Die Brailleschrift und das universelle Gestalten – eine Bestandsaufnahme der Herausforderungen Von: Gregor Strutz Andere Augen e.V., Berliner Straße 69, 13189 Berlin Telefon: 030 44669449 [email protected], www.andereaugen.de „Heraus aus der Nische – hinein in das volle Leben!“ Auf nicht weniger als dieses, zugegebenermaßen bahnbrechende Ziel, lässt sich die UNBehindertenrechtskonvention reduzieren. Eine Forderung, die große Auswirkungen auf unsere Gemeinschaft und unser aller Zusammenleben haben wird. Mit der Konvention verbunden ist die inklusive Gesellschaft, die sich auf die Belange behinderter Menschen einstellt und nach neuen Mitteln und Wegen sucht, Vielfalt in den Alltag einzubeziehen. Wie das gehen soll? Auch hierfür bietet die Behindertenrechtskonvention Ansätze. Neben vielen anderen Themenbereichen wird hier zum ersten Mal ein Design for all, also eine Gestaltung gefordert, die für alle Menschen da ist und sich somit den spezifischen Bedürfnissen unterschiedlicher Nutzergruppen öffnet. Das damit verbundene Ziel ist einfach zu beschreiben: Wir wollen im Supermarkt der Zukunft eine Produktpalette vorfinden, die sich auch an Menschen mit Einschränkungen richtet und die von ihnen eigenständig und problemlos genutzt werden kann. Für uns, die wir uns mit der Zukunft der Blindenschrift beschäftigen, drängt sich dabei eine Gleichung auf, die so lauten könnte: Design for all = Braille for all! Wir versehen einfach alle Produkte mit BrailleBeschriftungen und schon ist die kommerzielle Welt inklusiv und richtig. So verlockend dieser Ansatz auch erscheint und so wünschenswert er wäre, uns ist sicherlich allen klar, dass diese Forderung eher einem Wunschtraum gleicht. Der Weg zu mehr Braille im Alltag wird deutlich länger und steiniger – und das trotz der vollumfänglichen Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention. Design versus Braille – unterschiedliche Voraussetzungen Wenn wir uns ernsthaft dafür einsetzen, dass die Blindenschrift in Zukunft in der kommerziellen Welt eine wichtigere Rolle spielt, müssen wir uns zunächst mit den Unterschieden beschäftigen, die zwischen professionellem Design und der Brailleschrift liegen. Denn im Moment liegen zwischen beiden Begriffen Welten – genauer gesagt: die Welt der Sehenden und die der Blinden. Braille ist ein Werkzeug, das blinde Menschen lesend macht. Die Blindenschrift vermittelt Inhalte und bildet eine wichtige Grundlage für die Lehre und die Kommunikation zwischen Menschen. Braille steht der Schwarzschrift in Umfang und Gebrauch in nichts nach, weist aber einen entscheidenden Unterschied auf. Im Gegensatz zur Schwarzschrift, die sich ästhetischen Anforderungen entsprechend in dicken und dünnen Schriftschnitten anordnen lässt, die man in Größe, Farbe und Schrägstellung variieren kann und deren Formenspektrum keine Grenzen kennt, bleibt die Brailleschrift weitgehend standardisiert. Professionelles Design hingegen ist fest in der Welt der Sehenden verankert. Es bildet eine wichtige Säule zur Anreizverstärkung beim Kaufen und Verkaufen von Waren. Design ist mehr als eine bloße Gestaltung von Produkten und Dienstleistungen. Es bildet die Grundlage für Kaufentscheidungen, wenn sich Waren in ihrem Leistungsspektrum und ihrem Verkaufspreis kaum noch unterscheiden. Da dies in der westlichen Welt immer öfter der Fall ist, wurden in den letzten 20 Jahren ganz eigene Ästhetikwelten entwickelt. Design ist der entscheidende Faktor, um ein Image, eine Marke aufzubauen und ohne Image werden Waren heutzutage nur noch schwer verkauft. Der Käufer entscheidet sich also für eine Marke, weil sie ihm gesellschaftliche Anerkennung einbringt, mit der er sich entweder von anderen abgrenzen oder als ihnen zugehörig zeigen kann. Das Image eines Produkts ist sowohl in der Welt der Mode als auch am Kühlregal im Supermarkt von Bedeutung, wenn sich ein Kunde zwischen acht verschiedenen Milchtüten entscheidet. Design ohne Braille – warum die Verwendung von Braille in der Welt des professionellen Designs bisher nicht stattfindet Betrachten wir die Welt des Designs, müssen wir feststellen, dass in der Ästhetik-Welt der Sehenden die Blindenschrift fast gar nicht vorhanden ist. Ihr sind nur wenige Bereiche vorbehalten. Außerdem findet Inklusion hier nur statt, weil der Gesetzgeber die Verwendung der Braille-Schrift vorgeschrieben hat. Bauliche Umgebungen, wie beispielsweise Fahrstuhlanlagen sind dabei zu benennen und auch im Gesundheitswesen hat Braille mit der Beschriftung von Arzneiverpackungen Einzug gehalten. Darüber hinaus schwindet die Anzahl der Braille-Anwendungen deutlich. Ein Hauptgrund hierfür ist sicherlich, dass Braille für Sehende einen exklusiven Code darstellt, der einige wenige fasziniert, von den meisten aber nicht verstanden wird. Es ist immer noch nicht selbstverständlich Braille-Beschriftungen vorzufinden, weshalb Berührungspunkte Sehender mit der Schrift der Blinden selten sind. Findet man sie doch einmal, ist sie zur vertrauten Schwarzschrift nicht in Bezug gestellt. Doch wo Blindenschrift sich nicht nachvollziehen lässt, kann keine Auseinandersetzung mit ihr stattfinden. Auch sind die Produktionsverfahren für Braille häufig immer noch zu kompliziert. Sie eignen sich nur bedingt für die Produktion in großen Stückzahlen oder sind mit höheren Kosten verbunden, die gegen eine großflächige Anwendung sprechen. Doch auch in den Bereichen, in denen die Inklusion von Braille ohne großen Aufwand möglich wäre, weil beispielsweise Plastikverpackungen in Formen gegossen oder gepresst werden, findet diese nicht statt. Hierfür spielen nicht zuletzt bestehende Berührungsängste der Designer gegenüber der Barrierefreiheit und inklusiver Gestaltung eine Rolle. Diese lassen sich unter anderem auch von dem Aussehen klassischer Braille-Produkte herleiten. Die oft zu Recht als Reha-Design verschrienen Produkte entstehen viel zu häufig unter Missachtung der Ästhetik. Sie folgen einzig der Logik der klassischen Behindertenselbsthilfe und können als Positivbeispiel somit nicht dienen. Design mit Braille – Universal Design als Chance für ein „Design for all“ Trotz der genannten Schwierigkeiten bei der Verbindung von Braille und professionellem Design hat es noch nie einen günstigeren Zeitpunkt für das Erreichen unserer Ziele gegeben, als die heutige Zeit. Ein Grund ist sicherlich die UN-Konvention. Ein deutlich wichtigerer ist jedoch in den Veränderungen der westlichen Zivilisationen selbst zu suchen. Deren Menschen haben mittlerweile eine deutlich längere Lebenserwartung und bekommen gleichzeitig immer weniger Kinder. Es entwickelt sich eine Überalterung unserer Gesellschaft. Mit ihr nimmt gleichzeitig auch die Akzeptanz von Menschen zu, die eine körperliche Einschränkung im Alltag erleben. Ganz einfach, weil ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung weiter steigt und sich bisherige Normen verschieben. Und noch wichtiger: Diese Personengruppe stellt eine wachsende Käuferschicht dar. Sie fragt auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Produkte und Dienstleistungen nach und verfügt über die notwendigen finanziellen Mittel, diese auch nutzen oder käuflich erwerben zu können. Somit ergibt sich eine Marktgrundlage und dadurch wird der Bereich inklusiver Produkte für Produzenten wie auch Designer im zunehmenden Maße attraktiv. In diesen Prozess müssen wir uns einmischen und gestaltend tätig werden. Denn mit Braille versehene, inklusiv gestaltete Produkte können interessante Vorzüge gegenüber Konkurrenzprodukten aufweisen. Eine mit Brailleschrift versehene Milchtüte hebt sich deutlich von ihren Konkurrenzprodukten ab und führt für alle Konsumenten zu einer besseren Unterscheidbarkeit. Sie generiert damit einen zusätzlichen Kaufanreiz, der sich bei höherwertigen Artikeln rentiert und den gesellschaftlich korrekt agierenden Verbraucher anspricht. Diesen Konsumenten trifft man sicherlich selten im Discounter an, weshalb man hier im Milchregal unsere Braille-Milchtüte kaum finden wird. Doch überall dort, wo Qualität nachgefragt wird, kann Braille zu einem weiteren Merkmal des Leistungsnachweises werden – genauso wie ein Bio-Siegel oder das Qualitätssiegel einer Verbraucherschutzorganisation. In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Segment der gesundheitsfördernden Produkte aufmerksam machen, die immer häufiger mit Braille-Beschriftungen versehen sind. Sie kopieren sehr bewusst das Erscheinungsbild von Arzneiverpackungen. Aus einem bloßen Kräutertee wird so ein hochwertiger Gesundheitstee generiert. Die Inhaltsstoffe sind in den meisten Fällen die gleichen. Die Bereitschaft für das Produkt mit Arznei-Image ein wenig mehr Geld auszugeben, ist in breiten Teilen der Bevölkerung vorhanden. Und das, obwohl die meisten Käufer dieser Produkte die Brailleschrift gar nicht lesen können. Gleichzeitig müssen wir aber auch verstehen, dass eine beliebige Verwendung von Braille sich schnell ins Negative verkehren kann. Seine unbedachte Anwendung kann Produkte auch als Hilfsmittel stigmatisieren, denen sich ältere Käuferschichten – selbst mit ersten körperlichen Einschränkungen – vehement verweigern würden. Wir müssen also die Brailleschrift in den Kontext einer völlig neuartigen, inklusiven Gestaltung stellen. Hierbei ist das Universal Design unser wichtigster Ansatz. Universal Design mit Braille – Grundbedingungen zum Erreichen inklusiver Gestaltung 1. Das auf Nutzerfreundlichkeit ausgelegte Universal Design ist das Design der Zukunft. Es bietet große Chancen für die Befriedigung der Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen. Dies zu erreichen gelingt nur über Professionalität. 2. Inklusive Gestaltung funktioniert erst, wenn wir anfangen inklusiv zu arbeiten. Wir brauchen die Kooperation von Spezialisten der unterschiedlichen Gewerke. 3. Wir brauchen neue Produktionsmethoden und müssen völlig neu denken, um unsere Ziele zu erreichen. Unser Ziel muss es sein, die Ästhetikwelt blinder Menschen mit der Sehender zu verbinden. Hier ist noch viel Erkenntnisarbeit zu leisten. 4. Wir müssen stärker mit positivem Beispiel standardbildend vorangehen, statt Normierungen und Regeln einzufordern. 5. Inklusive Gestaltung für blinde Menschen findet eine höhere Akzeptanz, wenn es uns gelingt auch die Bedürfnisse Sehbehinderter einzubeziehen. Wenn wir es schaffen, die Bedürfnisse und Gefühlswelt blinder und sehbehinderter Menschen in Beziehung zur Ästhetikwelt Sehender zu stellen, können wir breite Teile der Bevölkerung ansprechen und vom Nutzen eines Designs für Alle überzeugen.