2.1 Exkurs: Was ist Wahrheit?

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1.2
Glaube und Offenbarung
Exkurs: Was ist Wahrheit?
I. Was ist Wahrheit? Lebensweltliche Phänomene
1. In den Situationen des Alltagslebens kommt „Wahrheit“ vor allem in zwei Kontexten zur
Sprache. Einerseits wird „Wahrheit“ dort angesprochen, wo die Angemessenheit einer deutenden
Handlung (Verstehen, Deutung, Erklärung, Umgang mit etwas...) gegenüber einem Sachverhalt
zur Debatte steht – im empörten Protest: („Das ist doch nicht wahr!“) oder in der emphatischen
Aufforderung zur Wahrhaftigkeit wie beim Schwur (Schwören Sie die Wahrheit zu sagen, die
reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit!). Andererseits wird auf „Wahrheit“ dort Bezug
genommen, wo etwas in dem, was es selbst ist, in seiner angemessenen Beziehung zu uns
erscheint: „wahre Freundschaft“, „wahres Glück“, „die wahre Hölle“.
2. In der Vielfalt der Verwendungsweisen erweist sich „Wahrheit“ als ein Beziehungsbegriff, der
unsere Beziehung zu einem Sachverhalt und die Beziehung eines Sachverhalts zu uns
thematisiert. Die Vielfalt dieser Beziehungsweisen spiegelt sich in den Ausdrücken, die das
Gegenteil von „Wahrheit“ formulieren: Falschheit, Irrtum, Täuschung, Verblendung, Lüge,
Fälschung, Betrug... Die „subjektive“ Beziehung der Wahrhaftigkeit bemisst sich dabei an der
„objektiven“ Beziehung des Sachverhalts zu uns. Diese doppelte Beziehung wird in der
traditionellen Definition des Wahrheitsbegriffs als Angemessenheit von Denken (Verstehen etc.)
und Sache zum Ausdruck gebracht, die – genau betrachtet ein Doppeltes beinhaltet: die
Angemessenheit des Denkens gegenüber seinem Gegenstand und die Erschlossenheit des
Gegenstandes für das Verstehen.
II. Die Wahrheitsfrage in den Wissenschaften
3. Wissenschaft kann als Familie von Tätigkeiten bestimmt werden, die der methodisch
reflektierten
und
regulierten,
kommunikativ
vermittelten
Untersuchung
von
Gegenstandsbereichen gewidmet sind mit dem Ziel ihrer systematischen Erfassung im Modus
des Erklärens und Verstehens zum Zweck der Erweiterung des Wissens im Horizont der
Gestaltung gelingenden menschlichen Lebens auf der Erde. Die unterschiedlichen Kriterien
wissenschaftlicher Tätigkeit (methodische Reflexion und kritische Regulation, kommunikative
Vermittlung und praktische Relevanz) sind alle auf die Wahrheitsfrage bezogen. Die
Verpflichtung wissenschaftlicher Tätigkeit auf Wahrheit hat deswegen eine entscheidende
Funktion zum Schutz der Freiheit der Wissenschaft gegenüber ökonomischen, politischen, aber
auch religiösen und weltanschaulichen Interessen.
4. Wissenschaftliche Tätigkeit vollzieht sich in ihren unterschiedlichen Ausprägungen im
Horizont von meta-wissenschaftlichen, religiös-weltanschaulichen Basisannahmen, die sich auf
Grund, Sinn und Bestimmung des Menschseins im Kosmos und auf Grund und Verfassung der
Wirklichkeit beziehen. Für wissenschaftliche Tätigkeit konstitutiv ist die (meist stillschweigend
gemachte) Voraussetzung der Wahrheitsfähigkeit menschlicher Erkenntnis, d.h. die in der
Wirklichkeit selbst verankerte Verstehbarkeit für menschliche Erkenntnissubjekte, die
wissenschaftlich nicht zu begründen ist, aber durch den Erfolg der Wissenschaft und ihre
Fähigkeit zur Selbstkorrektur bestätigt wird.
Christoph Schwöbel, Dogmatik im Grundriss
Sommersemester 2006
III. Christliche Theologie im wissenschaftlichen Diskurs
5. Wissenschaftsgeschichtlich gesehen vollzieht sich im Abendland der Prozess der
Ausdifferenzierung der Wissenschaften als Prozess ihrer Emanzipation zunächst von der
Theologie und sodann von der Philosophie als dem integrativen Interpretationsrahmen aller
Wissenschaft. Christlich-theologische Basisannahmen, die die Entwicklung der Wissenschaft im
Abendland geprägt haben, sind in diesem Emanzipationsprozess in säkularisierter Form als metawissenschaftliche Basisannahmen in den Prozess der Wissenschaftsentwicklung eingegangen: der
Gedanke der Einheit der Wirklichkeit und der Einheit der Wahrheit, die Auszeichnung
kontingenter Erfahrung als Weg zu wahrheitsfähiger Erkenntnis (begründet in der Inkarnation
des ewigen Logos) und das Verständnis des Universums als einer kontingenten kosmischen
Singularität von kontingenter rationaler Ordnung.
6. Als wissenschaftliche Selbstexplikation des christlichen Glaubens ist die Theologie an der
Universität einerseits an dieselben Methoden gebunden wie alle anderen Wissenschaften,
andererseits thematisiert sie in ihrer Reflexion auf den Zusammenhang von christlichem Glauben
und christlicher Theologie exemplarisch explizit die meta-wissenschaftlichen Basisannahmen, die
in allen wissenschaftlichen Tätigkeiten meist implizit wirksam ist. Die Aufgabe der Theologie an
der Universität besteht deswegen auch darin, einen Ort für einen institutionalisierten Dauerdialog
über die weltanschaulich-religiösen meta-wissenschaftlichen Basisannahmen wissenschaftlicher
Tätigkeit zu bieten.
IV. Das Wahrheitsbewusstsein des christlichen Glaubens
7. Christlicher Glaube als lebensbestimmendes Vertrauen auf Gott den Vater, den Sohn und den
Heiligen Geist ist von einem spezifischen Wahrheitsbewusstsein getragen, das durch die
wechselseitige Bedingtheit seiner Konstitution und seines Inhalts charakterisiert ist. Konstituiert
wird der christliche Glaube durch die von Gott dem Heiligen Geist gewährte personale Evidenz
in Bezug auf die Wahrheit der Christusbotschaft als Offenbarung des Verhältnisses Gottes des
Schöpfers zu seiner Schöpfung. Dieses Wahrheitsbewusstsein schließt als subjektive Gewissheit
einer objektiven Wahrheit ein stets nur perspektivisch zu vertretendes umfassendes
Wirklichkeitsverständnis ein, dessen Inhalt als Glaube an Gott, den Schöpfer, Versöhner und
Vollender der Schöpfung formuliert wird.
8. Nach dem Verständnis des christlichen Glaubens ist alle Wahrheitserkenntnis in
Erschließungsereignissen begründet, in denen die Wirklichkeit in ihrer Bestimmtheit für das
menschliche Erkennen vom menschlichen Erkennen erfasst wird. Die Wahrheitsfähigkeit der
Erkenntnis ist in der Verfassung der Schöpfung begründet, die durch den Schöpfer für die
Erkenntnis durch den Menschen erschlossen wird. Die Wahrheit der Schöpfung in ihrer den
Prozessen weltlichen Geschehens realisierten dauernden Bestimmtheit ist nach dem Verständnis
des christlichen Glaubens in der Wahrhaftigkeit des Schöpfers begründet. Gott wird in dieser
Weise als der Ort der Einheit der Wahrheit und der Einheit von Wahrheit, Schönheit und Güte
verstanden. Daraus ergeben sich fundamentale Konsequenzen für das wissenschaftliche Handeln:
Als Erkenntnisbemühung, die die Erkennbarkeit der Schöpfung als Werk des Schöpfers
voraussetzt, gehört Wissenschaft zur geschöpflichen Bestimmung des Menschen. Sie ist aber stets
so zu vollziehen, dass sie sich der Einheit von Wahrheit, Güte und Schönheit in allen ihrer
Vollzügen ebenso bewusst bleibt wie ihrer eigenen Fehlbarkeit (Sünde), die stets zur Selbstkritik
verpflichtet und sie stets neu auf Erschließung und Entdeckung der Wahrheit angewiesen sein
lässt. Die Verantwortung der Wissenschaft gehört darum nach dem Verständnis des christlichen
Glaubens konstitutiv zu ihrem Charakter als Wissenschaft.
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