Utrecht am 2. Oktober 2009 Heino Falcke I. Dankesworte Sehr

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Utrecht am 2. Oktober 2009
Heino Falcke
I. Dankesworte
Sehr geehrte Damen und Herrn, liebe Freundinnen und Freunde, liebe
Geschwister in der ökumenischen Gemeinschaft,
nun kann ich mein volles Herz erleichtern und für die Ehrung danken,
die mir widerfahren ist! Ich danke dem Raad van Kerken und seinem
Generalsekretär Herrn Klaas van der Kamp, ich danke dem Kreis von
Freunden, der hinter dieser Einladung steht, ich danke dem IKV und Pax
Christi, die diesen Studiennachmittag mit tragen, ich danke Laurens
Hogebrink, dessen sichtbare und unsichtbare Hand hinter dem allen
steht und hinter vielem anderen mehr. Mein Dank weitet sich aus auf
die, die uns über die Mauer hinweg wunderbare Freunde waren und
nicht mehr unter uns sind, ich nenne stellvertretend für viele nur zwei
Namen: Harry und Ruth de Lange und Jan ter Laak.
Ich danke Ihnen allen, die Sie heute hierher gekommen sind. Ich danke
ganz besonders Dir, lieber Bob, für die wunderbare Laudatio, die ich mit
Staunen gehört habe!
Du hast den Pegel meines Selbstwertgefühls auf einen Hochwasserstand
gebracht. Nun stehe ich hier unten, wo ich –um mit dem Apostel Paulus
zu reden, den Du ja auch herangezogen hast – „im Fleisch“ existiere, und
schaue zu mir hinauf, der ich nun Träger der „Flamme des Geistes“
werden soll, und ich frage mich, wie wir beiden Ichs zusammen kommen
können.
Vor allem danke ich Dir, dass Du so treffend beschrieben hast, was uns in
unseren kooperierenden Arbeitsgruppen für Kirche und Gesellschaft
wichtig war. Harry de Lange formulierte als Leitfrage für unsere
Konsultationen: „Was können die Kirchen in den beiden
unterschiedlichen Gesellschaftssystemen tun, um von den verschiedenen
Ausgangspunkten her dem Ziel einer gerechten, partizipatorischen und
ökologisch nachhaltigen Gesellschaft näher zu kommen?“ Von
niederländischer Seite wurden – vor allem von Dir und Harry – die
Vorschläge zu einem ökologischen Umbau der Wirtschaft eingebracht.
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Ende der achtziger Jahre fasstet Ihr das in dem Buch zusammen, dessen
deutscher Titel heißt: Weder Armut noch Überfluss, Plädoyer für eine
neue Ökonomie. Ich denke, hierin lag inhaltlich das Wichtigste für uns
DDR-Leute: eine nichtkommunistische kapitalismuskritische und
kulturkritische Analyse und Vision kennen zu lernen, die West und Ost
über den status quo des Systemgegensatzes hinaus einen Weg in die
Zukunft eröffnet. Als ich es vor einigen Tagen wieder las, erschien es mir
in manchen Partien, als wäre es für die heutigen Krisen geschrieben. Der
Gedanke einer Selbstbegrenzung des Menschen aus Freiheit ist heute
vielleicht die zentrale und die tiefste Herausforderung, an der die
Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft hängt. Gesetze können diese
Selbstbegrenzung wohl teilweise erzwingen, aber nicht als eine neue
Kultur der Gesellschaft herbeiführen. Solch eine Kultur der
Selbstbegrenzung lebt aus tieferen Quellen, von denen die Religionen die
vielleicht wichtigsten sind. Ich sage bewusst „Religionen“, nicht
„Kirchen“, denn die drei monotheistischen Religionen, die unsere Kultur
prägen, enthalten alle den Gedanken der Geschöpflichkeit und
Geschöpflichkeit heißt Begrenztheit, eine Begrenztheit, die als Wohltat
dankbar bejaht werden kann, weil sie von dem kommt, dem wir unser
Leben verdanken. – So fordert unsere frühere gemeinsame Arbeit zum
weiterdenken heraus. Ich danke Dir, lieber Bob.
Aber ich muss noch etwas zu dieser Preisverleihung sagen.
Ich kann sie eigentlich nur stellvertretend entgegennehmen,
stellvertretend für alle diejenigen, die in der DDR bis 1989 die
Partnerschaften und vielfältigen Beziehungen zu den niederländischen
Christen, Gemeinden, Kirchen und Initiativen getragen und gestaltet
haben. Ich selbst war nur an einem schmalen Sektor dieses
ökumenischen Beziehungsgeflechtes beteiligt. Es ist gut, dass wir jetzt in
Beatrice de Graafs Buch „Über die Mauer hinweg“ eine kenntnisreiche
und ebenso umfassende wie detaillierte Darstellung dieses Stücks
lebendiger und intensiver Ökumene haben.
Und weiter: Es fiele mir sehr viel leichter, diesen Preis entgegen zu
nehmen, wenn es etwas Vergleichbares gäbe, das die Kirchen in der DDR
den niederländischen Kirchen als Dank für die über viele Jahre gewährte
ökumenische Gemeinschaft überreicht hätten. Es beschämt mich, dass
dies meines Wissens nicht geschehen ist. Es mag eine Folge dessen sein,
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dass sich der Kirchenbund im deutschen Vereinigungsprozess viel zu
schnell als eigenständig handelndes Subjekt aufgegeben hat und in der
EKD aufgegangen ist. Aber diese Erklärung mindert nicht die
Dankesschuld unserer Kirchen in der DDR. Ich möchte diese Gelegenheit
ganz bewusst nutzen, um diesen überfälligen Dank auszusprechen.
Er ist umso begründeter, als die Initiative für diese ökumenische
Gemeinschaft weit überwiegend von den Niederländern ausging. In
diesem merkwürdigen Gedenkjahr 2009 jährt sich auch das Jahr 1939
und erinnert uns daran, dass nach den deutschen Verbrechen in den
Niederlanden unsere ökumenische Gemeinschaft nur durch die
Vergebungs- und Versöhnungsbereitschaft der Niederländer möglich
wurde. Nach dem Mauerbau waren es dann die niederländischen
Christen, die sich auf die Reise in die DDR machten. In den sechziger
Jahren konnten wir uns auf die Atomwaffendenkschrift der Hervormde
Kerk beziehen, als wir in der Handreichung zur Seelsorge an
Wehrpflichtigen die Präferenz für die Wehrdienstverweigerung erklärten,
und in den achtziger Jahren gingen uns die Niederländer mit ihrer
Entscheidung für eine einseitige Denuklearisierung der Niederlande
voraus. Für die Friedensarbeit der Kirchen in der DDR war es ja nicht nur
eine schöne Arabeske, dass wir auf die niederländischen Kirchen
verweisen konnten, es war wesentlich für die Glaubwürdigkeit des
christlichen Friedenszeugnisses. Nur so war deutlich zumachen, dass wir
auf beiden Seiten des kalten Krieges gegen die eigentliche Gefährdung
des Friedens, das Abschreckungssystem selbst, kämpften und nicht die
Partei der jeweiligen Gegenseite nahmen. Weil die EKD in der
Bundesrepublik unsere Position nur gebrochen teilte, waren die
niederländischen Kirchen so wichtig für uns.
1989/90 kam wieder von den Niederlanden die Initiative, die
Vergangenheit der Kirchen in Europa, vor allem in Osteuropa und die
Rolle der ökumenischen Bewegung im kalten Krieg gemeinsam kritisch zu
sichten. Daraus erwuchsen Konsultationen, Berichtsbände von Laurens
Hogebrink und Ludwig Mehlhorn herausgegeben und die Schrift
„Verlorene Jahre?“ mit einem offenen Fragezeichen.
Wir hätten also zuerst zu danken gehabt. Immerhin stiess ich auf einen
Brief, den Joachim Garstecki im September 2002 an Laurens Hogebrink
geschrieben hat. Aus ihm möchte ich einige Sätze zitieren:
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Geblieben ist aus den Kontakten mit Euch „eine Schlüsselerfahrung: Wir
müssen die fest gefügten, oft unüberwindlich scheinenden Grenzen
kirchlichen wie politischen Agierens ständig ins scheinbar Unmögliche
hinein verschieben, wenn die Chance und der Gewinn ökumenischer
Kommunikation nicht verspielt werden soll… Dein Ökumene-Horizont war
immer größer und weiter als das, was politisch gerade „ging“ oder „nicht
ging“. Was wir an unsern niederländischen Freunden stets bewunderten
und manchmal fürchteten: ihre emanzipatorische Ungeduld, ihr Drängen
auf Veränderung, das kam bei Dir aus einem weiten ökumenischen
Horizont. In diesem Horizont durfte man nicht zu klein und schon gar
nicht kleinlich denken.“
II. Diskussionsbeitrag am Nachmittag
Ich danke Stephen Brown herzlich für seine umsichtige Darstellung des
Konziliaren Prozesses in der DDR. Er hat gut beschrieben, wie die Impulse
aus der Ökumene dem „Veränderungsstau“, der sich in der DDR der
achtziger Jahren verstärkte, eine Richtung und Klärung der Motivation
und auch eine sozialethische Legitimation gab.
Von hier aus muss ich aber noch einmal zum Beginn des Konziliaren
Prozesses bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates in
Vancouver zurückgehen. Ich wurde öfter danach gefragt, welche Rolle
der Vorschlag der ostdeutschen Delegierten für ein Friedenskonzil in
Vancouver gespielt hat. Von Konrad Raiser war dieser Text in die
Verhandlungsdokumente der Versammlung eingeschleust worden. Er
erregte im Beginn der Vollversammlung großes öffentliches Aufsehen
und da ich der Hauptverfasser war, wurde ich in Interviews und Podien
dazu befragt. Diese öffentliche Aufmerksamkeit steigerte sich, weil der
Text ins kirchenpolitische Kreuzfeuer geriet. Die EKD Delegation reagierte
verstimmt und ablehnend und vom Sekretariat des Kirchenbundes kam
ein Telegramm, das jede Publikation des Textes untersagte. Die Gründe
und Hintergründe dieses Telegramms konnten nie aufgeklärt werden.
Dass aus unserm Vorschlagstext, dessen Schwerpunkt auf der
Friedensfrage lag, der Vorschlag eines konziliaren Prozesses für
Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung wurde, ist
weitgehend Ulrich Duchrow zu verdanken, der in seiner Arbeitsgruppe 6
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und im Komitee für Programmrichtlinien darauf hingearbeitet hat. Mit
ihm war ich seit Mitte der siebziger Jahre freundschaftlich verbunden, so
dass diese Kooperation auch kein Zufall war.
Nach der Vollversammlung und dessen Votum für den Konziliaren
Prozess stellte sich der Kirchenbund hinter den Text seiner Delegierten
und nahm die Impulse des Konziliaren Prozesses auf. Er gewann aber vor
allem durch die Ökumenische Versammlung große Bedeutung für die
politische Rolle der Kirchen in der Endphase der DDR und der Revolution
1989. So kam es dann, dass der Konziliare Prozess vor allem mit den
Kirchen in der DDR und ihren Protagonisten verbunden wurde.
Was aber war eigentlich dieser Konziliare Prozess? Im größeren zeitlichen
Abstand und aus heutiger Perspektive erscheint er mir als der Versuch
des Weltrates der Kirchen, den Krisen der globalisierten Welt im ganzen
und in der Tiefenschicht zu begegnen. Mit dem vielfach schillernden
Begriff der Globalisierung meine ich nicht nur den neoliberal
deregulierten Weltmarkt, sondern auch die ökologischen,
technologischen und waffentechnischen Krisenentwicklungen, ich meine
Globalisierung in ihren Unumkehrbarkeiten, aber auch als
Herausforderung zur Umkehr und alternativen Gestaltung.
Der Weltrat der Kirchen, so kann man etwa schematisierend sagen,
legte in seiner ersten Phase den Schwerpunkt auf die Friedensfrage, es
folgte in den sechziger Jahren die Entwicklungspolitik und die
Gerechtigkeitsfrage, in den siebziger Jahren griff der ÖRK die
ökologischen Fragen auf. In Vancouver stellte sich der Weltrat der
Kirchen dem Ganzen dieses Krisensyndroms, dessen Ursachen- und
Wirkungszusammenhänge in der sich globalisierenden Welt immer
erschreckender zutage traten. Vielleicht eilte er damit – wenn nicht
seiner Zeit – so doch dem Zeit-Bewusstsein voraus. Das lässt nicht nur
sein stockender Gang in der Ökumene, sondern auch der politische
Umbruch 1989 in der DDR vermuten, der die Impulse der Ökumenischen
Versammlung bald hinter sich ließ. Aber das gegenwärtige
Zusammentreffen von Klimakrise, Finanz- und Wirtschaftskrise und der
wieder aufwachsenden nuklearen Gefahr zeigt doch, dass der Weltrat
der Kirchen damals eine Warnung ausgesprochen und eine UmkehrPerspektive gezeigt hat, für die es allerhöchste Zeit war und deren
Zeitfenster heute bereits sehr eng wird.
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Wie ich schon sagte und viele von Ihnen wissen, haben wir in den
Endphase der DDR versucht, die dort anstehenden gesellschaftlichen
Veränderungen in den Horizont des Konziliaren Prozesses zu rücken. Der
erste Aufruf zur Beteiligung an der Ökumenischen Versammlung trug das
Logo des Konziliaren Prozesses. Diese Verflechtung der globalen und
lokalen Perspektiven durchzieht auch mit wenigen Ausnahmen alle
Ergebnistexte der Ökumenischen Versammlung. Ob das auch für die über
zehntausend Antworten gilt, die der Aufruf auslöste, hat Katharina
Kunter in ihrer großen Untersuchung infrage gestellt, weil dort die DDRinternen Probleme dominierten. Das verwundert freilich nicht so sehr,
weil das eigene Land natürlich die einzige Handlungsperspektive bot. Ob
damit auch der globale Horizont ausgeblendet wurde, bleibt noch zu
fragen. Keine Frage aber ist, dass die Verflochtenheit beider
Perspektiven verloren ging, als die Revolution aus dem Raum der Kirche
auf die Straße trat, das Volk zum Subjekt des politischen Handelns wurde
und dessen Mehrheit nur das Ende der DDR und die Vereinigung mit der
Bundesrepublik wollte. Ich halte es jedoch für falsch, und zwar auch für
historisch falsch, die globale Perspektive des Konziliaren Prozesses und
die politischen Wechsel in Deutschland wie Utopismus und Realismus,
wie Polit-Traum und Realpolitik zu unterscheiden. Beide gehören
vielmehr zwei unterschiedlichen geschichtlichen Entwicklungssträngen
an, denen unterschiedliche Paradigmen entsprechen und von denen der
eine zu ende ging, der andere aber wachsende Geschichtsmächtigkeit
gewann. Es handelt sich einerseits um das Ende der Nachkriegszeit und
die Aufarbeitung der in Yalta und Potsdam festgeschriebenen
Kriegsfolgen für Deutschland und Osteuropa. Andererseits drängte die
Entwicklung nach vorn, die wir heute allgemein Globalisierung nennen.
Der erste Entwicklungsstrang beherrschte das öffentliche Bewusstsein in
Deutschland seit November 89, sein starkes Symbol wurde die Fällung
der Mauer und die deutsche Vereinigung. Im geläufigen Begriff
„Wiedervereinigung“ ist der Rückbezug auf die Nachkriegsgeschichte und
das Aufatmen angesichts ihres glücklichen Endes deutlich spürbar.
Enthält aber „Wiedervereinigung“ auch eine Zukunftsperspektive?
Der andere Strang, die Globalisierung wurde fast völlig verdrängt,
vielleicht muss man sogar sagen: die Globalisierung wurde von der
eingemauerten und provinzialistischen DDR-Mentalität noch gar nicht
wirklich wahrgenommen.
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Gleichwohl war sie längst Realität. Gorbatschow hatte begriffen, dass in
der zusammenwachsenden Weltwirtschaft ein abgeblockter Osten nicht
mehr zu halten war. Er entwickelte sein „neues Denken“, das sich
universalistisch öffnete, im Westen freilich neben Glasnost und
Perestroika kaum wahrgenommen und schon gar nicht ernst genommen
wurde. In dem sich entwickelnden „world wide web“ war ein
abgegrenzter Mauerstaat schlicht ein Anachronismus, einem Eisberg
vergleichbar, der im sich erwärmenden Meer der Globalisierung
zwangsläufig dahinschmilzt. Der enorme Druck des Weltmarktes und die
harten Währungen durchlöcherten längst die Mauer und die
Telekommunikation flog über sie hinweg. Und die Katastrophe von
Tschernobyl zeigte jedermann, dass Umweltzerstörungen keine Grenzen
kennen. Ich denke also, dass die Implosion des „Real existierenden
Sozialismus“ mindestens auch aus der Dynamik der Globalisierung
verstanden werden muss und der Konziliare Prozess auch analytisch
dicht an der Realität war, wenn er die kleine DDR in diesen Prozess
einbezogen sah.
Seine kritische Analyse schloss freilich auch den real existierenden
Kapitalismus ein und das widersprach dem anderen, dem Ost-WestParadigma, in dem nach dem Umbruch ein Denken in beinahe
ideologischen Alternativen herrschend wurde: Freiheit kontra
Kommunismus, deregulierter freier Markt kontra Staatssozialismus. Die
Vereinigung wurde als nachholende Modernisierung des Ostens
verstanden, und wer die Modernisierung selbst kritisch unter die Lupe
nahm, störte nur. Die wachsende Geschichtsmächtigkeit der
Globalisierung und ihrer Schlagschatten ging vielen erst mit den
gegenwärtigen Krisen auf – freilich ohne Folgen für die jüngsten
deutschen Wahlen.
Wir Deutschen haben wahrhaftig allen Grund, dafür dankbar zu sein,
dass die Nachkriegsgeschichte für uns mit dem Geschenk der Vereinigung
abschloss. Ich plädiere aber dafür, dass wir diese Vereinigung nicht im
nationalstaatlichen Paradigma des 19. und 20. Jahrhunderts begreifen,
sondern im sich hoffentlich bildenden Geist des 21. Jahrhunderts
begehen und also als die Chance ergreifen, befreit von dem destruktiven
Ost-West-Konflikt eine konstruktive Rolle in Europa und der
Globalisierten Welt zu spielen.
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Erlauben Sie, dass ich abschließend noch einige Reflexionen zur Rolle der
Kirche in der Herbstrevolution 1989 anstelle.
Diese herausragende Rolle konnte die evangelische Kirche nur spielen,
weil sie sich in den vierzig Jahren einer Diktatur mit totalitären
Tendenzen als staatsfreier Raum behauptet hatte. Dadurch konnte sie
der einzige Raum eines kritischen politischen Diskurses in dieser
Gesellschaft sein, Einübungsraum demokratischer Verfahren, Schutz und
Entfaltungsraum gesellschaftskritischer Gruppen und so schließlich
Bereitstellungsraum und Impulsgeber der Revolution.
Gleichzeitig aber gab es in diesem Raum die Differenzen und Konflikte
zwischen der Institution Kirche und den gesellschaftskritischen Gruppen.
Unsere niederländischen Freunde, vor allem aus dem IKV, hatten uns seit
Anfang der achtziger Jahre energisch nach den dissentierenden
Friedensgruppen gefragt und den Kontakt mit ihnen gesucht. Das
beunruhigte nicht nur die Staatssicherheit, sondern auch die
Kirchenleitungen und das Sekretariat des Kirchenbundes. Die
Verständigung ist da nicht immer geglückt und es standen auch Klischees
auf beiden Seiten im Wege. Aber diese Beunruhigung war unbedingt
notwendig und vielleicht sogar heilsam. Sie war notwendig, weil bei der
Arbeit für den Frieden die Frage der Menschenrechte und der
Demokratisierung nicht ausgeklammert werden kann, und weil die
Ausgrenzung der dissentierenden Gruppen und Einzelnen aus der
ökumenischen Kommunikation nicht hinnehmbar war.
Ich denke aber, dass diese Beunruhigung auch heilsam war. Sie stieß die
Kirchen auf ein ekklesiologisches Defizit, dem sie dann im Herbst 1989
nicht mehr ausweichen konnten. Die gesellschaftskritischen
Basisgruppen wurden die Protagonisten der Herbstrevolution, die
Kirchen schlossen sich ihnen an und übernahmen so etwas wie eine
„Treuhänderschaft“ (Konrad Raiser) für den zivilgesellschaftlichen
Aufbruch. Die Ökumenische Versammlung 1988/89, die nicht nur die
Konfessionen, sondern auch Oberkirchenräte und Gruppenvertreter
vereinte, hatte das vorbereitet. Die beunruhigende Frage der
niederländischen Freunde: „Wo sind eure Brüder Dissidenten?“ sehe ich
im Rückblick wie ein sensibilisierendes Vorspiel zum Herbst 1989.
Ich war damals ein Anwalt der Gruppen in den Kirchenleitungen und bei
den Gruppen warb ich um Verständnis für die Kirchenleitungen. Ich war
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der Meinung, dass die Kirche die Gruppen als Sozialgestalt und in ihrem
Engagement in ihr Kirchenverständnis hätte aufnehmen, bzw. ihr
Kirchenverständnis für sie hätte öffnen müssen. Beide, Kirchenleitungen
und Gruppen wollte ich davon überzeugen, dass sie diesem Konflikt, so
scharf er auch bisweilen war, nicht mit Denkmustern des Entweder-oder
gerecht werden können. Es ging auch um unterschiedliche Strategien
politischer Verantwortung und um unterschiedliche Mandate von
Kirchenleitungen und Gruppen. Auch gab es in dem Konflikt deutliche
Synergie-Effekte, wenn sich z.B. Kirchenleitungen dem Staat gegenüber
zum Interpreten der Gruppen machten und die Gruppen den
Kirchenleitungen die Problemanzeigen lieferten, die diese dann den
Staatsvertretern auf den Tisch legten. Was ich sagen möchte ist: Mit
steilen Alternativen von Anpassung oder gar Kollaboration einerseits und
Opposition oder gar Widerstand andererseits wird man diesem Konflikt
nicht gerecht. Er bedarf der kirchensoziologischen Aufklärung, um ihn
nicht vorschnell mit Theologisierungen zu überblenden oder mit
politischen Deutungsmustern zu verzerren. Dabei kommt man zu
Urteilen, die bei genauem Hinsehen nicht zu halten sind und auch
unverständlich machen, wie im Herbst 1989 die Institution Kirche zum
Aufbruchsort der Revolution werden konnte, handgreiflich in den
Friedensgebeten, die in kleinsten Dorfkirchen und den repräsentativsten
Domen das Volk versammelten.
Diese Kooperation war freilich durch ein Modell der Konfliktaustragung
vorbereitet, das überraschend in den beiden letzten DDR-Jahren
zustande kam. Ich meine die vom Konziliaren Prozess inspirierte
Ökumenische Versammlung, die nicht nur die christlichen
Konfessionskirchen, sondern auch Kirchenvertreter und
Gruppenvertreter an einem Tisch und zum Gespräch in Augenhöhe
zusammenführte.
Freilich muss gleich wieder auch das andere gesagt werden: Diese Phase
gelingender Kooperation ging schon 1990 wieder zu ende, als die
Kirchenleitungen, selbst ihren Synoden vorgreifend, eine schnelle
strukturelle Vereinigung von EKD und Kirchenbund beschlossen und
damit auch manchen Veränderungsimpulsen der Ökumenischen
Versammlung und der revolutionären Gruppen Möglichkeiten des
Weiterwirkens nahmen. Nur einmal noch in den neunziger Jahren
wurden die Impulse der Ökumenischen Versammlung und des
Konziliaren Prozesses aufgegriffen: in dem ökumenischen
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Konsultationsprozess, der zu der Erklärung zur wirtschaftlichen und
sozialen Lage mit dem Titel „Für eine Zukunft in Solidarität und
Gerechtigkeit“ führte.
Dieses geschichtliche Erinnern und Vergessen aber nötigt zu der Frage,
was unsere Kirche aus dem Herbst 1989 zu lernen hätte.
Ich versuche darauf einige Antworten, der Kürze wegen in mehr
thetischer als argumentativer Form.
1. Die Kirche braucht eine klare Orientierung an ihrem biblischen Auftrag
und eine klare, das Kirchenschiff wirklich leitende theologische
Kielführung. Darin gründet ihre Freiheit und Identität. Die Kirche wird
sich nicht von außen auf eine „Kernkompetenz“ des spezifisch
Religiösen festlegen lassen dürfen und sie darf sich vom Haupttrend
gegenwärtiger religiöser Bedürfnisse nicht auf den Pfad der
Individualisierung und Innerlichkeit drängen lassen. Sie wird die in
ihrem Auftrag gründende Einheit von Gottesliebe und Nächstenliebe,
von Gottesbeziehung und Weltverantwortung, von Spiritualität und
Kampf (Taizè) festhalten und die ganze vieldimensionale Fülle der
biblischen Spiritualitäten in die Gesellschaft einbringen.
2. Die Kirche wird ihre Stellung und Funktion im öffentlichen Raum neu
zu bedenken haben. ( Hier schließe ich mich an Gedanken an, die
Konrad Raiser kürzlich im Anschluss an die Rolle der Kirche im Herbst
1989 vorgetragen hat. ) Der europäische Protestantismus hat sich
nach der Reformation in die damals gesellschaftsprägenden
politischen Strukturen hineingegeben oder ihnen angepasst. In den
neuesten kirchlichen Reformprojekten sucht sich der deutsche
Protestantismus an dem Modell von Wettbewerb und Markt zu
orientieren, das zum dominanten Modell gesellschaftlicher
Organisation geworden ist. Dies hat die Kirchen nolens volens auf
einen Markt der religiösen Nachfragen und Angebote versetzt, auf
dem sie sich in der Tat neu und situationsgerecht verhalten muss.
Wie sich der Protestantismus jedoch einst nicht der Logik staatlicher
Machtausübung ausliefern durfte, so heute nicht der ökonomischen
Logik des Marktes. Sie treibt die Kirche einerseits in die Sorge um sich
selbst, ihr Wachstum, ihre Effizienz und Qualitätssteigerung und
macht sie andererseits abhängig von den an sie herangetragenen
Bedürfnissen und Wünschen.
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Im Herbst 1989 verbündeten sich die Kirchen in der DDR mit dem
Aufbruch der Zivilgesellschaft, dem „osteuropäischen Bürgerfrühling“ (
Timothy Garton Ash). In der Zivilgesellschaft, so sagt Konrad Raiser im
Anschluss an den Religionssoziologen José Casanova, geht es um die
Stärkung von Beziehungen und Kommunikation im weitesten Sinn.
Zivilgesellschaftliche Prozesse dienen der Bewahrung und Verbesserung
von Lebensqualität und der Verständigung über grundlegende
Wertorientierungen. Im Herbst 1989 wurde die christliche Gemeinde in
der Minderheitssituation zum Katalysator zivilgesellschaftlicher Prozesse,
die gewaltfrei zur Revolutionierung der wirtschaftlichen und politischen
Machtverhältnisse führten. Nach dem poltischen Umbruch haben die
Kirchen in Deutschland diese Erfahrung bei ihrem großen Projekt der
Kirchenreform bisher leider völlig vernachlässigt.
3. Die christliche Gemeinde muss sich als konziliare Gemeinschaft
verstehen und auch organisieren. Das ist die Lehre, die ich aus dem
Konflikt zwischen institutioneller Kirche und gesellschaftskritischen
Gruppen in der DDR der achtziger Jahre ziehe. Der Gedanke eines
konziliaren Prozesses wurzelte auch in der langjährigen theologischen
Arbeit des Weltrates der Kirchen am Konzilsverständnis. Sie hatte dazu
geführt, „Konziliarität“ als eine Lebensform der christlichen Gemeinde
überhaupt zu verstehen. Hier gilt es jetzt weiter zu denken.
Konziliarität ist ein Einheitsmodell der Kirche, das nicht nur einer
hierarchischen Verfasstheit der Kirche widerspricht, sondern auch über
unsere repräsentativen Synodalverfassungen hinausgeht. Konziliarität
meint partnerschaftliche Konfliktaustragung und Konsensfindung, eine
versöhnte Verschiedenheit, die Gegensätze aushält und Unterschiede
gelten lässt. Sie meint einen Streit um die Wahrheit, der autoritäre
Dekretierung ebenso vermeidet wie pluralistische Vergleichgültigung der
Wahrheit. Sie gründet in einem Verständnis der Wahrheit, die sich nicht
primär in zeitlosen Begriffen und Definitionen manifestiert, sondern in
der Geschichte ereignet und dort „in alle Wahrheit leitet“. Konziliarität
wird der Pluralität des heiligen Geistes gerecht und befähigt die Kirche,
einer gelingender Pluralität in der Gesellschaft zu dienen. Wie weit dieses
Modell auch dem Zusammenleben mit anderen Religionen dienen kann,
wäre zu prüfen. Dies ist ja das neue Feld, in das der alte
kirchenkonzentrierte Konziliare Prozess heute hineingehen muss.
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4. und letztlich: Die Kirchen müssen sich selbst ökumenisch als
Gliedkirchen der einen universalen Christenheit begreifen. Nur so
können sie ihrer Verantwortung in der globalisierten Welt und im
eigenen Land entsprechen und vielleicht sogar zu Hoffnungszeichen einer
alternativen Globalisierung werden.
Ich sage dies auf dem Hintergrund der immensen Bedeutung, welche die
ökumenische Bewegung für die Kirchen und Gemeinden in der DDR
gewann. Ich sage es aber auch in der Beunruhigung über den
Bedeutungsschwund des Weltrates der Kirchen in der Gegenwart. Aus
den Mitgliedskirchen müssen neue Impulse zur Stärkung und
Vitalisierung der ökumenischen Bewegung hervorgehen, weil wir unsern
Auftrag „vor Ort“ nicht mehr wahrnehmen können, ohne in den globalen
und ökumenischen Zusammenhängen präsent zu sein.
Gerade dieses Letzte aber sage ich in dem der immer wieder neu
aufflackernden Staunen über die große Rolle, welche die
niederländischen Kirchen in der Ökumenischen Bewegung gespielt
haben. Ich danke Ihnen.
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