/DEKANATSKONFERENZ – 13. 9. 2012 Peter Hofer „DAS ZWEITE VATIKANUM - NEUSTART DER KIRCHE AUS DEN WURZELN DES GLAUBENS ODER BETRIEBSUNFALL?“ Das kirchenpolitisch herausragendste Ereignis dieses Jahres liegt in der Vergangenheit: der 50. Jahrestag der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils. In diesem Datum liegt freilich mehr Bedeutung als der Charme einer runden Zahl, eines halben Jahrhunderts: Das „Historische“ des Konzils tritt nun, nachdem sich der Pulverdampf des Ereignisses verzogen hat, endgültig ins Bewusstsein, die noch lebenden Zeugen und Mitgestalter des Konzils werden immer weniger, vor allem aber steht dessen Zukunft, seine bleibende Bedeutung, seine Relevanz auf dem Spiel. In den nächsten 50 Jahren wird sich die „Hermeneutik des Konzils“ und deren Verbindlichkeit entscheiden. Wird es der katholischen Kirche gelingen, das Konzil weder zu einem toten Buchstaben erstarren zu lassen, noch seinen Geist immer wieder aufs Neue hilflos zu beschwören. Wird es ihr gleichzeitig gelingen, seine Wirkungsgeschichte nicht zu vergessen? Unter diesen Gesichtspunkten betrachtet, tritt möglicherweise das Konzil sogar erst jetzt in seine kritischste Phase. Damit meine Position – im Sinne der Überschrift über den heutigen Abend: Konzil - Neustart oder Betriebsunfall? - gleich von Anfang an klar ist: ich halte das II. Vatikanische Konzil für ein neues Pfingsten, für eine Explosion des Hl. Geistes. Seit dem Konzil probt das Volk Gottes - mit guten biblischen Gründen - den aufrechten Gang. Der ist freilich schwer zu lernen und kaum ohne Stürze, ja ohne Abstürze ins Weglose und Abwegige zu haben. Aber wie man einem Kind doch nicht zureden darf, das Laufen gar nicht erst zu lernen, weil es dabei nicht ohne blutige Knie und ohne Schrammen abgeht, darf die Kirche doch nicht auf den aufrechten Gang der Glaubenden verzichten wollen, nur um des Wagnisses willen, der in ihm steckt. Wer retten will, muß wagen. Es bedarf heute - fünfzig Jahre nach dem „ersten Mut“ des Aufbruchs und der -2Selbstreform - des „zweiten Muts“1 der Bischöfe und Theologen und des in seiner Autorität angerufenenen Gottesvolkes, des Mutes zur konkreten Phantasie, zum konkreten Engagement, wenn sich die Fragen und Schwierigkeiten türmen. Da genügt es nicht, unkommentiert mit Konzilszitaten zu wedeln. Die Wahrheit der Erneuerung wird erst lebendig, wo sie zur Wahrhaftigkeit der Kirche und zur Glaubwürdigkeit der Gläubigen selbst wird, wo sie ihre Basis gewinnt in der gewandelten Gemeinschaft der Glaubenden. 1. Einen ersten Zugang zur bleibende Bedeutung des Konzils möchte ich mit einem technischen Vergleich versuchen2: Jeder, der es genießt, in Zeiten neuer Medien zu leben und zu kommunizieren, kennt das Passwort-Problem. Dauernd wird man nach der persönlichen Codierung aus einem Namen und einem selbst zu wählenden Passwort gefragt. Ist das Passwort dann eingetragen, wird der Zugang in das gewünschte Programm gewährt. Aus >access denied< wird >access granted<. Auch das Zweite Vatikanum kennt das Zugangs- und darum auch das Passwort-Problem. Es schildert diese Situation an prominenter Stelle, nämlich in der Offenbarungskonstitution Dei Verbum, dem Kronjuwel der Konzilsdokumente. Im Abschnitt 2 heißt es: » Gott hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen, sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens kundzutun: dass die Menschen durch Christus, das fleischgewordene Wort, im Heiligen Geist Zugang zum Vater haben (accessum habent) und teilhaftig werden der göttlichen Natur.« Christus ist sozusagen das fleischgewordene Passwort, um den >access< zum Vater zu haben. Willst Du in eine freundschaftliche Konversation mit dem großen Geheimnis der Welt und Deines Lebens eintreten, so leb' den Doppelklick auf Jesus: Sei so menschlich, dass man plötzlich ahnt, wer Gott ist. Diese Stelle aus DV 2 ist nun wirklich berühmt: Sie markiert den Wechsel von einem satzhaftem, auf die begriffliche Mitteilung von Glaubenswahrheiten fixierten Offenbarungsverständnis hin zu einem Offenbarungsverständnis, das von „herrschaftsfreier“ und unterstützender Kommunikation (lat. Communio) geprägt ist. Subjekt der Überlieferung ist nicht nur das Lehramt, sondern das ganze Gottesvolk. Die Empfänger der Verkündigung werden zu Co-Autoren der Offenbarung, insofern man diese als Diesen „zweiten Mut“ fordert J. B. METZ in seiner Einleitung zur Neuausgabe des wichtigen Büchleins von K. RAHNER, Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance, Freiburg i. Br. 1989. 2 Den Hinweis verdanke ich Matthias SELLMANN, in: DIAKONIA 43/2012, 121-123. 1 -3kommunikatives Ereignis versteht. Das Kirchenvolk wird zur Gänze in das lebendige Geheimnis, das die Kirche ist, miteinbezogen.3 Allerdings braucht es von dieser fundamentalen Aussage der Kommunikativität der Offenbarung eine weitere Brücke in die Konkretion hinein, wie denn der kommunikative Glaube einer kommunikativen Kirche genau aussähe. Diese Brücke wird in einer Textpassage aus Gaudium et spes gebaut, die übrigens mit DV 2 sehr eng verknüpft ist. Beide Formulierungen wurden erst in den letzten Wochen des Konzils in die Texte eingetragen; beide sind theologieverwandt; beide sprechen nicht nur von Passwörtern, sondern sind es selbst - zumindest für mich und mein Verständnis von Pastoral und Theologie. Gemeint ist GS 44: »Von Beginn ihrer Geschichte hat sie [die Kirche] gelernt, die Botschaft Christi in der Vorstellungswelt und Sprache der verschiedenen Völker auszusagen und darüber hinaus diese Botschaft mit Hilfe der Weisheit der Philosophen zu verdeutlichen, um so das Evangelium sowohl dem Verständnis aller als auch berechtigten Ansprüchen der Gebildeten angemessen zu verkündigen. Diese in diesem Sinne angepasste Verkündigung des geoffenbarten Wortes muss ein Gesetz aller Evangelisation bleiben. [»Quae quidem verbi revelati accomodata praedicatio lex omnis evangelizationis permanere debet.«] Denn so wird in jedem Volk die Fähigkeit, die Botschaft Christi auf eigene Weise auszusagen, entwickelt und zugleich der lebhafte Austausch zwischen der Kirche und den verschiedenen nationalen Kulturen gefördert. [...] Es ist jedoch Aufgabe des ganzen Gottesvolkes, vor allem auch der Seelsorger und Theologen, unter dem Beistand des Heiligen Geistes auf die verschiedenen Sprachen unserer Zeit zu hören, sie zu unterscheiden, zu deuten und im Licht des Gotteswortes zu beurteilen, damit die geoffenbarte Wahrheit immer tiefer erfasst, besser verstanden und passender verkündet werden kann.« DV 2 und GS 44 sind zwei Passwörter: Endlich ist Christsein nicht mehr das geduckte Aufspannen des Regenschirms gegen die Unwetter der Gegenwart, sondern die Entdeckung, dass man im Regen tanzen kann. 3 Das Versagen des alten, vorkonziliaren Schemas über die Offenbarung hat den Durchbruch dessen eingeleitet, dem das Konzil seine eigene neue und erneuernde Signatur auf dogmatischem Gebiet zu verdanken hat. -42. In 5 Stichworten, die ich im Indikativ formuliere, die aber recht eigentlich ein Imperativ an die Kirche von heute und morgen sind, möchte ich die neuen Aufgaben, die neuen Herausforderungen, die sich aus der bleibenden Bedeutung des Konzils ergeben, mehr andeuten als ausführen. 2.1. Konzil der Weltkirche Das II. Vatikanum ist der erste Akt in der Geschichte, in dem die Weltkirche amtlich sich selbst als solche zu vollziehen begann. Im 19. und 20. Jahrhundert ist die Kirche langsam und tastend aus einer potentiellen Weltkirche eine aktuelle Weltkirche geworden, aus einer europäisch-abendländischen Kirche mit europäischen Exporten in alle Welt zu einer Weltkirche, die, wenn auch in sehr verschiedenem Intensitätsgrad, in aller Welt präsent ist, und zwar nicht mehr nur als europäisch-nordamerikanische Exportware. Sie hat überall einen einheimischen Klerus, der seiner Eigenständigkeit und Selbstverantwortung bewußt geworden ist. Diese Weltkirche hat in der Dimension der Lehre und des Rechts auf dem Konzil zum erstenmal in geschichtlicher Deutlichkeit gehandelt. Von ihrer Wesensbestimmung ist sie eine Weltkirche. In ihrer Struktur und Hierarchie kennt sie keine Ausländer und "Fremde", von ihrem Auftrag und ihrem Ursprung her nicht Rassen, Sprachen, Nationalitäten und Unterscheidungen nach Geschlechtern oder nach Abstammungen, sie ist „Global Player“ ersten Ranges. Das Konzil war die Ursache der Abschaffung der gemeinsamen lateinischen Kultsprache. Ohne das Konzil, hätten wir überall in der Welt noch das Latein als Kultsprache. Man braucht kein Prophet zu sein, um zu behaupten, daß diese Änderung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. An ihr ändert sich auch nichts dadurch, daß vorläufig in Rom auf Latein die Urmuster für die regionalen Liturgien in den Muttersprachen hergestellt werden. Aber aus der Verschiedenheit der Kultsprachen wird sich in einem notwendigen und unumkehrbaren Prozeß eine Verschiedenheit der Liturgien entwickeln. Die Liturgie der Gesamtkirche wird auf die Dauer nicht die Liturgie der Römischen Kirche in bloßen Übersetzungen sein, sondern eine Einheit in der Vielfalt regionaler Liturgien, von denen jede ihre Eigenart hat, die nicht in ihrer Sprache allein besteht. -5Der Pfingstgeist bildete die Konturen der neuen Welt heraus, indem er aus der Gemeinschaft der Sprachen die Gemeinschaft des Tisches, die Gemeinschaft der Güter im gemeinsamen Haben und Schenken wachsen ließ. So ist es auch heute: Die neue Welt ersteht dort, wo wir miteinander teilen. Ihr Ort ist zwischen den Hälften gebrochenen Brotes. Kultur des Teilens tut not. Die Zeit der Almosen ist vorbei. Wir können in unserem Vaterland, in Europa, in der Welt nicht eins werden, ja wir können nicht einmal leben, wenn wir nicht umkehren zu einer radikalen und universalen Solidarität. Teilen, das heißt freilich Partnerschaft. Es heißt nicht: ich teile mit dir mein Brot, sondern: wir teilen miteinander unser Brot. Teilen, das heißt: ich empfange, indem ich gebe, und mein Geben bevormundet nicht, sondern lernt. Der Ansatz bei der Gegenseitigkeit von Geben und Nehmen ist fällig. Helfen setzt nicht bei der Armut, sondern beim Reichtum dessen an, der Hilfe braucht. Das ist nicht romantische Verkennung harter Tatsachen, es ist der Stil der Weltkirche, es ist die einzige Chance für ein einswerdendes Europa in der einswerdenden Welt. Ein Blick auf die gegenwärtige Gefühlslage der europäischen Christenheit scheint mir den Eindruck zu vermitteln, daß sich der Grauschleier einer großen Verdrossenheit und Müdigkeit ausgebreitet hat. Nicht wenige Christen in Mitteleuropa meinen, man könne überall Christ sein, nur eben nicht in Europa. Die Realisation des Evangeliums geschieht anderswo. Die anderen Erdteile sind der Ort, auf dem man vom eigenen wegblickt. Südamerika zieht an mit seinem Pathos der Befreiung. Asien verspricht und fordert Ganzheit, Harmonie und Heimkehr zur ursprünglichen Natur. Afrika spricht noch nicht so deutlich, aber es besteht auf Identität und findet Gehör, wo sich die Drohung der Anonymität und der Heimatlosigkeit meldet. Das Ursprüngliche, das Neue und das Wirkliche am Christentum wird nicht im Raum der Kultur gesucht, in der man lebt, sondern in der fremden. Die Europäer wenden sich von ihrer Identität ab. Das Phänomen ist nicht zu bestreiten. Es gibt erstens einen Tourismus der eigentlichen Christen. Man fährt oft für sehr viel Geld nach Lateinamerika, Asien und Afrika, und heimgekommen hält man den Anspruch auf Kompetenz und Autorität nicht zurück. Um christliche Zuständigkeit zu erreichen, muß man eine Reise tun. Zweitens werden in den anderen Traditionen und Erdteilen Inhalte entdeckt. Ihre Neuheit stammt oft daher, daß man den Fundus der eigenen Tradition nicht kennt. Dieselben Sätze des Glaubens, die in Europa Langeweile erzeugen, werden in Übersee spannend, ohne daß eine Änderung -6an ihrer Bedeutung geschahen wäre. Nur der Zauber der Fremde und der Entfernung ist dazu gekommen. Die wirkliche Solidarität des Lernens, des Leidens und des Glaubens entsteht aber nach aller Erfahrung erst, wenn die Christen des europäischen Festlandes in der redlichen Arbeit an ihrer Lage aufmerksam werden auf die Christen der anderen Erdteile. Erst dann werden sie nicht ihre Ressentiments, ihren Selbsthaß und ihre Unlust exportieren, in der schlechten Umkehr des Kolonialismus vergangener Zeiten. Als ein Wort des Auferstandenen ist uns die Weisung an „alle Völker” überliefert. Es steht also nachdrücklich in einem endzeitlichen Horizont. In diesem kann gesichtet werden, was die im 21. Jahrhundert voll in Erscheinung getretene und schicksalschwangere globale Verflechtung der Menschheit für die Heilsgeschichte anzeigt. Doch diese menschheitsgeschichtliche Lage überschreitet jeden Vergleich, und deshalb ist auch der christliche Glaube in einer Lage, die jeden Vergleich mit einer Epoche seiner Geschichte überschreitet. Die Bemühungen und Sorgen von Einheitskonstrukteuren sind verständlich. Gefordert aber ist, daß die Christen aller Konfessionen und in aller Welt, in Europa-Nordamerika, in Lateinamerika, in Afrika und in Asien, einander in den Blick bekommen, statt ihre jeweilige Situation absolut zu setzen. Dies gilt in besonderer Weise auch für die römisch-katholische Kirche gerade deshalb, weil ihre Geschichte auf die Weltkirche hindeutet. Aber „eine Einheitskirche ohne besondere regionale Ausprägungen und ohne eine gewisse Vielfalt an Glaubenshaltungen, Theologien und Spiritualitäten kann der Weltkatholizismus nicht sein” (David SEEBER). 2.2. Verhältnis zur Welt Die Pastoralkonstitution ist das gelungenste Dokument des 2. Vatikanums. Die in ihr vollzogene Öffnung der Kirche zur Welt, die ausdrückliche Anrede der Kirche auch an die nicht zu ihr Gehörenden, ist nicht mehr zu verschließen. Man kann in der Praxis vielfach dagegen verstoßen. Man kann ängstlich und engherzig wieder alle Aufmerksamkeit darauf wenden, »die Schäflein zusammenzuhalten« und sie gegen die Welt, der sich das Konzil geöffnet hat, zu immunisieren. Aber man kann nicht mehr sagen: Wir haben keine Botschaft für die Welt, die sich verstehbar auch für diejenigen aussagen läßt, die nicht als Glaubende oder auch um des Glaubens willen nicht zu ihr -7gehören. Man kann nicht ungeschehen machen, daß man einmal gesagt hat: und zwar unabhängig von Die Kirche ist Zeichen und universales Sakrament der Einheit der Menschheit mit Gott und untereinander. Die Welt kann und soll jederzeit fragen: Wie steht es denn mit der Hilfe, die du aufgrund der Botschaft uns anzubieten hast? Und sie wird von dieser Sozialkontrolle, wie schon bisher, Gebrauch machen - notfalls mit den gnadenlosesten Mitteln der modernen Massenmedien.4 Nach Gaudium et spes ist es Auftrag und Anliegen von Theologie und Kirche, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten, so daß sie in einer der jeweiligen Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben kann". Hier wird eine Kurzformel geboten, die prägnant das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz, von „Diesseits" und „Jenseits" benennt, wie es für das Wirken der Kirche in der Zeit typisch ist. Wer sie allein für das Zeitlose und Überzeitliche zuständig sieht, halbiert ihren Auftrag. Sie hat sich den Fragen zu stellen, die sich hier und jetzt stellen und zugleich über den Tag hinaus von Belang sind. Zugleich wird eine doppelte Focussierung der Verkündigung verlangt: Generationentypisch und biographienah einerseits, evangeliumsgemäß und von den Quellen des Glaubens inspiriert andererseits. Wenn die Kirche etwas zur spirituellen Orientierung in den sozialen Auseinandersetzungen und Konflikten moderner Gesellschaften beitragen will, muss sie auch auf die geistige Signatur der Zeit eingehen. Sachgemäß ist die Verkündigung des Evangeliums nur dann, wenn sie der jeweiligen Zeit gerecht wird. Man darf also die Sache des Evangeliums nicht trennen von der Zeit, in der sie jeweils zu vertreten ist. Und diese Zeit ist nicht von vornherein der Opponent oder Widerpart des Evangeliums. Für die Kirche gilt es, nicht allein die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums zu erfassen, sondern ebenso das Evangelium im Licht der Zeichen der Zeit zu deuten - und Zeichen zu setzen. Diese Aufforderung trifft zunächst und vor allem für die Kirche selbst zu. Die Kirche selbst ist - theologisch gesehen - ein Zeichen in der Zeit. Sie versteht sich selbst als „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit". Ihre dogmatische Bestimmung besteht darin, dass sie Ort und Ereignis der Veröffentlichung der „Sache Gottes mit den Menschen" ist. Hier geht es darum, wie Gott und Mensch gemeinsame Sache machen 4 Vgl. O. H. PESCH, Das Zweite Vatikanische Konzil, 335. -8können. Sache der Kirche ist es, sich der Erwartungen der Menschen an ein sinnvolles Leben in einer vom Evangelium geprägten Lebenskultur anzunehmen. Sie schreibt dabei jene Geschichte fort, die im Evangelium erzählt wird: wie Gott sich der Nöte und Hoffnungen der Menschen annimmt. Mit dieser Geschichte soll die Kirche Geschichte machen. Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche besteht darin, daß sie Öffentlichkeitsarbeit zu leisten hat für das Evangelium. Sie ist jener Ort, an dem Gott zur Sprache kommt und das Wort Gottes (das Evangelium) in der Gemeinschaft der Glaubenden mutig und kreativ praktiziert wird: aufbegehrend für die Unterdrückten, einladend für die Ausgestoßenen, suchend nach den Suchenden, barmherzig mit den Gestrauchelten. Ihr Ort ist bei den Menschen. Was diese von ihr zu warten haben, ist Solidarität - in den Worten von „Gaudium et spes": „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi". Wenn es gelingen soll, die Antreffbarkeit des Evangeliums in einer sich ständig wandelnden Welt auf Dauer zu sichern, kommt die Kirche aber nicht umhin, von Zeit zu Zeit ein „aggiornamento" vorzunehmen. Dabei genügt es nicht, nur von der Kirche etwas zu verstehen, d. h. sich in ihrem dogmatischen und kirchenrechtlichen Selbstverständnis auszukennen. Wer nichts von der Welt versteht, d. h. sich nicht in ihren Strukturen und Prozessen auskennt, wie sie sozialwissenschaftlich rekonstruiert werden, hat nichts begriffen vom Ort und von den Aufgaben der Kirche in der Welt von heute und versteht darum letztlich auch nichts von der Kirche. Zur theologischen Deutung der Kirche als „Zeichen Gottes in der Zeit" gehört daher, diese Deutung nicht ohne die Beachtung soziologischer Zeitansagen durchzuführen. Sie lassen sich verstehen als „Fremdprophetien", die aus einer nicht-theologischen Perspektive die theologisch bedeutsamen Zeichen der Zeit lesen. Sie fragen (durchaus kompatibel mit dem Ansatz des Konzils): Was drückt unserer Zeit und Gesellschaft den Stempel auf? Liegt in diesen Zeichen der Zeit eine kritische, problemanzeigende Bedeutung, so dass sie als Warnzeichen, als Menetekel einer Krise zu verstehen sind? Oder stellen sie einen „Wink des Schicksals" dar, der die Gunst der Stunde für die Realisierung eines lange geplanten Projekts anzeigt? -92.3. Theologie des Konzils Die Theologie des Konzils ist eine Theologie des Übergangs. Einerseits war die neuscholastische Theologie eine Selbstverständlichkeit. Sie dominierte in einer fast erschreckenden Weise in den Entwürfen, die für das Konzil von römischen Kommissionen vorbereitet worden waren, worin z. B. die Abstammung aller Menschen von einem Elternpaar (Monogenismus) und der „Limbus“ der ungetauften Kinder definiert werden sollten. Aber die Theologie des Konzils hatte doch auch eine andere Seite. Sie war biblischer als die Neuscholastik. Sie hatte sich, schüchtern und vorsichtig, Themen geben lassen, die nicht einfach aus dem Repertoire der Neuscholastik stammten. Sie übte eine gewisse Bremswirkung aus gegenüber einem theologischen Überschwang, z. B. in der Mariologie. Sie gab sich Mühe, so gut sie es vermochte, Rücksicht zu nehmen auf ökumenische Bedürfnisse, was ja in Rom vorher nicht selbstverständlich war. Sie war der Überzeugung, daß man theologisch auch etwas Wichtiges sagen kann, wenn man es nicht feierlich als Dogma verkündet oder als vermeintliche Irrlehre verurteilt. Was nach dem Konzil von der römischen Glaubenskongregation an Theologie erarbeitet und verkündigt wurde, ist doch wieder zu neuscholastisch in ihrer ängstlichen Abwehr moderner theologischer Versuche, zu ängstlich und zu wenig schöpferisch in den Fragen, die nun einmal die heutige Theologie bewegen. Die Theologie der Glaubenskongregation ist eine defensive Theologie, die warnt und verbietet, aber es nicht eigentlich fertigbringt, ihre (an sich vielleicht nicht immer unberechtigten oder überflüssigen) Verbote und Warnungen so aus einem lebendigen und großen Zusammenhang des ganzen Glaubens zu begründen, daß sie dem verständlich werden, der an sich bereit ist, aus diesem Ganzen glaubend zu denken und zu leben. Die Theologie soll entsprechend dem Konzil selbst eine Welttheologie werden, das heißt in den nicht-europäischen, nicht-nordamerikanischen Ländern nicht mehr als bloßer Export des Westens existieren. Lateinamerika hat schon ausdrücklich einen Anspruch auf eine eigene Theologie angemeldet. «Theologie der Befreiung» braucht für eine solche eigen-ständige lateinamerikanische Theologie nicht das einzige Stichwort zu bleiben. Vielleicht entwickeln auch Afrika und der Ferne Osten bald Theologien eigener Art in einer schöpferischen Auseinandersetzung mit ihren eigenen Kulturen. Wir im Westen brauchen uns deswegen noch lange nicht aufzugeben. - 10 Es ist ja nicht so, als ob die Theologie des Westens keine Aufgabe mehr hätte. Die Theologie des Westens hat auch heute einen gar nicht abschätzbaren Nachholbedarf. Sie müßte ja missionarisch sein; sie dürfte nicht nur in der bewährten Form der Tradition auf diejenigen hin denken und reden, die sich noch im Christentum und in der Kirche heimisch fühlen; sie müßte auf die andern hin denken, denen aus vielen Gründen das Christentum fremd geworden ist. 2.4. Ökumenischer Gesinnungswandel Das Konzil bedeutet eine Zäsur in der Geschichte des Verhältnisses der katholischen Kirche sowohl zu den anderen christlichen Kirchen und Gemeinschaften als auch zu den nichtchristlichen Weltreligionen. Natürlich waren zu allen Zeiten im Glaubensbewußtsein der Kirche in einer letzten Grundsätzlichkeit Überzeugungen enthalten, die das neu beginnende Verhältnis der katholischen Kirche zu andern christlichen Kirchen und Gemeinschaften und zu den nichtchristlichen Religionen grundsätzlich legitimieren. Aber früher wurden diese Überzeugungen für dieses Verhältnis nicht wirksam. Die Nichtchristen wurden einfach als die betrachtet, die in der Finsternis des Heidentums saßen und nur durch die Predigt des Evangeliums gerettet werden konnten. Die nichtkatholische Christenheit war aufs Ganze gesehen eben doch die Masse der Häretiker, die man freundlich oder drohend einlud, zur einzig wahren katholischen Kirche in einer Konversion zurückzukehren, ohne daß man dabei daran dachte, diese Rückkehr zur Einheit könne auch bedeutsame Veränderungen der katholischen Kirche mit sich bringen: z. B. die Überzeugung vom allgemeinen Heilswillen Gottes in Christus, die Lehre von einer Möglichkeit der Rechtfertigung ohne Sakramente, von dem impliziten Willen der Zugehörigkeit zur Kirche, von der Gültigkeit der Taufe auch außerhalb der katholischen Kirche und so fort. Die katholische Christenheit hat auf diesem Konzil eine andere, neue Haltung gegenüber den anderen Christen und ihren Kirchen und gegenüber den nichtchristlichen Weltreligionen ausdrücklich angenommen und als das wirklich Christliche ratifiziert. Vor dem Konzil betrachtete die katholische Kirche die nicht römischkatholischen Kirchen und Gemeinschaften als Organisationen von Häretikern, als Gesellschaften von Menschen, die sich von der alten Kirche nur durch Irrtümer und Mängel unterscheiden und zu ihr zurückkehren sollen, um da die volle Wahrheit und die Fülle des Christentums zu finden. Für die alte Auffassung waren die nichtchristlichen - 11 Religionen im Ganzen nur die schreckliche Finsternis des Heidentums, das, was der Mensch sündig und gnadenlos aus sich allein an Religion produziert. Daß bei einer ökumenischen Einigung die nichtkatholischen Kirchen auch ein positives Erbe an Geschichte des Christentums in die eine Kirche der Zukunft mitbringen können, das so in der alten Kirche nicht gegeben war, daß die nichtchristlichen Religionen auch in ihrer Institutionalität eine positive Heilsfunktion für die nicht-christliche Menschheit ausüben können, das alles war explizit im faktischen Bewußtsein der Kirche nicht da, ist aber jetzt in ihm gegeben und kann daraus nicht mehr ausgeschieden werden, weil es nicht als eine liberale Mentalität der Moderne, sondern als Element der christlichen Überzeugung als solcher erfaßt ist. 2.5. Universaler Heilsoptimismus Augustinus hat eine Betrachtung der Weltgeschichte inauguriert und sie die Christenheit gelehrt, in der aus der Unbegreiflichkeit der Verfügung Gottes heraus die Weltgeschichte die Geschichte der „massa damnata“ blieb, aus der letztlich nur wenige durch eine selten gegebene Auserwählungsgnade gerettet wurden. Die Welt war für ihn finster und nur schwach erhellt durch das Licht der Gnade Gottes, deren Ungeschuldetheit sich in ihrer Seltenheit manifestierte. Wenn Augustinus auch da und dort einmal wußte, daß viele in der Kirche sind, die draußen zu sein scheinen und umgekehrt, so war doch für ihn der Kreis derer, die gerettet und selig werden, fast identisch mit dem der christlich und kirchlich explizit Glaubenden. Die übrigen bleiben auf Grund eines unbegreiflich gerechten Gerichts Gottes in der „massa damnata“ der Menschheit, und im ganzen birgt doch die Hölle das Ergebnis der Weltgeschichte. Dieser Heilspessimismus Augustinus' wurde in einem unsäglich mühsamen Prozeß im theoretischen und existentiellen Bewußtsein der Kirche umgebaut und langsam verwandelt. Von den Feuerqualen der ungetauft sterbenden Kinder bis zur Abschaffung des „Limbus“ durch die heutigen Theologen, obwohl ein Entwurf für das Konzil diesen Limbus noch lehren wollte, war ein ungeheuer langer Weg. Aber alle diese Stück für Stück errungenen Einsichten eines Heilsoptimismus, der nur an dem bösen Willen des einzelnen Halt macht und dabei hofft, daß die Macht der Gnade diese Bosheit noch einmal in freie Liebe zu Gott verwandelt, diese Einsichten hatte die - 12 Kirche bis zum Konzil noch nicht eigentlich mit einer letzten Entschiedenheit ratifiziert und gelehrt. Das Konzil aber sagt, daß selbst der, der meint Atheist sein zu sollen, mit dem österlichen Geheimnis Christi verbunden ist, wenn er nur seinem Gewissen folgt, daß jeder Mensch in einer Weise, die nur Gott kennt, mit dessen Offenbarung in Berührung steht und wirklich, im theologischen Sinn einer heilshaften Tat, glauben kann. Da wird gesagt, daß auch die, die in Schatten und Bildern den unbekannten Gott suchen, dem wahren Gott nicht fern sind, der will, daß alle Menschen gerettet werden, wenn sie nur ein rechtes Leben zu führen sich bemühen. Da wird betont, daß die Kirche nicht so sehr die Gemeinschaft der allein Geretteten ist, sondern das sakramentale Ur-Zeichen und die Keimzelle des Heils für die ganze Welt. Früher fragte die Theologie ängstlich, wie viele aus der „massa damnata“ der Weltgeschichte gerettet werden. Heute fragt man, ob man nicht hoffen dürfe, daß alle gerettet werden. Eine solche Frage, eine solche Haltung ist christlicher als die frühere und ist die Frucht einer langen Reifungsgeschichte des christlichen Bewußtseins, das sich langsam der letzten Grundbotschaft Jesu vom Sieg des Reiches Gottes nähert. 3. AUSBLICK Eine Reihe prominenter Zeitzeugen haben in den 80-er, 90-er Jahren ihren »Traum von der Kirche« kundgemacht. Einer von ihnen ist Otto Hermann PESCH, der ein spannendes Buch über die Vorgeschichte, den Verlauf, die Ergebnisse und die Nachgeschichte des II. Vatikanischen Konzils5 geschrieben hat. Seinen Traum möchte ich an den Schluß unseres Nachdenkens über die bleibende Bedeutung des Konzils setzen und Ihnen mitgeben: Ich träume von einer Kirche, die klar und deutlich sagt, daß sie um des Evangeliums und des Glaubens der Menschen willen da ist. Ich träume von einer Kirche, die weder in der Theorie noch in der Praxis meint, der Macht des Evangeliums über die Herzen mit »Maßnahmen« nachhelfen zu müssen. 5 Das Zweite Vatikanische Konzil, Würzburg 1972. - 13 Ich träume von einer Kirche, die in ihrem Selbstverständnis und in ihrem Erscheinungsbild die besten Elemente des katholischen, lutherischen, reformierten und orthodoxen Kirchenverständnisses in fruchtbarer Spannung zusammenhält. Ich träume von einer Kirche, die der Bürokratisierung widersteht, soweit das die sachlichen Notwendigkeiten nur irgendwie zulassen, und die mit Menschen anders umgeht, als staatliche Verwaltungen das zu tun pflegen. Ich träume von einer Kirche, in der niemand mehr »Schwellenangst« haben muß, wenn er ein »Pfarramt« betritt. Ich träume von einer Kirche, in der man nicht mehr »etwas werden« kann, außer: ein Zeuge des Evangeliums. Ich träume von einer Kirche, die in ihrem Gemeinschaftsleben der modernen Gesellschaft und ihren angeblichen Sachzwängen das Gegenbild eines ganz anderen Zusammenlebens glaubwürdig vorhält. Ich träume von einer Kirche, die auch Konflikte aushält, sie anders austrägt als »die Welt« und in der niemand die Frage nach der richtigen Auslegung des Evangeliums dazu benutzen kann, sich persönlich durchzusetzen. Ich träume von einer Kirche, in der niemand mehr Angst um Evangelium und Glaube hat, wenn es nicht an allen Orten der Welt genauso zugeht wie an einem bestimmten Ort. Ich träume von einer Kirche, die ihre »Sakramentalität«, die siegreiche Gegenwart der Gnade Gottes in ihr als die befreiende Freiheit versteht, jeden Tag, im Blick auf Personen und im Blick auf Strukturen, mit Gewißheit zu bitten: »Vergib uns unsere Schuld!« Ich träume von einer Kirche, die um ihren wirklichen Stellenwert weiß, die also in Lehre und Leben deutlich macht, daß sie selbst nicht das himmlische Jerusalem ist, sondern zum Verschwinden bestimmt, wenn das Reich Gottes kommt, wo nur noch das ist, dem die irdische Kirche den Weg zu bereiten und worauf sie hinzuweisen hat: Gemeinschaft mit Gott und untereinander. Das Erwachen aus solchem Traum ist fünfzig Jahre nach dem Konzil immer noch hart - und wieder hart. Doch ohne Träume keine Leitbilder. Und ohne Leitbilder kein Weg in die dritte Epoche der Kirchengeschichte.