Text über Gefühle

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GEFÜHLE UND WIE MAN SIE ZU WORTE BRINGT
Kartierungen des Raums der möglichen Gefühle
Die Philosophie, jedenfalls die des Abendlandes, hat uns gelehrt,
dass Gefühle, wie alle Phänomene des inneren Sinnes (so nannte
man damals die Bewusstseinsvorgänge) raumlos seien. Für
Descartes wurde dieses Faktum zum definierenden Kriterium
seiner Trennung eines Himmels unausgedehnter Ideen (res
cogitans) von einer Welt immer voluminöser irdischer Dinge (res
extensa). Die moderne Psychologie sieht das ganz anders. Für
sie ist gerade der Raum zu einem zentralen Symbol für die
Beschreibung psychischer Sachverhalte geworden. Das gilt in
besonderem Masse für die hier interessierenden Gefühle. Wir
sprechen vom Himmelhochjauchzen und von abgrundtiefer
Trauer, davon, dass Gefühle uns weit oder eng machen, dass sie
uns öffnen oder verschliessen.
Die Psychologie geht sogar noch einen Schritt weiter und
betrachtet den Raum nicht nur als ein inhaltsunabhängiges
Gefäss, dessen Dimensionen bedeutungslose Koordinaten sind,
sie geht bei ihren Modellierungen davon aus, dass Dimensionen
inhaltlich bedeutsam sein, dass Räume auch semantische Räume
sein können. In diesem Sinne lässt sich auch ein semantischer
Raum möglicher Gefühle konzipieren. Wie die Psychologie
versucht, diesen Raum zu kartieren, soll Gegenstand meines
heutigen Vortrags sein.
Räume zu rekonstruieren bedeutet zunächst Distanzen zu
definieren und Operationen anzugeben, mit deren Hilfe sie
bestimmt werden können. In einem semantischen Raum wird
Nähe durch Ähnlichkeit definiert. Je ähnlicher zwei 'Reizobjekte'
(so der Fachterminus) sind, desto näher beieinander werden sie
im semantischen Raum abgebildet. Der Apfel liegt näher bei der
Birne als bei der Kirsche, die Wut befindet sich in engerer
Nachbarschaft zum Ärger als zur Freude. Einen semantischen
Raum vermessen, heisst also Ähnlichkeiten zwischen den darin
enthaltenen Objekten quantifizieren. Wie geht das?
Menschen haben die bemerkenswerte Fähigkeit, nicht nur
Objekte wahrzunehmen und Eigenschaften an ihnen zu erkennen,
sondern auch zwischen ihnen bestehende Ähnlichkeiten zu
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beurteilen. Wir können Menschen, Gerüche oder Situationen
mehr oder weniger ähnlich finden. Solche Einschätzungen sind in
der Regel ziemlich stabil, d.h. sie lassen sich zu späteren Zeitpunkten mit vergleichbaren Ergebnissen wiederholen. Wenn
jemand einen Apfel einer Birne ähnlicher einschätzt als einer
Kirsche, ändert er dieses Urteil nicht in den nächsten Tagen
wieder, vermutlich auch nicht in den nächsten Jahren. Die
Psychologie hat mittlerweile ein ganzes Arsenal von Methoden
entwickelt, solche Ähnlichkeitseinschätzungen zu quantifizieren.
Die psychologische Messtheorie nimmt nun an, dass die globalen
Ähnlichkeitsurteile, man spricht auch von 'Über-allesÄhnlichkeiten', zusammengesetzt sind aus den Einzelwerten aller
Merkmale, die zwei miteinander verglichenen Objekten
gemeinsam sind. Zwei Menschen können miteinander verglichen
werden bezüglich ihrer Haar- und Augenfarbe, ihrer
Kleidergrösse, ihrer 'Figur', der Gestaltung der Ohrmuscheln, aber
auch bezüglich ihrer Intelligenz, ihres Temperaments, ihrer
Kreativität und vieler anderer Aspekte. In vielen Fällen bestimmt
der Kontext einer konkreten Aufgabe, welche von den zahlreichen
möglichen Merkmalen als besonders relevant beachtet, welche
eher vernachlässigt werden sollen. Für die Wahl eines Mr.
Universum werden zum Vergleich zwischen Kandidaten andere
Merkmale relevant als für die Wahl eines Hochschullehrers.
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Die Verknüpfung der verschiedenen Merkmalswerte zu einem
Globalurteil erfolgt automatisch. Wir sind uns dieses Vorgangs
nicht bewusst, können es auch nicht werden, da er nicht bewusstseinsfähig ist. Wir können jedoch im nachhinein Globalurteile mit
Hilfe mathematischer Methoden wieder in ihre
Merkmalskomponenten zerlegen, wir können berechnen, welche
Merkmale mit welchem Gewicht in das Globalurteil eingegangen
sind. Dieses Verfahren wird als 'Skalierungs-Technik' bezeichnet.
Mit ihrer Hilfe lässt sich nun ein Raum der möglichen Gefühle
rekonstruieren.
Eine spezielle Schwierigkeit ergibt sich jedoch in diesem Fall:
Gefühle sind nicht im Labor so beliebig verfügbar zu machen wie
andere Untersuchungsobjekte. Der experimentelle Zugriff stösst
hier an Grenzen sowohl des ethisch Vertretbaren als auch des
technisch Machbaren. Wir wissen nicht, wie man mal eben zu
Versuchszwecken in Menschen Eifersucht, Reue, Neid,
Zuneigung oder Trauer erzeugt, auf Wunsch wieder verschwinden
lässt und durch ein anderes Gefühl ersetzt, das jetzt als
Vergleichsreiz gebraucht wird. Wir müssen uns da mit verbalen
Konzepten, sprich Gefühlsbegriffen, behelfen. Auf diese Weise
gelangen wir jedoch nicht zu einer Beschreibung der Phänomene
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selbst, sondern zur Rekonstruktion der Wissensstruktur, die wir
über die Phänomene gebildet haben.
Nun macht es in der Regel Sinn anzunehmen, dass zwischen
Sprachstrukturen und den Realitätsaspekten, die sie abbilden
sollen, eine strukturelle Übereinstimmung besteht, dass also die
Sprache, wie WITTGENSTEIN das ausgedrückt hat, darstellt, was
der Fall ist. Das wäre eine im Prinzip nicht unplausible
Überlegung, wenn es sich nicht gerade um Gefühle handeln
würde. Diese nämlich zählen zu den weniger eindeutig
strukturierten Gegebenheiten des Erlebens, sodass die
Festlegung von Strukturen in diesem Bereich eher dem Typus von
kollektiven Leistungen des Bestimmens entspricht, als dem von
Leistungen des Erkennens. Da die Phänomene selber kein
bestimmtes System zwingend nahelegen, haben verschiedene
Sprachgemeinschaften unterschiedliche Abgrenzungen in diesem
Bereich vorgenommen, was zu unterschiedlichen Denotationen
der Gefühlsbegriffe geführt hat, wie wir sie selbst zwischen
standardeuropäischen Sprachen feststellen können.
Die Psychologie geht davon aus, dass sprachliche Konventionen
und das Erleben dadurch zusammenstimmen, dass Kinder lernen,
die Gefühlsnuancen zu erleben, die im sprachlichen Inventar ihrer
Kultur vorgesehen sind. Wenn aber das Erleben wesentlich
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bedingt ist durch die Konzepte, die eine Gemeinschaft in diesem
Bereich gebildet hat, dann erscheint es legitim, die Sprache als
Königsweg zur Erforschung der Ordnung der Phänomene zu
benutzen. Genau genommen wird auf diesem Weg jedoch nicht
die Struktur der Phänomene selber rekonstruiert, sondern wie
schon ausgeführt die interne Repräsentation, die wir über die
Struktur der Phänomene gebildet haben.
Dieser theoretische Ansatz hat die keineswegs triviale Implikation,
dass Gefühle keine reinen Naturphänomene sind, die
Psychologen nur noch identifizieren und benennen müssten.
Gefühle sind immer auch kulturell überformt. OSGOOD (1966) hat
in diesem Zusammenhang die Hypothese aufgestellt, dass
lediglich die Grunddimension des Raumes möglicher Gefühle für
alle Menschen dieselben sind. Die jeweiligen Abgrenzungen in
diesem Raum und die verbalen Etikettierungen sind kollektive
Leistungen verschiedener Sprachgemeinschaften. Da Kultur eine
historische Dimension hat, impliziert der hier vorgetragene
theoretische Ansatz immer auch die Notwendigkeit einer
Kulturgeschichte des Fühlens. Davon ist in anderen Beiträgen
dieser Tagung die Rede. Ich möchte mich im Folgenden darauf
beschränken, die Schritte zu skizzieren, die zu einer
Rekonstruktion des Gefühlsraums führen und Ihnen
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abschliessend das Ergebnis einer solchen Rekonstruktion
demonstrieren.
Der erste Schritt der Analyse besteht darin, die Reizobjekte zu
bestimmen, die in die Untersuchung einbezogen werden sollen.
Wenn diese eine überschaubare Menge bilden, wie z.B. die
politischen Parteien der Schweiz oder die
Verwandtschaftsbegriffe, kann man die, wie die Statistiker sagen,
'Grundgesamtheit' untersuchen. Bei den Gefühlsbegriffen jedoch
ist diese Grundgesamtheit viel zu gross, um vollständig
einbezogen zu werden. In einem solchen Fall zieht man eine
Stichprobe aus der Menge der Gefühlsbegriffe. Aus
ökonomischen und technischen Gründen ist eine Stichprobengrösse zwischen 20 und 30 Objekten optimal.
Im zweiten Schritt werden die Ähnlichkeiten zwischen den
ausgewählten Objekten bestimmt. Im Falle der Untersuchung, die
ich Ihnen präsentieren möchte und die ich selber 1982
durchgeführt habe, ist das mit Hilfe der Methode des fortgesetzten
freien Assoziierens geschehen. Die Grundannahme dieses
Verfahrens ist, dass zwei Gefühlsbegriffe, die in der internen
Repräsentation des Gefühlsraums nahe beieinanderliegen – wie
z.B. Eifersucht und Neid – mehr gleiche Assoziationen auslösen
als Elemente, die weit voneinander entfernt liegen wie z.B. Neid
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und Liebe. So kann die Menge gemeinsamer Assoziationen zu
zwei Begriffen als Indikator gedeutet werden für die Distanz dieser
Elemente in der internen kognitiven Struktur der Vpn.
Solche Berechnungen des Prozentsatzes gemeinsamer
Assoziationen werden zwischen allen Begriffen angestellt. Daraus
resultiert eine Tabelle von Ähnlichkeitswerten, die Sie sich
vorstellen können wie eine Tabelle der Entfernungen zwischen
Schweizer Städten, nur dass hier jetzt anstelle der Städtenamen
Gefühlsbegriffe stehen und statt der Kilometer-Angaben
Überlappungs-Koeffizienten, so heisst nämlich das berechnete
Ähnlichkeitsmass.
Natürlich geben diese Koeffizienten keine im metrischen Sinne
exakten Distanzen wieder, aber sie können ordinal gedeutet
werden, derart, dass grössere Werte auch grössere Nähe
anzeigen als kleinere Werte. Aus solchen vergleichsweise
'weichen' Daten, und das ist beim Aufkommen dieser Technik ein
viel bestauntes 'Wunder' gewesen, vermag eine NMDS nach
langwierigen schwierigen Berechnungen und einem Durchlaufen
oft von mehr als 100 Iterationsschleifen eine quasi-metrische
Lösung zu erzeugen. Im Falle der Untersuchung von 1982 sah
diese folgendermassen aus:
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Abbildung 1: Gefühlsraum, 1982
Ich möchte mich jetzt noch nicht mit einzelnen Positionen
befassen, sondern zuerst auf den zentralen Aspekt der
Untersuchung abheben, nämlich auf die semantischen
Dimensionen des Raums, die in Form von Pfeilen dargestellt sind.
Der waagerechte Pfeil stellt die Dimension "Lust-Unlust" dar, der
nicht ganz senkrechte die Dimension "Aktivation", bzw.
"Erregung". Dass diese beiden Dimensionen nicht perfekt
onthogonal zueinander stehen, entspricht den tatsächlichen Einschätzungen der Vpn: Unlustvolle Gefühle werden von ihnen eher
als aktivierend eingestuft als lustvolle. Das erscheint auch für den
Phänomenbereich nicht ganz unplausibel: Neid, Hass und Ärger
bringen uns eher dazu, aktiv zu werden als Zuneigung und
Zufriedenheit.
Ausgehend von theoretischen Überlegungen, aber auch
experimentellen Befunden, die bei der Analyse des Feldes der
Verwandtschaftsbegriffe angefallen waren und die eine
Dominanz-Hierarchie der semantischen Dimensionen aufzeigten,
wurde 1985 ein zweites Experiment durchgeführt. Um die
besonders dominante Lust-Unlust-Dimension zu neutralisieren,
wurden die Teilräume der positiven und der negativen
Gefühlsbegriffe je getrennt analysiert. Dabei konnte, wie erwartet,
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eine dritte Dimension des Raumes möglicher Gefühle identifiziert
werden. Diese Dimension repräsentiert die soziale Komponente
des Fühlens, und wurde deshalb als "soziale Nähe – soziale
Distanz" bezeichnet.
Abb. 2: Positive Gefühlsbegriffe // Abb. 3: Negative
Gefühlsbegriffe
Natürlich ist eine solche Kartierung schon um ihrer selbst willen
interessant; denn sie erweitert unser Wissen über die Ordnungen
der Dinge in unseren Köpfen. Man kann sie benutzen, um sich zu
unterschiedlichen Zwecken in diesem Raum zu orientieren. Um
die Karte zu lesen und zu verstehen, wird freilich vorgängig
phänomenologisches Wissen benötigt; umgekehrt aber sollte das
Studium der Karte solches Wissen nicht nur bestätigen, sondern
auch ergänzen und bereichern, im besten Falle unseren Blick auf
so noch nicht bekannte Tatsachen lenken und auch zu neuen
phänomenologischen Überlegungen Anlass geben. Die
Erkenntnisse in beiden Bereichen sollten also konvergieren, je
weiter unser Wissen fortschreitet.
Ich möchte das an einem konkreten Beispiel demonstrieren.
Betrachten wir dazu noch einmal den Raum der positiven
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Gefühle. Sie finden dort drei Gefühle eingetragen, die wir in
unserem Alltagsverständnis als eng zusammengehörig
empfinden: Liebe, Glück, Lust. In der vorliegenden Karte sind
diese drei Konzepte jedoch relativ weit voneinander entfernt
dargestellt. Diese Darstellung hat schon mehrfach Fragen
ausgelöst, sogar Zweifel genährt, ob die Methode tatsächlich zu
„vernünftigen“ Ergebnissen führt. Das gibt zu
phänomenologischen Überlegungen Anlass, Anlass dazu, Liebe
zu erklären.
Wenn man Menschen auffordert, spontan Gefühle zu nennen, wie
sie ihnen gerade einfallen, dann kommt unter Freude, Neid,
Sehnsucht und Wut an prominenter Stelle immer auch Liebe vor.
Scham, Schuld oder Reue werden nur selten erwähnt; aber das
ist eine andere Geschichte. An dieser Stelle soll die Frage
aufgeworfen werden, ob mit dem Wort „Liebe“ tatsächlich ein
Gefühl gemeint ist wie all die anderen, die da aufgezählt wurden,
wie Ärger, Hoffnung, Eifersucht.
Wenn jemand sagt, er sei zornig, dann weist er damit auf eine
aktuelle Befindlichkeit hin, auf einen Zustand, der sich zugleich im
Körper manifestiert als messbare physiologische Erregung und im
Erleben als besondere qualitative Veränderung des
Bewusstseins. Eine solche Emotion hat einen Auslöser, entfaltet
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sich zu einer bestimmten Intensität und klingt wieder ab. Niemand
ist ständig zornig, traurig oder in höchstem Masse aufgekratzt.
Wenn er es wäre, würden wir das als ein pathologisches Problem
betrachten, das in schwereren Fällen einer therapeutischen
Intervention bedarf.
Mit der Liebe verhält es sich anders. Da ist es nicht nur erlaubt, da
wird es geradezu erwartet oder doch erhofft, dass sie ein ganzes
Jahr und noch viel mehr andauern, ja, dass sie im Idealfall kein
Ende mehr nehmen möge. Dennoch kann es vorkommen, dass
wir uns über einen Menschen, den wir lieben, von Zeit zu Zeit
auch einmal ärgern, dass wir gar Wut auf ihn empfinden, dass er
uns vorübergehend gleichgültig lässt. Trotzdem würden wir
behaupten, auch während des Ärgers, der Wut und selbst der
Gleichgültigkeit nie aufgehört zu haben, ihn zu lieben. Liebe meint
also offensichtlich nicht nur aktuell erlebte Zuneigung zu einem
Menschen, sondern auch so etwas wie eine Disposition, für
diesen Menschen immer wieder Zuneigung zu empfinden.
Anders ausgedrückt: Liebe ist das Gefühl, das eine dauerhafte
emotionale Bindung an eine andere Person widerspiegelt. Solche
Bindungen sind der Kitt, der menschliche Gemeinschaften
zusammenhält, ja, sie überhaupt erst ermöglicht. Schon
Aristoteles hat den Menschen bekanntlich als „zoon politicon“
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definiert, also als politisches oder Herdentier. Das gilt jedoch nur
in einem eingeschränkten Sinne: Der Mensch ist von Natur aus
nicht Bürger eines grossen Gemeinwesens, sondern Mitglied
einer Familie.
Die emotionalen Bindungen, die wir zunächst an die Eltern und
andere Bezugspersonen, dann an Sexualpartner und schliesslich
an die eigenen Kinder entwickeln, sind der Ursprung der Liebe, so
wie der Verlust von Bindungspartnern der Ursprung der Trauer ist.
Solche Bindungen sind jedoch nicht nur die Quelle von
Zuneigung, sondern auch von Gefühlen der Geborgenheit, der
Sicherheit, des Aufgehobenseins und der Zugehörigkeit. Sie alle
stabilisieren eine Beziehung auch dann noch, wenn die
Zuneigung geringer wird, vielleicht sogar in Abneigung umschlägt.
Das erklärt, warum misshandelte Kinder weiter an ihren Eltern
hängen oder geschlagene Frauen trotzdem bei ihren Partnern
bleiben. Sie lieben sie eben immer noch, nicht im Sinne einer
erlebten Zuneigung, sondern im Sinne einer weiterhin
bestehenden Bindung. Freilich bekommt das Wort „Liebe“ in
diesem Kontext eine andere Semantik: Zuneigung und damit
verbundene Glücksgefühle sind jetzt nicht mehr notwendiger,
sondern nur noch potentieller Bestandteil von Liebe.
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Und der Sex? – Muss, wenn von Liebe die Rede ist, nicht auch
etwas über Sexualität gesagt werden? Obwohl bereits die
Griechen eine klare Unterscheidung zwischen der sexuellen und
der allgemeinen Menschenliebe gemacht haben, ist seit Freud der
Verdacht in der Welt, dass es bei der Liebe immer auch um
Sexuelles geht, dass die vielbeschworene Macht der Liebe sich
letztlich aus der Libido herleitet, also aus der sexuellen
Lebensenergie.
Bindungen entstehen in der Sichtweise Freuds dadurch, dass
andere Personen (, in der herzlosen Sprache der Psychoanalyse
„Objekte“ genannt,) mit gewissen Portionen der Libido „besetzt“
werden. Da die Libido zunächst auf den eigenen Körper gerichtet
ist, lieben wir immer zuerst uns selbst, dann lernen wir, auch
andere zu lieben. Da diese Liebe jedoch dem sexuellen Begehren
abgemietet ist, müssen wir dabei ebenfalls lernen, auf die
Erfüllung eines solchen Begehrens zu verzichten – abgesehen
von der einen grossen Ausnahme; aber das kommt später.
Der Kitt, der eine Lebensgemeinschaft zusammenhält, wäre also
das Begehren, auf dessen Erfüllung verzichtet wird, wäre, in der
Sprache Freuds, sublimierte Libido. Freilich mutet das befremdlich
an, die Familie primär als den Ort des nicht vollzogenen Inzests
zu sehen. Das ist eine Folge des Blickpunkts der klinischen
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Pathologie, aus dem heraus Freud seine Theorie und seine
Terminologie entwickelt hat. Von diesem Standpunkt aus
betrachtet, ist das „Normale“ immer nur der nicht eingetretene
Defekt.
Doch selbst wenn in jeder intensiven menschlichen Beziehung
eine erotische Komponente mitschwingen sollte, bedeutet das
noch lange nicht, dass sich aus dem Vollzug der Sexualität allein
auch schon Bindungen ergäben, gar Liebe entstehen müsse. Die
Phänomene der Prostitution und der Vergewaltigung belegen
eindrucksvoll, dass Lustgewinn gesucht und gefunden werden
kann ganz ohne Zuneigung, gar Bindung an das Lustobjekt. (In
diesem Kontext erscheint die psychoanalytische Terminologie
durchaus angemessen...)
Bei Arten, die keine oder zumindest keine gemeinsame
Brutpflege beider Eltern kennen, mag eine solche eher dem
Typus einer Vergewaltigung entsprechende Form der Sexualität
für die erfolgreiche Reproduktion ausreichen. Wir können solche
Formen im Hühnerhof beobachten oder bei Eidechsen. Bei Arten,
bei denen sich beide Eltern noch längere Zeit hindurch
gemeinsam um das Aufkommen ihres Nachwuchses kümmern,
müssen sich zumindest temporäre Bindungen zwischen
Geschlechtspartnern ausbilden.
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Zu diesem Zwecke (und zu einigen anderen, die an dieser Stelle
nicht erörtert werden müssen,) hat die Natur uns ein
körpereigenes Belohnungssystem eingebaut, das für die Euphorie
von frisch Verliebten verantwortlich ist. Sie sind gewissermassen
drogenabhängig, wenn auch abhängig von einem im Körper
selber produzierten Stoff. Auf diese Weise werden sie lange
genug beieinander gehalten, dass zwischen ihnen eine Bindung
wachsen kann, stabil genug, auch unlustvolle Situationen
auszuhalten; denn die kommen ja unweigerlich, früher oder
später. Ob tatsächlich etwas gewachsen ist, muss sich allerdings
erst weisen, wenn der Dauerrausch der Verliebtheit vorbei ist. Erst
dann zeigt sich Liebe – oder eben auch nicht.
Auf keinen Fall sollte man Verliebtheit schon für Liebe halten, sie
weist zwar den Weg dahin, dass aber das Ziel auch erreicht wird,
ist nie eine sichere Sache. Es gibt süchtig Gewordene, für die
längst der Weg das Ziel geworden ist und die am Ende des
Rausches, kurzzeitig ernüchtert, sogleich eine neue Partnerschaft
suchen, um nach Möglichkeit ständig auf dem Kamm der Woge
zu reiten. Das ist die Strategie des Don Juan. Er ist nicht im
eigentlichen Sinne ein Sexbesessener, über den Fall wird noch zu
reden sein, er ist ein Junkie, die Frau ist für ihn nur das
Instrument, um an das Dope heranzukommen; und um da
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heranzukommen, ist er, wie alle, die an der Nadel hängen, völlig
hemmungslos und bereit, selbst zu lügen, zu stehlen, ja, wenn es
sich unglücklicherweise so ergibt, auch zu töten. Die Sucht
deformiert den Charakter – jede Sucht.
Was den Don Juan für Frauen so unwiderstehlich macht, ist die
Tatsache, dass er sein Liebesgeflüster selber glaubt, dass das
alles wirklich wahr ist – solange der Rausch anhält; denn das ist
eine der Nebenwirkungen der körpereigenen Droge, dass sie die
Kritikfähigkeit diese eine besondere Person betreffend
buchstäblich lähmt. Das Sprichwort weiss das schon lange, die
Neuropsychologie hat es kürzlich bestätigt: Liebe macht blind.
Genauer müsste es freilich heissen: Verliebtheit. Liebe sieht sehr
wohl, sie macht nicht blind, sie macht nachsichtig. Liebe ist, wenn
man trotzdem Zuneigung empfindet; und es gibt immer ein
Trotzdem oder auch zwei...
Das Glücksgefühl der Verliebtheit ist nicht zu verwechseln mit
dem Lustgefühl, das purer Sex hervorrufen kann, der ohne jede
Bindung, Beziehung oder Zuneigung vollzogen wird. Der reine
Triebablauf kann jedoch auch zur Besessenheit werden, kann
Männer zu Prostituierten treiben oder zu Vergewaltigern machen.
Während für den Don Juan die Frau eine Königin ist, wenn auch
auf Zeit, ist sie für den Sexbesessenen, wie übrigens auch für den
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Sadisten, nur ein Objekt, das er kalten Herzens konsumiert, ja,
das er vielleicht sogar verachtet. Dieser aus grosser emotionaler
Distanz heraus praktizierten Sexualität haftet immer das
Erniedrigende der Verrichtung einer Notdurft an. Im Grunde ist die
daraus bezogene Lust nur die Rückseite der durch einen allzu
drängenden Triebreiz aufgestauten Unlust. Ist dieser quälende
Drang endlich zur Ruhe gebracht, stellt sich sehr schnell ein übler
Nachgeschmack ein. Das wusste man schon in der Antike: post
coitum omne animal triste. Das Lustgefühl wird schnell verdrängt
durch ein Gemisch aus Abneigung, Scham und Überdruss. Das
Glücksgefühl der Verliebtheit dagegen ist sehr viel nachhaltiger,
es kann ganze Tage, ganze Lebensabschnitte erhellen.
Doch weder Glück noch Lust führen mit Sicherheit zu stabilen
Bindungen. Sie sind zwar notwendige, aber noch keineswegs
schon hinreichende Voraussetzungen für das Entstehen von
Liebe. Sie sind, wenn es gut geht, Durchgangsstadien auf dem
Weg dahin. Man könnte etwas überpointiert geradezu formulieren:
Liebe ist das, was bleibt, wenn der Rausch der Verliebtheit
verflogen ist und der Sex keine so wichtige Rolle mehr spielt –
wenn dann noch etwas bleibt... Man kann sie jedoch auch positiv
definieren: Liebe ist das immer wieder als spontane Zuneigung
erlebte Gefühl einer stabilen Bindung an einen anderen
Menschen.
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Lust dagegen sucht nicht den anderen, Lust sucht sich selbst, ihre
Befriedigung ist letztlich Selbstbefriedigung. Das dabei benutzte
Objekt hat nur vorübergehenden Wert, ist gewissermassen
„Verbrauchsmaterial“ im Dienste der Lusterzeugung, das „danach“
entsorgt und dann getrost vergessen werden kann. Erst wenn
Liebe ins Spiel kommt, wird es möglich, im Objekt ein anderes
Subjekt zu sehen und damit die Grenze des eigenen Ichs zu
überschreiten in Richtung auf ein Du, und zwar dauerhaft und real
und nicht nur vorübergehend und virtuell wie das bei der
Verliebtheit der Fall ist. Verliebte sind vernarrt in ein phantasiertes
Idealbild, das sie auf eine andere Person projizieren, Liebende
empfinden Zuneigung zu einer real existierenden Person wie sie
tatsächlich ist.
Nun ist Liebe nicht das einzige Gefühl, das sich der Bildung einer
festen Grenze um das eigene Ich verdankt und der daraus
resultierenden Notwendigkeit, über diese Grenze
hinauszugelangen, um ein soziales Wesen werden und bleiben zu
können. Vor allem der Antagonismus von Scham und Schuld, von
Sich-Öffnen und Sich-Verschliessen, regelt, wieviel Nähe im
Umgang mit den anderen möglich, aber auch, wieviel Distanz
nötig ist. Während wir jedoch Scham empfinden können vor
jedem, der Augen hat, uns zu sehen, trifft Liebe eine sehr
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begrenzte Auswahl. Sie ist immer exklusiv und zugleich auch das
sichere Gegenmittel gegen die Sprödigkeiten der Scham, sie lässt
Intimität zu, physisch und psychisch.
Der Anspruch der Exklusivität wird im Erleben manifest im Gefühl
der Eifersucht. Nun muss am Ende auch noch von ihr die Rede
sein; denn auch sie ist ein Aspekt der Liebe. Auch wenn sie
entarten kann und sich materialisieren in so bizarren Dingen wie
Keuschheitsgürteln und Haremsmauern, so sollte man sie doch
nicht grundsätzlich schlecht reden oder gar ganz für überflüssig
erklären. Die Exklusivität liegt im Interesse beider Partner, wenn
auch aus unterschiedlichen Motiven. Darüber, dass sie gewahrt
bleibt, muss zwar nicht unbedingt ein Argus wachen oder ein
blindwütiger Berserker; aber es sollten zu diesem Dienst auch
nicht gerade die törichten Jungfrauen aufgeboten werden. So
zeigt sich am Ende, dass Eifersucht das Negativ der Zuneigung
ist, dass zur Freude an einer Beziehung immer auch die Sorge
gehört um den Bestand. Wenn es gut ist, ist es Zuneigung, wenn
es wehtut, ist es Eifersucht – und in beiden
Bewusstseinsqualitäten wird Bindung erlebt, geht es um Liebe.
Literatur:
20
Marx, Wolfgang (1982): Das Wortfeld der Gefühlsbegriffe.
Zeitschrift für Experimentelle und Angewandte Psychologie,
29, 137-146.
Marx, Wolfgang (1985): Semantische Dimensionen positiver und
negativer Gefühlsbegriffe. Archiv für Psychologie, 137, 6573.
Marx, Wolfgang (1989): Geographie der Leidenschaft. Sturzflüge,
28, 43-45.
Marx, Wolfgang (1997): Semantische Dimensionen des Wortfelds
der Gefühlsbegriffe. Zeitschrift für Experimentelle
Psychologie, 44, 478-494.
Osgood, Charles F. (1966): Dimensionality of the semantic space
for communication via facial expression. Scandinavian
Journal of Psychology, 7, 1-30.
Schlosberg, Herbert (1952): The description of facial expressions
in terms of two dimensions. Journal of Experimental
Psychology, 61, 81-88.
Traxel, Werner & Heide, H.J. (1961): Dimensionen der Gefühle.
Psychologische Forschung, 26, 179-204.
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