Vom Evangelium berührt und in Berührung mit HIV-Infizierten, ist das möglich? Helene van Erve, Buddy Care Limburg und Dominique Goblet, Bistum Lüttich Wie kann ich meinem Glauben und die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche mit meiner Arbeit mit HIV-Infizierten in Einklang bringen, wo die Rolle und der Beitrag der Kirche doch oft widersprüchlich sind und nicht immer mit der Praxis derjenigen übereinstimmen, die im Dienste dieser verwundbaren Mitmenschen stehen. Wie die Aussagen der Kirche und die konkrete Praxis der Nächstenliebe auf dem Gebiet HIV in Einklang bringen? Wie sich auf das Kapitel 25 des Matthäusevangelium beziehen, während die offizielle Kirche (sehr) oft den Aids-Opfern negativ gegenübersteht? Der Versuch, „Glaube“, „Kirche“ und „HIV“ in Einklang zu bringen, ist nicht einfach! Wenn wir einen Blick zurück werfen, „So war das von Seiten der katholischen Kirche“, so sagt Antoine Lion, Gründer der Vereinigung „Christen und Aids“, „erst einmal ein riesiger Fehlschlag“. Hatte die katholische Kirche ein offenes Ohr für Aids und dessen Botschaft? (Offb 2,7: Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt: Wer siegt, dem werde ich zu essen geben vom Baum des Lebens, der im Paradies Gottes steht.) Nein, sicherlich nicht…. Wer würde wagen zu behaupten, dass die Kirchen sofort den rechten Ton, die dem Evangelium entsprechenden richtigen Einstellungen und Haltungen gefunden haben? Im Gegensatz dazu zeigten sich seit 1985 zahlreiche Vereinigungen auf beeindruckende Weise großherzig und einfallsreich, erstaunlich solidarisch, und die Kirchen schienen nicht zur Stelle zu sein. Die Protestanten schwiegen, Katholiken gingen an die Öffentlichkeit, jedoch blieb nur die Verurteilung von Präservativen haften. Das Aufeinanderprallen von „Gesundheit“ und „Religion“ und dieser Wertekonflikt um die Sexualität gehören wirklich zu dem, was man den sozialen Konstrukt dieser Krankheit nennen kann. „Ja, die Kirchen sind da“, sagte Antoine Lion, „aber die Antwort liegt in uns, in jedem Einzelnen: für Zeiten der Krise sind wir mit inneren Kräften und ganz viel Energie ausgestattet; sie schlummern in uns, und Aids bringt sie zum Vorschein“. „ Haben wir nicht bei uns wie bei anderen wunderbare Möglichkeiten, kostbare Schätze an Großzügigkeit, Kreativität und Mut entdecken können, die im alltäglichen Leben unmöglich gewesen wären?1“ Mit anderen Worten - und das hängt von unserem Kirchenverständnis ab - wenn wir uns selbst als Kirche betrachten, Sie und ich, wenn eines ihrer Mitglieder sich um Kranke kümmert, dann ist es die Kirche, die sich kümmert, und das auf bewundernswerte Weise; jedes Mal, wenn eines ihrer Mitglieder selber krank ist, dann ist die Kirche selbst auch krank und leidet, denn wir sind alle Glieder eines selben Leibes im Respekt vor unserer Andersartigkeit. „Es gibt weder HIVPositive noch HIV-Negative, weder Kranke noch Gesunde“ (vgl. Gal 3,28), aber eine Gemeinschaft mit einer gemeinsamen Berufung: die Liebe. Wir waren wohl alle schon einmal in einer Situation der ‚Unvereinbarkeit“…. z.B. zwischen zwei Rednern verschiedener Meinung sitzend; und doch! Ist es naiv, darin einen zusätzlichen Reichtum oder Mehrwert zu sehen? Wer unter uns hat noch nie ähnlich Worte gehört wie… „Du kümmerst dich um HIV-Infizierte; deine Kirche ist bereit sie zu begleiten, wenn sie gestorben sind, hilft ihnen aber nicht zu leben und interessiert sich nicht für sie, bevor sie krank sind!“ Was antworten wir dann? Ein Freund schrieb mir 1 Antoine Lion : Journal Chrétien et sida N°1. einmal auf einem Zettel während einer Versammlung: „Die Kranken sind die Kirche, die Kirchen sind krank“. Glauben und HIV näherbringen, bedeutet, sich willentlich einer Turbulenzzone „auszuliefern“, dort, wo die „neue“ Welt von AIDS - mit den dazugehörigen Ängsten und Leiden, Hoffnungen und Fragen, mit der Unerbittlichkeit, aber auch mit Hilfsmitteln und Großzügigkeit - dem „alten“ Universum der Christen begegnet - mit ihren geistigen Kräften, ihren bedeutenden Texten, ihren wertvollen Traditionen, ihrer Erfahrung der Tiefen des Menschen. „Die Religionen befragen die Krankheit; und die Krankheit befragt ebenfalls die Religion“. Da, wo das Christentum empfänglich wird für Befragungen aus anderen Bereichen, da, wo es seine Schätze mit jenen von anderen Bereichen teilt, dort findet unser Glauben auch seine Nahrung. Bis an die Grenzen gehen, jenen begegnen, die fern stehen und uns fremd sind, das bleibt immer eine Herausforderung. Seit Mitte der 80er-Jahre haben sich überall auf der Welt Frauen und Männer mit unglaublichem Mut, Phantasie und Großherzigkeit für den Kampf gegen diese Krankheit eingesetzt; sie haben Präventionskampagnen organisiert, infizierte Menschen unterstützt usw. „Manchmal entdeckt man, ohne es auszusprechen, vielleicht aus Angst es auszusprechen, dass die Kirche Initiator vieler dieser Kampagnen und unterstützender Maßnahmen war; es schien, als schämte sich die Kirche, es zu sagen, als ob das Thema der damit zusammenhängenden Sexualität ihr Angst einflöße. So als ob man Brüdern und Schwestern hilft, von denen man jedoch nicht spricht, die man versteckt. Eine Art Schattenbereich – halb im Dunkeln! Handelt, sprecht aber bitte nicht darüber.“2 Auch ist da einerseits die „Wut“ vieler Christen, die in diesem ‚Schattenbereich’ arbeiten und helfen. „Die Wut angesichts dieses Unheils,“ sagte Antoine Lion, „das der Virus hervorruft, der sich immer weiter ausbreitet, von Leib zu Leib, von Blut zu Blut, bei uns und auf der ganzen Welt. Wut auch angesichts all der Menschen, die in ihrem Leid nach (materieller, moralischer und spiritueller) Unterstützung gesucht haben und sie nicht erhalten haben... Und andererseits ist da aber auch der Glaube: in Bewunderung vor all den Menschen, die den leidgeprüften Aidskranken beistehen, vor der Großherzigkeit so vieler freiwilligen Helfer, Pfleger und anderen Fachkräften….“ Der Dominikaner Timothy Radcliffe wagte 1992 in einer Predigt folgende Worte: « Wir sind oft wütend auf die Kirche, wenn sie einem Problem aus dem Weg geht oder wenn sie sich mit Präservativen verzettelt. Wir sind wütend, weil wir sehen, dass Christus in diesen Prüfungen gegenwärtig ist, dass er mit und durch die Brüder und Schwestern leidet. Der Leib Christi hat Aids… » « Wie die Aussagen der Kirche und die konkrete Nächstenliebe auf dem Gebiet HIV in Einklang bringen? » Könnte das Gleichnis von Jesus und der Samariterin nicht die Antwort sein? Im Evangelium bin ich immer wieder erstaunt über die Art Jesu auf Menschen zuzugehen. Wenn er jemandem begegnet, sagt er nicht: „Was hast du vorher gemacht?“, er sagt: „Du bist da und heute beginnen wir unseren gemeinsamen Weg“. Als er der Samariterin begegnet, sagt er zu ihr: „Hole deinen Ehemann!“ Sie antwortet ihm, dass sie keinen Ehemann habe. Jesus sagt, sie habe sieben gehabt. „Gib mir zu trinken“, sagt er ihr, und da geschieht etwas in ihr. Wie verschieden sie auch sind, sie entdecken, dass sie einander brauchen, gleich was vorher in ihrem Leben geschah. So können uns in Kontakt mit kranken und betroffenen Menschen Seiten des Evangeliums, Worte Jesu wie eine neue, nie gehörte Resonanz erscheinen und berühren. Ich glaube, dann geschieht etwas sehr Wesentliches! Christ sein wollen, ist das nicht immer ein Aufruf, eine Begegnung, ein Ändern der Sichtweise? Für die breite Öffentlichkeit haben die Mehrfach-Therapien Aids 2 Marc Gentilini, Tempérer la douleur du monde, entretiens avec Jean-Philippe Caudron, éd. Bayard/Centurion 1996, p.58. den Garaus gemacht: das Interesse der Öffentlichkeit ist gesunken, die begleitenden Maßnahmen entwickeln sich immer weiter, bei den Erkrankten ersetzt die „Angst zu leben“ die „Angst zu sterben“. Jedoch weder die Frage des Umgangs mit der „Geheimhaltung“ noch die der „inneren Einsamkeit“ wurde wirklich behoben. Man kann sogar feststellen, dass diese beiden Aspekte komplexer werden trotz der neuen wissenschaftlichen Errungenschaften. „Wie sich auf das Kapitel 25 des Matthäusevangeliums beziehen, während die offizielle Kirche (sehr) oft den Aids-Opfern negativ gegenübersteht?“ Könnten wir uns nicht vorstellen, dass die Erkrankten im Laufe ihrer schweren Prüfung ähnliche Worte an ihre Begleiter und Helfer richten: „Ich hatte Durst nach Verständnis und du gabst mir zu trinken. Ich war ein Fremder, von allen verstoßen wegen meiner Angst einflößenden Infizierung, und du, du hast mich aufgenommen. Ich war nackt, all meiner Sicherheiten und Vorhaben beraubt, und du hast an mich geglaubt, mir wieder Hoffnung gegeben. Ich war krank, zerfressen von Sorge und manchmal von meinen Schuldgefühlen, und du hast mich getröstet“ ?3 Dominique Goblet 3 Djénane Kareh Tager, Joseph Templier, Chantal Joly, Des chrétiens dans la nuit du sida, éd. Desclée de Brouwer, 1994, p.73.