichen Liberalisierung und ihrer Zerschlagung führen. …und auf das Herkunftslandprinzip verzichten Die Bolkestein-Richtlinie besagt, dass Dienstleistungserbringer ausschliesslich den Gesetzen und Bedingungen unterstehen, die im Land ihrer Niederlassung gelten. Die Folge davon wäre, dass Firmen ihren Sitz in die EU-Staaten verlegen, in denen die Standards weniger hoch sind. Dies könnte zu einer Angleichung nach unten bei den Arbeitsbedingungen führen. Im März 2005 versammelte der EGB 75'000 Menschen, die gegen den Richtlinienentwurf demonstrierten, in den Strassen von Brüssel. Daraufhin forderten einige Staaten, so zum Beispiel Frankreich, den Rückzug der Bolkestein-Richtlinie. Als Folge davon wurden im Frühling 2005 grundlegende Änderungen im Text vorgenommen. Im Besonderen wurde das Herkunftslandprinzip zurückgezogen, und die Dienstleistungen von allgemeinem Interesse wurden ausgenommen. Es wurde zudem festgehalten, dass das Arbeitsrecht durch die Umsetzung der Richtlinie nicht in Frage gestellt werden darf. Und der Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistung erbracht wird, soll eine Reihe von Kontrollen durchführen können, um zu gewährleisten, dass die Spielregeln eingehalten werden. Gegenwärtige Lage: weiter Druck machen Im November 2005 lehnte ein Ausschuss des europäischen Parlaments, das bei diesem Dossier eine Schlüsselrolle spielt, einen Teil der Verbesserungen ab, im Besonderen die Punkte, die mit dem Herkunftslandprinzip zu tun haben. Auch gewisse heikle Bereiche, wie die Zeitarbeitsfirmen, die der EGB separat behandelt sehen möchte, sind immer noch Gegenstand der Richtlinie. Das ist der Grund für die grosse Euro-Demonstration vom 14. Februar 2006 in Strassburg. Pressedienst Travail.Suisse – Nr. 2 – 13. Februar 2006 – Globalisierung _______________________________________________________________________________ Eine Delegation der Gewerkschaft Syna nimmt an der Demonstration teil. Es liegt im Interesse der Schweizer Arbeitnehmer/innen, dass die EU-Länder weiterhin die Befugnis haben, grenzüberschreitende Dienstleistungen zu regulieren und zu kontrollieren, um das Arbeitsrecht und die öffentlichen Einrichtungen zu schützen. Eine Liberalisierung der Dienstleistungen in der EU, die den Schutz für Arbeitnehmer und Konsumenten schwächen würde, könnte in der Schweiz zusätzlichen Druck Richtung Liberalisierung der Dienstleistungen (einschliesslich öffentliche Dienstleistungen!) erzeugen. Dabei würden die Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen, die Beschäftigung, die Gesundheit und die Umwelt nicht beachtet. Aus diesem Grund ist auch die Schweiz direkt von der europäischen Dienstleistungsrichtlinie betroffen. Denis Torche, Leiter Europapolitik, Travail.Suisse Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), europäischer Sozialpartner Der EGB wurde 1973 mit dem Ziel gegründet, die Interessen der Arbeitnehmer/innen auf europäischer Ebene und gegenüber den Organen der Europäischen Union (EU) zu vertreten. Der immer stärker vorangetriebene europäische Integrationsprozess (Einführung des Euro, Osterweiterung usw.) erfordert immer mehr gewerkschaftliche Präsenz auf europäischer Ebene. Das Ziel des EGB besteht darin, eine sozial starke EU aufzubauen. Zurzeit umfasst der EGB 79 Mitgliedorganisationen aus 35 europäischen Ländern sowie 11 europäische Gewerkschaftsbünde. Somit vertritt er über 60 Millionen Mitglieder. Travail.Suisse ist Vollmitglied des EGB. Ausserdem koordiniert der EGB die Tätigkeiten der 39 IGR (interregionale Gewerkschaftsräte), welche die grenzüberschreitende gewerkschaftliche Zusammenarbeit organisieren. Der EGB ist einer der europäischen Sozialpartner und wird von der Europäischen Union, vom Europarat und von der EFTA als einzige repräsentative interprofessionelle Gewerkschaftsorganisation auf europäischer Ebene anerkannt. Pressedienst Travail.Suisse – Nr. 2 – 13. Februar 2006 – Globalisierung _______________________________________________________________________________ Travail.Suisse, Hopfenweg 21, 3001 Bern, Tel. 031 370 21 11, e-mail: [email protected], www.travailsuisse.ch