Protokoll 09. + 16.11.09 – propositionales Wissen, Wahrheit und Begründung Universität Konstanz – Institut für Philosophie – Wintersemester 2009/10 Veranstaltung: „Erkenntnis in Wissenschaft, Philosophie, Dichtung und Kunst“ Dozent: Prof. Dr. Gottfried Gabriel Student: Léon Homeyer, Philosophie MA 3.Semester, [email protected] In der Sitzung vom 09. November der Vorlesung Erkenntnis in Wissenschaft, Philosophie, Dichtung und Kunst referierte Prof. Dr. Gabriel über den Wissensbegriff der Wissenschaft. Wissenschaftliche Theorien setzen sich aus Aussagen zusammen, welche wiederum aus Begriffen konstruiert sind. Somit lässt sich eine Art Wahrheitskette konstruieren, in der die Begriffe, abhängig von ihren Definitionen, Einfluss auf die Wahrheit von Aussagen, also propositionalen Wissen nehmen, und diese ihrerseits Theorien konstruieren und deren Wahrheitsanspruch bestimmen. Prof. Dr. Gabriel betonte die elementare Funktion der Begriffe in dieser Kette und machte darauf aufmerksam, dass unterschiedliche Definitionsansätze mit verschiedenen Interessen einhergehen. Die Gliederung in Begriffe, Aussagen und Theorien stellt eine klassische Einteilung der Wissenschaftstheorie dar und lässt sich auf Kants Unterteilung der Logik zurückverfolgen. Hier differenziert Kant innerhalb der logischen Elementarlehre die Lehre vom Begriff, die Lehre vom Urtheil und die Lehre vom Schluss. Im Folgenden explizierte Prof. Dr. Gabriel sein Verständnis einer Behauptung. Behauptungen nehmen die mittlere Position der Wahrheitskette ein. Die Bezeichnung Behauptung ist der der Aussage vorzuziehen, da Aussagen eine weitaus größere Anzahl von Sprechakten bezeichnen, die nicht zwingend einen „harten“ Wahrheitsanspruch geltend machen. So präsentieren sich nach Austin und Searle auch pragmatische Sprechakte wie „Hier zieht es.“ als Aussagesätze. Der Sprecher erhebt mit der Äußerung solcher Aussagesätze allerdings keinen Wahrheitsanspruch, den er von seinen Mitmenschen bestätigt wissen möchte, sondern äußert eine Aufforderung, dem angemerkten Missstand ein Ende zu bereiten, z.B. ein Fenster zu schließen etc.. Damit eine Aussage eine Behauptung wird und dem „harten“ propositionalen Wissensanspruch der Wissenschaft genügt, muss sie drei Bedingungen erfüllen. I. Aufrichtigkeitsbedingung Der Sprecher, der eine Behauptung äußert, muss deren Inhalt selbst glauben. In Beziehung zu seinen sonstigen Äußerungen, darf sich kein pragmatischer bzw. performativer Widerspruch einstellen. Beispiel: „Konstanz liegt am Bodensee und ich glaube nicht, dass Konstanz am Bodensee liegt.“ II. Ernsthaftigkeitsbedingung Der Sprecher muss bereit sein, seine Behauptung nach den Gesetzen der Logik zu begründen. 1 III. Konsequenzbedingung Der Sprecher muss Konklusionen, die sich aus von ihm geäußerten Prämissen schließen lassen, anerkennen. Ansonsten würde sich nach der Regel des modus tollens auf die Falschheit der Ausgangsprämisse schließen lassen. Diese Explikation der Bedingungen einer Behauptung entspricht der klassischen, platonischen Erläuterung des Wissens als begründeter, wahrer Glaube. Begründet = Ernsthaftigkeit, wahr = Konsequenzbedingung und Glaube = Aufrichtigkeit. Verschiedene Wahrheitstheorien formulieren unterschiedliche Erläuterungen zum Wahrheitsbegriff: I. Korrespondenztheorie der Wahrheit Die Korrespondenztheorie Entsprechung von Satz der und Wahrheit Sachverhalt. versteht Alfred unter Tarski Wahrheit bringt die dieses Übersetzungsschema von Wahrheitsansprüchen in die Formel: „p“ ist wahr, genau dann, wenn p. Die Anführungszeichen verweisen auf einen metasprachlichen Gebrauch einer Proposition, die genau dann wahr ist, wenn der tatsächliche Sachverhalt in der Welt ihr entspricht. II. Konsenstheorie der Wahrheit Welcher Wahrheitswert eine Behauptung zukommt wird nach dieser Theorie im rationalen Diskurs über die Behauptung und anschließend gefunden Konsens entschieden. Man darf diese Auffassung von Wahrheit, zu der sich auch die Diskurstheorie der Frankfurter Schule (Habermas/Apel) Konstruktivismus aus Erlangen (Kamlah/Lorenzen/Lorenz) und der zählen, allerdings nicht spöttisch als „Diktatur des Sitzfleisches“ verkennen. Anders als in manchen Plena der ´68er wird nicht der faktische Konsens, der nach einigen Stunden der Diskussion unter den hartnäckig Verbliebenen gefunden wurde, verfolgt, sondern ein idealer Diskurs, der frei von Macht- und Herrschaftsgefügen agiert, als Instrument genutzt, um den faktischen Diskurs zu kritisieren. Nichts desto Trotz schließt selbst ein idealiter gefundener Konsens keinen Irrtum im Sinne der Konsenstheorie aus. Die Eigenschaften „wahr“ und „begründet“ aus unserer Ausgangsumschreibung müssen geschieden bleiben. III. Kohärenztheorie der Wahrheit Dieser Ansatz verfolgt eine holistische Argumentation, in der sich die Wahrheit einer Behauptung erst aus dem Zusammenhang mit anderen Aussagen des 2 Sprechers ergibt. Anhänger dieser Wahrheitstheorie akquirieren sich aus den unterschiedlichsten philosophischen Strömungen: Hegel, Neurath, Quine. IV. Redundanztheorie der Wahrheit Die Bezeichnung Theorie verfehlt den Kern dieses Ansatzes, ist es doch keine komplexe Argumentation für ein bestimmtes Verständnis von Wahrheit, sondern ein Verweis auf die Überflüssigkeit des Wortes „wahr“. Nach Frege wohnt bestimmten Aussagen eine „behauptende Kraft“ bei, die ihren Wahrheitsanspruch impliziert und ein Reden über Wahrheit hinfällig macht. Der Verzicht auf das Wahrheitsprädikat in der Rede lässt aber keineswegs den Schluss zu, der Begriff der Wahrheit sei irrelevant. Eben dieser ist zentral für unser Verständnis der Welt, lässt sich aber nicht definieren, da wir einem infiniten Regress unterliegen würden, der einer Definition der Wahrheit immer wieder einen Wahrheitsanspruch unterstellt. Vergleicht man nun die „vollwertigen“ Wahrheitstheorien I.-III. so zeigt sich, dass alle drei bestimmte Formen von Übereinstimmungstheorien sind. So legt die Korrespondenztheorie ihr Augenmerk auf die Übereinstimmung zwischen Behauptung und Realität, die Konsenstheorie verortet Wahrheit in der Übereinstimmung zwischen den Teilnehmern eines idealen, rationalen Diskurses und für die Kohärenztheorie ergibt sich Wahrheit aus der Übereinstimmung von Behauptungen innerhalb einer Theorie. Eine „echte“ Definition des Wahrheitsbegriffes ist nicht möglich, da er so basal für unsere Sprechakte ist, dass keine Zergliederung in elementarere Bestandteile denkbar ist. Wir müssen uns vielmehr mit kategorialen Erläuterungen begnügen, die die verschiedenen Wahrheitsansprüche der Wissenschaften und darüber hinaus umschreiben. Die Wahrheitstheorien I.-III. lassen sich als Wahrheitsfeststellungstheorien verstehen und stehen somit als Operationsbeschreibungen nicht in definitorischer Konkurrenz. anschließend ergeben sich keine unterschiedlichen Wahrheitsbegriffe, Daran sondern unterschiedliche Formen der Begründung von Wahrheit, was vor allem eine Betrachtung der Wahrheit in Dichtung und Kunst erleichtert. Prof. Dr. Gabriel betont, dass die augenscheinliche zeitliche Abhängigkeit des Zustands „wahr sein“ nur auf die Erkenntnisakte zutrifft. Die Erkenntnis (oder Verkenntnis) eines Wahrheitswertes findet in Raum und Zeit statt. Aus rein begrifflichen Gründen sind auf den Begriff der Wahrheit selbst allerdings keine Zeit- oder Ortindizes anwendbar. Unserem Verständnis der Ewigkeit von Wahrheit liegt kein intern-zeitliches Verständnis zugrunde, sondern gerade eine Unabhängigkeit von Zeit. 3 Nach der Explikation des Wahrheitsbegriffes fuhr Prof. Dr. Gabriel in der Sitzung vom 16. November mit der Untersuchung des Begriffs der Begründung fort. Die unterschiedlichen Wissenschaften vertreten verschiedene Auffassungen des Begriffs der Begründung. Besonders die Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften wird bei der Betrachtung der verschiedenen Begriffsexplikation unterstrichen. Prof. Dr. Gabriel machte an einem einfachen Beispiel das naturwissenschaftliche Verständnis von Begründung deutlich. Er äußerte die Hypothese, wenn er das Blatt Papier in seiner Hand loslassen würde, werde es zu Boden fallen. Auf die Nachfrage, warum dies so geschehe, wird man wie folgt argumentieren: „Wenn man einen Gegenstand loslässt, wird er zu Boden fallen.“ Diese Erklärung verbindet ein Naturgesetz mit einigen Rahmenbedingungen, die noch weiter ausgeführt werden könnten. Eine naturwissenschaftliche Erklärung orientiert sich bei der Argumentation an zwei grundlegenden Prinzipien: a) das Kausalprinzip besagt, dass nichts ohne eine Ursache geschieht. In gewisser Weise betreibt man eine metaphysische Rückschau, indem man immer nach der Ursache des beobachteten Phänomens sucht. Dieses regressive Vorgehen wird produktiv, schließt man durch Verallgemeinerung auf bestimmte Naturgesetze, die den kausalen Zusammenhängen zu Grunde liegen. Das Bedürfnis allerdings, den infiniten Regress dieses Fragens abzuwenden und nach dem „unbewegten Beweger“ zu suchen, macht das Kausalprinzip zum „Einfalltor der Metaphysik“. b) das Kausalgesetz statuiert, gleiche Ursachen haben gleiche Wirkung. Ihm kommt daher eine prognostische Funktion zu und ermöglicht es, Naturgesetze als allgemeine Prognosen Formeln der abzuleiten. Naturwissenschaft Dieses zu formulieren progressive Verfahren und aus ihnen macht die Naturwissenschaften zu einem hypothetisch-deduktiven System. Im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Erklärung lässt sich Begründung auch als formaler Beweis versteht. Auch hier wird ein regressives Bemühen unternommen, um Axiome zu beschreiben, die gewisse Bedingungen erfüllen müssen. Sie müssen sowohl widerspruchsfrei sein, als auch vollständig und unabhängig, d.h. aus dem Set von Axiomen müssen sich alle Aussagen der Theorie ableiten lassen und kein Axiom darf sich aus einem anderen begründen oder ihm widersprechen. Das progressive Vorgehen der Ableitung von Beweisen aus den Axiomen einer Theorie ist somit nicht hypothetisch, sondern ein Schluss in einem axiomatisch-deduktiven System. Zum Abschluss der Sitzung erläuterte Prof. Dr. Gabriel, dass wir bei Nichteintreten einer Naturwissenschaftlichen Prognose dazu tendieren, die Rahmenbedingungen auf störende Ursachen zu untersuchen, bevor wir eine bis dato bewährte Theorie anzweifeln. Streng genommen falsifiziert ein Gegenbeispiel allerdings die Allaussage. Empirische Allaussagen sind induktive Vermutungen, die sich nie verifizieren lassen. 4