Procap-Magazin Nr. 02/14 als Word

Werbung
Procap Magazin für Menschen mit Handicap
2/2014
Vorgeburtliche Diagnostik
- Umstrittene Frühdiagnostik
- Umdenken im öffentlichen Verkehr
- Barbara und Laurin Camenzind: «Laurin lebt fürs Leben gern»
Inhalt
-
In Kürze
Vorgeburtliche Diagnostik
Umstrittene Frühdiagnostik
Rendez-vous: Barbara und Laurin Camenzind
-
Am Arbeitsplatz: «Es ist an mir, das Eis zu brechen»
Zehn Jahre BehiG: Umdenken im öffentlichen Verkehr
Reisen: Ferien für alle – mit Reisebegleitung
Service: Sektionen, Agenda, Juristischer Ratgeber, Ratgeber Procap bewegt
Schlusswort: Reto Meienberg
Editorial
Franziska Stocker, Redaktionsleitung
Gesellschaftliche Folgen der Selektion
Die Präimplantationsdiagnostik (PID) und die pränatale Diagnostik (PND)
entwickeln sich rasant. Durch diese Tests ist es immer früher und einfacher
möglich, beim Embryo oder Fötus eine Behinderung festzustellen – und dieses
werdende menschliche Leben allenfalls zu verhindern. Welche gesellschaftlichen
Auswirkungen haben diese Selektionsmöglichkeiten? Könnten sie die Solidarität
gegenüber Menschen mit einer Behinderung und ihren Familien negativ
beeinflussen? Oder sind diese Befürchtungen unberechtigt? Wir haben im aktuellen
Magazin bei acht Fachpersonen nachgefragt und mit einer Mutter gesprochen, die
sich nach einem pränatalen Befund auf Trisomie 21 für ihr Kind entschieden hat.
Sie lesen zudem über die berufliche Integration von Menschen mit Handicap bei
der Bundesverwaltung. Und Sie erfahren, wo im öffentlichen Verkehr zehn Jahre
nach Einführung des Behindertengleichstellungsgesetzes noch Lücken bestehen. Ich
wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.
In Kürze
Für ein Daheim ohne Hindernisse
Zu kleine Lifte, enge Korridore, Stufen am Eingang oder Schwellen zum Balkon:
Für Menschen mit Mobilitätsbehinderungen ist es schwierig, eine bezahlbare
hindernisfreie Wohnung zu finden. Auf der Website der ProcapSensibilisierungskampagne «Für ein Daheim ohne Hindernisse» finden Sie jetzt
neue Videobeiträge. Unter dem Motto «Procap vor Ort» haben wir mit der Kamera
dokumentiert, welche Anforderungen eine barrierefreie Wohnung erfüllen muss.
www.hindernisfrei-wohnen.ch
Nationale Behindertenpolitik
Kürzlich hat der Nationalrat ein Postulat von Christian Lohr (CVP/TG)
angenommen, welches vom Bundesrat eine kohärente nationale Behindertenpolitik
verlangt. Menschen mit einer Behinderung würden in der Schweiz nach wie vor in
erster Linie als Kostenfaktor wahrgenommen, kritisierte Lohr im Vorstoss. Es
fehle eine Strategie, welche die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit
Behinderung ins Zentrum stelle. Bund, Kantone, Sozialversicherer und weitere
Beteiligte koordinierten sich zu wenig. Ein Bericht des Bundesrates soll
aufzeigen, wie ausgehend vom Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) und von
der UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) eine kohärente Behindertenpolitik
zu erreichen ist. In seiner Antwort auf das Postulat verweist der -Bundesrat auf
die Ergebnisse einer umfassenden Evaluation des BehiG, die 2015 vorliegen
sollen. Es biete sich an, im Anschluss -daran eine bereichsübergreifende
Standortbestimmung vorzunehmen.
Gegen den Einsatz von Hirnscans
Die IV-Stelle Luzern wurde in den letzten Monaten wegen des Einsatzes von
Hirnscans bei IV-Abklärungen stark kritisiert. Fachärzte bemängelten, die
Methode sei wissenschaftlich nicht anerkannt, um für diesen Zweck angewendet zu
werden. Behindertenorganisationen befürchteten, dass Menschen mit psychischen
Krankheiten künftig noch stärker stigmatisiert und als Simulanten/-innen
angesehen werden könnten. Nationalrätin Silvia Schenker (SP/BS) hat nun in der
Frühlingssession im Parlament einen Vorstoss eingereicht. Dieser beauftragt den
Bundesrat abzuklären, ob IV-Stellen bei Menschen mit psychischen Krankheiten
Hirnscans durchführen dürfen.
Kinder mit seltenen Krankheiten
Im Februar wurde der Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten gegründet.
Der Verein unterstützt Projekte und Aktivitäten zugunsten von Betroffenen. Er
gewährt finanzielle und fachliche Unterstützung und vernetzt Familien,
Patientenorganisationen, gemeinnützige Institutionen, Spitäler, Ärzte und
Wissenschaftler. Der Verein möchte zudem die Thematik in der Öffentlichkeit
bekannter machen. In der Schweiz leiden eine halbe Million Menschen an einer
seltenen Krankheit. Hauptsächlich betroffen sind Kinder und Jugendliche. Oft
dauert es Jahre, bis die Krankheit diagnostiziert werden kann, und über den
Krankheitsverlauf ist meist wenig bekannt.
Mehr Infos: www.kinder-mit-seltenen-krankheiten.ch
Sprachleitfaden
Die Fachstelle Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen der Stadt Bern hat
einen kurzen «Sprachleitfaden Behinderung» erarbeitet. Die Fachstelle hat in den
drei Jahren ihres Bestehens regelmässig Anfragen aus der Stadtverwaltung, von
Medienschaffenden oder aus der Bevölkerung erhalten, wie respektvoll und ohne
Vorurteile über Menschen mit Behinderungen berichtet werden kann. Als Reaktion
auf diese Unsicherheiten entstand der Sprachleitfaden.
Der Sprachleitfaden kann bei der Fachstelle Gleichstellung von Menschen mit
Behinderung bestellt oder unter www.bern.ch/behinderung (Merkblätter und
Leitfäden) heruntergeladen werden.
Erwerbsintegration von psychisch Kranken
Der kürzlich erschienene OECD-Bericht zum Thema Psychische Gesundheit und Arbeit
forderte von der Schweiz, mehr zu tun, um Menschen mit psychischen Erkrankungen
einen Eintritt ins Berufsleben zu ermöglichen bzw. sie im Erwerbsleben zu
halten. Die Zahl der Neurenten bei Personen mit psychischen Erkrankungen geht in
der Schweiz nicht zurück, diejenige der jungen Erwachsenen nimmt sogar stark zu.
Nationalrätin Maja Ingold (EVP/ZH) hat in der Frühlingssession im Parlament
einen Vorstoss zum Thema eingebracht. In diesem beauftragt sie den Bundesrat,
darzulegen, mit welchen Massnahmen er die Integration von psychisch kranken IVBeziehenden in den Arbeitsmarkt künftig wirkungsvoller angehen will.
Verspätung bei der Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehr
Eine Umfrage von Agile.ch zeigt: Nur die Hälfte der Schweizer
Transportunternehmen hält das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) ein und
erfüllt per Ende 2013 grundlegende Anforderungen für einen seh- und
hörbehindertengerechten öffentlichen Verkehr (ÖV). Insgesamt wurden 112
Schweizer Transportunternehmen angeschrieben, 77 haben geantwortet. Das BehiG
und die entsprechende Verordnung enthalten explizite Vorgaben, damit der Zugang
zum ÖV für alle möglich ist. Um dieses Ziel zu erreichen, sieht das BehiG zwei
Fristen vor. Die erste betrifft die Anpassung der Kundeninformationssysteme und
der Billettausgabe und ist am 31. Dezember 2013 abgelaufen, zehn Jahre nach
Inkrafttreten des Gesetzes. Die zweite Frist bis Ende 2023 betrifft Bauten,
Anlagen und Fahrzeuge. Für Agile.ch ist klar: Vor allem die Bahnen müssen bei
der Barrierefreiheit bis 2023 kräftig aufholen.
Weitere Informationen zur Umfrage finden Sie unter www.agile.ch.
Vorgeburtliche Diagnostik
Umstrittene Frühdiagnostik
Die Präimplantationsdiagnostik (PID) und die Pränataldiagnostik (PND) entwickeln
sich rasant. Über die gesellschaftlichen Folgen dieser Entwicklung besteht
Uneinigkeit. Wir haben acht Fachpersonen befragt.
Franziska Stocker
Die Einführung der Präimplantationsdiagnostik (PID) in der Schweiz wurde im
Frühling im Ständerat debattiert. Als Nächstes kommt das Geschäft in den
Nationalrat, und vermutlich Ende 2015 wird das Volk darüber abstimmen. Gegner
und Befürworter einer Liberalisierung der PID sind sich nicht einig, welche
Folgen die Einführung dieses Verfahrens auf unsere Gesellschaft haben könnte.
Die pränatale Diagnostik (PND) ist vor allem im Zusammenhang mit den neuen
molekular-genetischen Bluttests, wie dem Praenatest, im Gespräch.
Beide Themen lösen Befürchtungen aus, die Solidarität gegenüber Menschen mit
Behinderung könnte sich verringern, wenn behinderte Kinder künftig vermehrt
«verhindert» werden. Viele Menschen haben auch grundsätzliche ethische Bedenken
gegenüber einer Selektion von wertem und unwertem Leben. Unter dem Motto «Es ist
normal, verschieden zu sein» wird zudem kritisiert, dass Behinderung und
Krankheit nicht mehr als natürlicher Teil des Lebens angesehen werden.
Unterschiedliche Meinungen
Wir haben bei acht Fachpersonen aus Ethik, Politik, Medizin und von
Beratungsstellen nachgefragt, wie sie die vorgeburtlichen Tests einschätzen. Auf
den folgenden Seiten präsentieren wir Ihnen verschiedene Stimmen zur PID und PND
sowie ein Glossar zum Thema.
Zahlen und Fakten: Laut Schätzungen – genaue Statistiken gibt es nicht – kommen
in der Schweiz jährlich ca. 1900 Kinder mit einer Behinderung zur Welt. Eine
Vielzahl von -Gründen kann zu Behinderungen beim Neugeborenen führen. Nur ein
Teil davon ist mittels PND erkennbar. Trotzdem verzichten nur wenige Eltern
vollständig auf diese Testverfahren. Mindestens 90 Prozent der Frauen, deren
Kind auf Trisomie 21 positiv getestet wurde, brechen die Schwangerschaft ab.
Jedes sechste Paar in der Schweiz ist ungewollt kinderlos. Letzte Hoffnung ist
für viele die Zeugung eines Kindes mittels In-vitro-Fertilisation (IVF). Heute
werden auf diese Weise in der Schweiz jedes Jahr rund 2000 Kinder geboren. Die
PID könnten je nach Ausgestaltung jährlich zwischen 50 bis 100 bzw. rund 6000
Paare nutzen.
Procap hat zum Thema PND ein Positionspapier erarbeitet, das Sie auf
www.procap.ch herunterladen können. In Kürze wird zudem ein Positionspapier zur
PID erscheinen.
Stimmen zur Präimplantationsdiagnostik
Ruth Baumann-Hölzle, Leiterin des Instituts Dialog Ethik, ehemaliges Mitglied
der Nationalen Ethikkommission (NEK): Für mich ist die moralisch-ethische
Kernfrage: Was ist der Wert des werdenden Lebens? Dürfen wir die Menschenwürde
relativieren und den Embryo instrumentalisieren? Ihn zum Verbrauchsmaterial
erklären? Ich möchte es nicht beschönigen, bei der PID geht es um eugenische
Selektion. Es geht um eine Einteilung in lebenswertes und unwertes Leben. Diese
Tendenzen kennen wir aus der Geschichte, nicht nur aus der Zeit des Zweiten
Weltkrieges. Der Embryo wird bei der PID zum Zweck, zum Forschungsmaterial oder
soll den Eltern einen Wunsch erfüllen – er wird als Nutzwert ohne Eigenwert
behandelt. Im Gegensatz zur Pränatalen Diagnostik, wo die Lebenserhaltung des
Embryos mit dem Abwehrrecht der Schwangeren kollidiert, geht es bei der PID um
die künstliche Erzeugung menschlichen Lebens im Labor für fremde Zwecke. Es ist
eine Zuchtwahl, bei der die Frau nicht körperlich betroffen ist. Durch die
künstliche Befruchtung mit PID kann der Mensch viel mehr ins menschliche Leben
eingreifen als bei der Pränatalen Diagnostik und kann gar künftige Generationen
beeinflussen. Wir befinden uns auf einem «slippery slope» (engl., schlüpfriger
Abhang). Lassen wir jetzt diese neuen Selektionsmöglichkeiten zu, kann dies eine
unkontrollierbare Kettenreaktion auslösen. Die Angst vor einem Designerbaby ist
berechtigt: In den USA und in Spanien ist bereits heute die Auswahl eines
Profils des künftigen Kindes möglich. Mittels genetischer Untersuchungen können
Haarfarbe, Geschlecht, zukünftige Krankheiten etc. bestimmt werden. Das Eis der
Humanität ist dünn. Wird sich die Solidarität in der Gesellschaft gegenüber
Menschen mit einer Behinderung verändern? Zudem sind die finanziellen
Interessen, die mit der PID verbunden sind, besorgniserregend. In Spanien kostet
der Zyklus einer künstlichen Befruchtung mit PID 13?000 Euro und mehr. Es geht
in der Reproduktionsindustrie um sehr viel Geld. Entsprechend hoch ist das
Interesse der Reproduktionstechniker, der Forschung und der Pharmaindustrie an
einer möglichst weitreichenden Zulassung der PID. Ich bin froh, hat der
Ständerat vorderhand die strengere Variante der PID übernommen.
Bertrand Kiefer, Mitglied der Nationalen Ethikkommission (NEK): Zwischen 2005
und 2013 hat sich die Position der Nationalen Ethikkommission aufgrund von
personellen Wechseln in Richtung Ja zur PID entwickelt. Ich persönlich stimme
der PID zu, wenn das Paar einer Risikofamilie angehört. Ich bin aber gegen das
Aneuploidie-Screening, das bezweckt, ein möglichst perfektes Kind zur Welt zu
bringen. Wenn wir grosses Leiden für das Kind oder die Familie verhindern
können, soll einem Paar bei der künstlichen Befruchtung nicht verwehrt sein, was
bei einer Schwangerschaft erlaubt ist. Aber wir müssen gegen den immer stärker
werdenden Wunsch der Eltern nach einem perfekten Kind ankämpfen. Dies um so
mehr, als die Technologie diesen Bestrebungen entgegenkommt. Die Gesellschaft
hat eine industrielle und kompetitive Vision des Lebens. Es besteht die Tendenz,
Kinder als Produkte anzusehen, die perfekt und rentabel zu sein haben. Vor
dieser Welt Angst zu haben, ist gesund. Was ist denn ein menschliches Wesen? Wo
liegt seine Grösse? Sicherlich nicht in einer Leistung um jeden Preis oder einer
Uniformisierung. Das Menschsein zeigt sich in der Fähigkeit, Schwierigkeiten zu
überwinden, einen Sinn im Leben zu finden. Die Technologie vermag weder
Antworten auf diese Fragen zu geben noch auf das Glücklichsein. Die Faszination
für den technischen Fortschritt blendet das Leiden, die Krankheit und den Tod
aus. Und das Streben nach Perfektion führt zu einer Verarmung der Existenz,
deren Qualität damit verbunden ist, dass wir mit unterschiedlichen Menschen in
Berührung kommen. Führen wir diese Debatte! Lassen wir den Eltern die freie Wahl
und sichern wir ihnen die Unterstützung der Gesellschaft zu, egal, wie sie sich
entscheiden. Es ist wichtig, dass keinerlei Druck auf sie ausgeübt wird, um
Kosten zu sparen. Die Unterschiedlichkeit zu akzeptieren, in sich die Kraft zu
finden, Schwierigkeiten zu überwinden, gibt dem Individuum einen Lebenssinn und
lässt die Gesellschaft wachsen. Dies zeigt sich in den gemeinsamen
Anstrengungen, die sie unternimmt, um das Leben von Menschen mit Behinderung
menschlich zu gestalten.
Brigitte Häberli, Ständerätin (CVP/TG), Mitglied der Kommission für
Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK-S): Ich habe mich im Ständerat dafür
eingesetzt, dass die PID in der Schweiz nicht eingeführt wird. Die Mehrheit des
Ständerats hat sich jedoch dafür entschieden, die PID unter relativ strengen
Voraussetzungen einzuführen. Erleichtert bin ich, sind die verschiedenen
Liberalisierungsvorschläge der WBK-S wie das Aneuploidie-Screening und das
Retterbaby vorerst nicht durchgekommen. Weshalb ich mich gegen die PID
ausgesprochen habe? Ich finde die Instrumentalisierung des werdenden
menschlichen Lebens für die Erfüllung von Forschungszielen oder eines
Kinderwunsches bedenklich. Mir machen die gesellschaftlichen Auswirkungen einer
Selektion von menschlichem Leben Sorgen. Wir können heute nicht abschätzen, was
dies für längerfristige Auswirkungen haben wird. Ich frage mich, wie die
Einführung der PID die Solidarität gegenüber Menschen mit Behinderung in der
Gesellschaft beeinflussen wird. Werden sich Eltern künftig rechtfertigen müssen,
wenn sie sich für ein Kind mit Behinderung entscheiden? Werden Versicherer sich
weigern, für die Kosten aufzukommen? Wir wissen nicht, wo dies hinführen wird.
Für mich gehört jeder Mensch, ob er nun behindert, krank oder gesund ist, zu
unserer Gesellschaft.
Liliane Maury Pasquier, Ständerätin (SP/GE), Hebamme: Bei der Debatte des
Ständerates über die PID habe ich die liberalere Position vertreten, die sich
für eine Ausweitung der Diagnostik am Embryo ausspricht und es ermöglicht,
Behinderungen wie Trisomie 21 zu entdecken (Aneuploidie-Screening). Es scheint
mir unsinnig, Tests am Embryo zu verbieten, wenn es gleichzeitig erlaubt ist,
pränatale Tests am Fötus vorzunehmen. Ein Verbot würde heissen, das Leiden der
Eltern nicht ernst zu nehmen. Diese investieren bei einer künstlichen
Befruchtung viel Energie und Emotionen in die Schwangerschaft und müssen
befürchten, später vor einem sehr schwierigen Entscheid zu stehen. Die
Respektierung des Embryos im Frühstadium einzufordern, scheint mir nicht
kohärent: Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr ist doch die Würde des werdenden
Kindes betroffen. Zu den pränatalen Tests möchte ich noch sagen, dass die
Beratung zum Teil ungenügend ist. Ich plädiere deshalb für die Einführung eines
Beratungsgesprächs, das von der Krankenkasse übernommen wird. Die Paare müssen
wissen, dass bei diesen Tests auch Anomalien gefunden werden können. Das
Wichtigste aber ist die Unterstützung, welche die Gesellschaft werdenden Eltern
bieten muss, egal, wie sie sich entscheiden.
In-vitro-Fertilisation (IVF): (lateinisch für «Befruchtung im Glas») ist eine
Methode zur künstlichen Befruchtung. Der Frau werden herangereifte Eizellen
entnommen und in einem Reagenzgefäss mit den Spermien des Mannes
zusammengebracht. Nach der Befruchtung wird der Embryo in die Gebärmutter der
Frau eingepflanzt.
Präimplantationsdiagnostik (PID): Untersuchung am erst wenige Zellen grossen
menschlichen Embryo auf genetisch bedingte Krankheiten und Chromosomenstörungen.
Wird ein Defekt gefunden, wird der Embryo vernichtet, wenn nicht, wird er in die
Gebärmutter eingepflanzt.
Aneuploidie-Screening: Bei fortgeschrittenem Alter der schwangeren Frau besteht
ein erhöhtes Risiko, Kinder mit einer chromosomalen Störung – insbesondere
Trisomie 21 – zu bekommen. Durch das Aneuploidie-Screening soll erreicht werden,
dass bei der künstlichen Befruchtung einer Frau nur Embryonen mit 46 Chromosomen
eingesetzt werden. Würde das Aneuploidie-Screening in der Schweiz ein-geführt,
könnten es ca. 6000 Paare jährlich nutzen.
Retterbaby: Embryo, der im Rahmen einer künstlichen Befruchtung mittels PID als
Gewebespender für ein krankes Geschwister ausgesucht wurde. Man spricht in
diesem Zusammenhang auch von HLA-Typisierung.
Designerbaby: Auswertung von Erbinformationen und Selektion von Eizelle und
Sperma nach erwünschten Eigenschaften (z.B. Intelligenz, Geschlecht, Augen- und
Haarfarbe). Diese Selektion ist in der Schweiz verboten. In den USA und in
Spanien werden jedoch schon heute massgeschneiderte Kinder im Reagenzglas
gezeugt.
Stimmen zur Pränataldiagnostik
Franziska Maurer, Leiterin der Fachstelle Fehlgeburt und perinataler Kindstod:
Heute besteht bei werdenden Eltern und involvierten Fachleuten ein hohes
Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit. Von den pränatalen Tests erhoffen sie
sich die Bestätigung, dass das Kind gesund ist. Dies ist jedoch eine trügerische
Sicherheit, denn die PND gibt Einblick in einen begrenzten Teil möglicher
Krankheitsbilder oder Beeinträchtigungen. Krankheiten oder Behinderungen
beispielsweise als Folge einer zu frühen Geburt werden selten in die
Überlegungen zur Anwendung der PND miteinbezogen. Die Chance der pränatalen
Tests sehe ich darin, dass sie gewisse frühe Behandlungsmöglichkeiten für ein
krankes Kind ermöglichen. Sie können den werdenden Eltern auch Zeit geben, sich
– soweit dies möglich ist – vorzubereiten, wenn ihr Kind nicht lebensfähig ist
oder mit einer Behinderung zur Welt kommen wird. Die pränatalen Tests fordern
von den Eltern verantwortungsvolle und sehr herausfordernde Entscheide –
insbesondere, wenn die Diagnose auf eine schwere Erkrankung ihres Kindes
hinweist. Die Frage, ob sie das Leben mit ihrem kranken Kind bewältigen können
oder ob ein Abbruch der Schwangerschaft und der frühe Tod ihres kranken Kindes
der für sie gangbare Weg ist, fordert die Eltern in hohem Mass. Wenn die Eltern
an die Fachstelle gelangen, sind sie oft in grosser Not. Sie haben
beispielsweise am nächsten Tag den Termin für den Schwangerschaftsabbruch, sind
sich aber nicht mehr sicher, ob sie dies überhaupt wollen. Im Zustand des
Schocks und unter Zeitdruck ist kein verantwortungsvoller Entscheid möglich.
Nach unserer Erfahrung brauchen Eltern Zeit und Begleitung, die im
Entscheidungsprozess Raum gibt. Wir empfehlen den Betroffenen deshalb, nochmals
in Ruhe mit einer Fachperson, ihrer Ärztin, ihrem Arzt oder der Hebamme zu
sprechen. Was bedeutet ein Abbruch? Was heisst es, mit einem Kind schwanger zu
sein, das krank ist oder vielleicht stirbt? Wer im persönlichen Umfeld könnte
sie jetzt unterstützen? Welche professionellen Angebote gibt es zur Begleitung
der Familie? Wir vermitteln auch Kontakte zu betroffenen Eltern, die sich für
einen Schwangerschaftsabbruch entschieden oder ihr krankes Kind ausgetragen
haben.
Franziska Wirz, Leiterin der Beratungsstelle appella: Wir beraten als
unabhängige Beratungsstelle Frauen und Paare zur Pränatalen Diagnostik –
telefonisch oder per E-Mail. Oft gelangen die Frauen an uns, nachdem ein
pränataler Test ein auffälliges Resultat ergeben hat. Dies löst viele Ängste und
Unsicherheiten aus. Die Frauen wollen sich informieren, was diese Zahlen
bedeuten. Oftmals ist ihnen nicht bewusst, dass es beim Erst-Trimester-Test um
eine Risikoeinschätzung für eine Behinderung beim Kind geht, nicht um einen
konkreten Befund. Unsere Aufgabe ist es, aufzuklären und zu beruhigen. Bei
unserer Beratung geht es auch oft darum, falsche Vorstellungen über ein Kind mit
Behinderung zu entkräften, wie zum Beispiel die Annahme, dass ein Kind mit
Trisomie 21 das ganze Leben lang eine Belastung darstellen wird oder kein
erfülltes Leben führen kann. Uns ist wichtig, Schwangere mit allen nötigen
Informationen zu versorgen, damit sie sich für oder gegen einen Abbruch
entscheiden können. Die Ärzte sind gesetzlich verpflichtet, die schwangere Frau
vor dem ersten pränatalen Test auf neutrale Weise über dessen Bedeutung zu
informieren. Leider geschieht dies aber oft nur rudimentär. Viele Frauen
glauben, dass es bei der ersten Ultraschalluntersuchung nur darum gehe, ihr Kind
zum ersten Mal zu sehen. Sie sind sich der Tragweite dieser Tests nicht bewusst
und wissen nicht, dass sie die se auch ablehnen können. Sie haben ein Recht auf
Nichtwissen. Leider werden Frauen, die keine Tests machen wollen, teilweise
unter Druck gesetzt. Mir fällt immer wieder auf, wie viele Ängste im
Zusammenhang mit der Schwangerschaft geschürt werden. In der Schweiz werden 80
Prozent aller Schwangerschaften als Risikoschwangerschaften eingestuft. Für die
Ärzte sind diese lukrativ, denn bei Risikoschwangerschaften bezahlen die
Krankenkassen mehrere Tests.
Auf www.appella.ch können Sie kostenlos die Broschüre «Schwangerschaftsvorsorge
– wie gehen wir damit um?» bestellen.
www.fpk.ch
Christophe Mattenberger, Chefarzt der Abteilung für Gynäkologie und
Geburtshilfe, Spital Morges: Das Erst-Trimester-Screening ermöglicht eine
Einschätzung des Risikos. Falls es unter Berücksichtigung mehrerer Kriterien wie
beispielsweise des Alters der Mutter erhöht ist (höher als 1/380), werden die
Kosten der Fruchtwasseruntersuchung von der Krankenkasse übernommen. Meiner
Meinung nach ist das Alterskriterium jedoch überholt. Ich nutze auch die
diagnostischen Blutuntersuchungen (z.B. Praenatest, Red.), die für die Mutter
und das ungeborene Kind weniger invasiv sind. Stellen Sie sich eine 42-jährige
Frau vor, die nach langen Jahren des Wartens endlich schwanger geworden ist. Die
Blutuntersuchung ermöglicht es, Gewissheit zu bekommen, ob eine
Chromosomenanomalie vorliegt oder nicht, und zwar ohne das Leben des Kindes zu
gefährden. Einige werdende Eltern möchten es lieber nicht erfahren. Ich ermutige
sie jedoch dazu, schliesslich kann man so auch andere Probleme wie
Herzfehlbildungen feststellen und die Geburt anders planen. Die Aussagefähigkeit
dieser Tests geht nicht über diejenige der Fruchtwasseruntersuchung hinaus. Das
Risiko ist jedoch geringer. Diese Tests müssten meiner Meinung nach von den
Krankenkassen übernommen werden. Am wichtigsten ist es, sich Zeit zu nehmen, um
den Eltern gut zu erklären, wonach man sucht und welchen Bereich diese Tests
abdecken.
Melanie Baran, diplomierte Sozialarbeiterin FH am Kinderspital Zürich: Wird ein
Neugeborenes mit einer Behinderung zu uns ins Kinderspital Zürich verlegt,
kümmert sich ein -interdisziplinäres Team um die Familie. Wir von der
Sozialberatung sind für die psychosoziale Begleitung der Eltern und Fragen rund
um den sozialen Alltag der Familie zuständig. Bei Neueintritten ist viel zu
organisieren, so beispielsweise Übernachtungsmöglichkeiten für die Eltern im
Kinderspital, die Betreuung weiterer Geschwister oder das Informieren der
Arbeitgeber über einen möglichen Arbeitsausfall der Eltern. -Anschliessend
folgen Fragen zu Sozialversicherungen oder zu Entlastungsmöglichkeiten für die
Betreuung zu Hause. Durch die schwierige Situation können finanzielle Notlagen
und Engpässe entstehen – auch da bieten wir Beratung und Unterstützung. Wenn
nötig vermitteln wir relevante Adressen und vernetzen zu externen Fach- und
Beratungsstellen. Während ihres Aufenthaltes im Kinderspital begegnen wir den
Eltern oft auch zufällig in Korridoren oder im Spitalrestaurant, wobei spontan
viele Gespräche entstehen. Die oftmals unter Schock stehenden Eltern benötigen
während dieser schwierigen Zeit dringend Unterstützung.
Pränataldiagnostik (PND): Zur PND gehören verschiedene Untersuchungen während
der Schwangerschaft, die Diagnosen zum Gesundheitszustand des Kindes erlauben.
Zu den nichtinvasiven (äusserlichen) Untersuchungen zählen die
Nackenfaltenmessung im Rahmen des Erst-Trimester-Screenings (12. bis 14.
Schwangerschaftswoche) – eine der am häufigsten durchgeführten
Ultraschalluntersuchungen am Ungeborenen – und die neuen molekular-genetischen
Bluttests. Zu den invasiven Untersuchungen gehören die Fruchtwasserpunktion, die
Punktion des Mutterkuchens sowie die Nabelschnurpunktion. Sie sind mit gewissen
Risiken für das Kind verbunden.
Praenatest: Mit dem Test, der auf einer einfachen Blutentnahme bei der
schwangeren Frau beruht, lässt sich mit einer hohen Wahrscheinlichkeit
bestimmen, ob bei einem Fötus die Trisomien 13, 18 oder 21 (Down-Syndrom)
vorhanden sind. Der Test, der seit August 2012 auf dem Markt ist, ist ab der 9.
Schwangerschaftswoche möglich, also noch vor dem Erst-Trimester-Screening. Zwar
ist der Praenatest gemäss der Herstellerfirma Lifecodexx für schwangere Frauen
gedacht, die ein erhöhtes -Risiko für chromosomale Veränderungen beim
ungeborenen Kind tragen, doch ist die Nachfrage generell gestiegen. Rund 2200
Blutproben aus der Schweiz hat das Unternehmen bislang analysiert. Laut einer
aktuellen Studie des Universitätsspitals Basel hat seit der Einführung des
Praenatests die Zahl der invasiven pränatalen Diagnoseverfahren um knapp 70
Prozent abgenommen. Der Praenatest kostet heute um die 1000 Franken und wird
nicht von der obligatorischen Krankenversicherung vergütet. Allerdings hat
Lifecodexx beim BAG die Aufnahme in die Grundversicherung beantragt. Die Chancen
stehen gut.
Rendez-vous
«Laurin lebt fürs Leben gern»
Der heute 9-jährige Laurin wurde mit Down-Syndrom geboren. Konfrontiert mit
einem positiven pränatalen Testresultat, entschied sich seine Mutter Barbara
Camenzind für ihr Kind.
Franziska Stocker
Als Barbara Camenzind in der 14. Woche schwanger war, machte sie, wie die
meisten werdenden Mütter, den Erst-Trimester-Test. «Ich wollte mich absichern,
dass alles gut ist.» Das Resultat des pränatalen Tests war jedoch beunruhigend.
Die Ärztin teilte Camenzind mit, es bestehe ein Risiko von 1:96, dass ihr Kind
ein Down-Syndrom habe. Tage der Ungewissheit folgten, bis das Labor den Befund
schliesslich bestätigte. «Als ich die Gewissheit hatte, dass mein Kind behindert
sein würde, war ich im ersten Moment wie gelähmt. Ich fühlte keinen Kontakt mehr
zu meinem Kind. Ich wusste nur, ich muss mich für oder gegen dieses Kind
entscheiden. Das war ein immenser Druck.» Camenzind hatte Glück mit ihrer
Ärztin. Diese riet ihr, sich für die Entscheidung Zeit zu lassen, und erklärte
ihr genau, wie ein allfälliger Abbruch ablaufen würde. Sie gab ihr zudem
Informationsmaterial und Adressen von Familien, die in der selben Situation
gewesen waren. Zu Hause verfasste Camenzind eine Liste mit Pro- und ContraArgumenten. Sie kontaktierte eine Beratungsstelle, um herauszufinden, welche
Unterstützung ein behindertes Kind erhalten und wie sein Leben aussehen würde.
«Es sprachen schliesslich sehr viele Dinge für das Kind. Die meisten meiner
Contra-Argumente entpup pten sich als Vorurteile.» Camenzind entschied sich
daraufhin gemeinsam mit ihrem damaligen Partner, ihr Kind zu behalten. «In
dieser Zeit spürte ich auch wieder eine Verbindung zu meinem Kind. Die Diagnose
rückte in den Hintergrund.» Der Entscheid war eine Erleichterung. Das Paar
suchte daraufhin Kontakt zu Eltern, die ein Kind mit Down-Sydrom hatten, und las
viele Bücher. Das persönliche Umfeld reagierte positiv und unterstützte ihren
Entscheid. Laurin kam im Oktober 2004 zur Welt. Er ist ein lebendiger Junge, ein
Bewegungsmensch, der es gerne mag, mit seinen Geschwistern zu spielen, draussen
zu sein, Trottinett zu fahren. «Ich kann nur sagen, er geniesst sein Leben»,
sagt seine Mutter. Dass er lebt, ist nicht selbstverständlich.
Barbara Camenzind über …
Zeit: Ist immer zu knapp und sehr kostbar.
Arbeit: Mir war immer wichtig, berufstätig zu sein – auch mit einem Kind mit
Down-Syndrom.
Luxus: Zeit zu haben, insbesondere Ferienzeit.
Freundschaft: Dank Laurin habe ich wunderbare Freundschaften geknüpft.
Liebe: Ohne Liebe wäre das Leben trist.
Ferien: Wir geniessen Ferien an Orten, wo Laurin so sein kann, wie er ist.
Am Arbeitsplatz
«Es ist an mir, das Eis zu brechen»Die von Geburt an gehörlose Selina LusserLutz arbeitet seit vier Jahren bei der Bundesverwaltung. Die Sensibilisierung
ihrer Arbeitskollegen/-innen für eine stärkere Integration von Menschen mit
Behinderung ist ihr wichtig.
Marie-Christine Pasche
«Bitte schalten Sie das Licht mehrmals an, um mich zu rufen, danke», besagt das
kleine Schild, das auf ihrer Tür angebracht ist. Selina Lusser-Lutz ist
gehörlos. Da ihr Schreibtisch nicht in Richtung der Tür orientiert ist, ist sie
früher jedes Mal erschrocken, wenn jemand ihr Büro betreten hat. Um auch mit der
Aussenwelt direkt kommunizieren zu können, benutzt sie nicht ein Telefon,
sondern ein Notebook mit Skype-Video-Zugang.
Seit einem Jahr ist Selina als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Abteilung
Übertragbare Krankheiten des Bundesamts für Gesundheit (BAG) tätig. Zuvor
absolvierte sie ein 12-monatiges Praktikum und hatte mehrere Mandate beim
Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen
(EBGB) inne. «Ich bin dem Bund für diese Arbeitsstelle dankbar. Nach meinem
Studium» – Lusser-Lutz hat Sportwissenschaften und Germanistik studiert – «hatte
ich Schwierigkeiten, zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden»,
erklärt die junge Frau. Die potenziellen Arbeitgeber taten sich schwer damit, zu
verstehen, dass Selina, obwohl gehörlos, mehrere Sprachen spricht. Sie
beherrscht die Gebärdensprache, aber auch die «ergänzte Lautsprache» (ELS), bei
der man die Laute der gesprochenen Sprache im Gesicht erkennbar macht und das
Lippenlesen vervollständigt wird. Damit ist es für schwerhörige Personen
möglich, Verwechslungen mit nahezu identischen Mundbildabläufen für
unterschiedliche, aber lautlich ähnliche Wörter zu umgehen.
Erklären und nochmals erklären
Die junge Mitarbeiterin der Sektion Prävention und Promotion arbeitet derzeit an
einem Projekt, bei dem es um Sensibilisierungsfilme in Gebärdensprache geht.
Zudem kümmert sie sich um die Übersetzung von Dokumenten.
«Mit meinen Kolleginnen und Kollegen ist es immer noch nicht ganz einfach. Sie
sind oft unsicher, wie sie mit mir in Kontakt treten sollen. Es ist an mir, auf
sie zuzugehen und das Eis zu brechen. Es ist auch schon vorgekommen, dass die
Leute nicht glaubten, dass ich gehörlos bin. Schliesslich kann ich sprechen. Ich
muss ihnen dann erklären, wie ich das Sprechen erlernt habe.» Lusser-Lutz löst
dieses Problem oftmals, indem sie eine DVD verteilt, an der sie mitgearbeitet
hat. Der Dokumentarfilm «... und sie sprechen doch» erklärt unter anderem die
ELS-Methode. Als Kommunikationsexpertin ist Lusser-Lutz überzeugt, dass
Sensibilisierung auch hier entscheidend ist. Sie engagiert sich deshalb gerne
bei Mitarbeiterschulungen, die von der Bundesverwaltung organisiert werden, um
die Integration von Menschen mit Behinderung zu verbessern. «Schliesslich sind
wir noch nicht sehr zahlreich.»
Eine leichte Verbesserung: Zwischen 2009 und 2013 ist der Anteil von Personen
mit Behinderung, die beim Bund angestellt sind, leicht von 0,7% auf 1,4%
angestiegen. Die Human-Resources-Konferenz des Bundes (HRK) hat anerkannt, dass
noch einiges getan werden muss. Im Januar 2013 nahm sie ein neues Programm zur
beruflichen Integration auf, das die Entwicklung und die Harmonisierung mehrerer
Instrumente vorsieht mit dem Ziel der höheren Effizienz. Zudem sollen
Führungskräfte des Bundes in Kursen für die Problematik sensibilisiert werden.
Zehn Jahre BehiG
Umdenken im öffentlichen Verkehr
Vor zehn Jahren trat das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) in Kraft. Es
fordert einen hindernisfreien Zugang zum öffentlichen Verkehr (ÖV). Ein Rückund Ausblick mit der Fachstelle Barrierefreier öffentlicher Verkehr (BöV).
Anita Huber
Eltern mit Kinderwagen, Reisende mit Gepäck, ältere Menschen mit Rollator und
Rollstuhlfahrende profitieren immer öfter vom niveaugleichen Einstieg in Bahn
und Bus. Das war nicht immer so. Erst als vor zehn Jahren das BehiG in Kraft
trat, wurden die Transportunternehmen in die Pflicht genommen. Nun müssen sie
ermöglichen, dass Menschen mit Behinderung ohne Benachteiligung Einrichtungen
und Fahrzeuge des öffentlichen Verkehrs nutzen können.
Seit 26 Jahren setzt sich die Schweizerische Fachstelle Barrierefreier
öffentlicher Verkehr (BöV) für den diskriminierungsfreien Zugang zu öffentlichen
Verkehrsmitteln ein. Die Fachstelle hat viel technische und planerische Pionierund Grundlagenarbeit geleistet. Als die ersten Massnahmen eingeführt wurden, hat
die BöV deren Umsetzung fachlich begleitet und kritisch überprüft.
Zwiespältige Bilanz
Werner Hostetter, der seit 1999 für die Fachstelle tätig ist, zieht in den BöVNachrichten 1/14 eine zwiespältige Bilanz: Die Mehrheit der Transportunternehmen
hätten aufgrund von fehlendem technischem Know-how, knappen finanziellen oder
personellen Ressourcen, Alleingängen statt Kooperationen, beratungsresistentem
Verhalten oder verspätetem Planen bei der Umsetzung Fehler gemacht. Doch als
Rollstuhlfahrer stellt er fest: «Trotz dieser Widrigkeiten haben wir in den
vergangenen zehn Jahren eine kleine Revolution im öffentlichen Verkehr erlebt.»
Positives sieht auch Fachstellenleiter Markus Koller: «Wir haben bereits heute
sehr viele niveaugleiche Einstiege oder solche mit kleinen Höhendifferenzen.» In
vielen wichtigen Bahnhöfen wurden die Perrons bereits angehoben. Heute sind mehr
als 50 Prozent der Bahnhöfe barrierefrei zugänglich. Geplant ist, bis 2023 die
restlichen umzubauen. Allerdings kennt auch Markus Koller verpasste Chancen,
beispielsweise bei den Billettschaltern: «Noch vor wenigen Jahren wurden
Schalteranlagen gebaut, die nicht BehiG-konform sind. Man hat dies bei der
Planung schlicht vergessen.»
Verspätung haben die Transportunternehmen im Bereich der Kundeninformation,
insbesondere für Seh- und Hörbehinderte. Bis Ende 2013 hätten sie die
entsprechenden Anforderungen erfüllen sollen. Eine Umfrage von Agile.ch zeigte,
dass erst die Hälfte der antwortenden Transportunternehmen diese Vorgaben
umsetzt.
Ziele fürs nächste Jahrzehnt
In den nächsten zehn Jahren wird die BöV weitere technische Grundlagen
erarbeiten sowie Projekte von Fahrzeugherstellern und Transportunternehmen
begleiten. Sie ist eine wichtige Wissensplattform für konkrete
Umsetzungslösungen. Die Fachstelle vernetzt Unternehmen in der ganzen Schweiz,
welche dieselben Probleme lösen müssen. So können zum Beispiel Busbetriebe
Erfahrungen austauschen und gute Umsetzungsbeispiele kennenlernen. Eine wichtige
Aufgabe der BöV ist gemäss Markus Koller zudem, zwischen den
Behindertenorganisationen und den Transportunternehmen zu vermitteln. «Um
Lösungen zu finden, müssen beide Seiten Kompromisse eingehen.»
Die Schweizerische Fachstelle Barrierefreier öffentlicher Verkehr existiert seit
1988. Sie wird von -verschiedenen Behindertenorganisationen getragen, darunter
auch von Procap. Infos unter www.boev.ch.
Reisen
Ferien für alle – mit Reisebegleitung
Den Alltag hinter sich lassen, in die Ferien reisen tut allen gut. Für viele
Menschen mit Handicap ist dies nur möglich, wenn sie unterwegs optimal betreut
werden. Procap Reisen ist dafür die Spezialistin.
Susi Mauderli
Es ist heiss. Die Procap-Reisegruppe ist spät dran – ein Teilnehmer wollte nicht
nach Hause zurückfliegen, es brauchte lange, bis er reisefertig war. Der
Busfahrer bringt die Gruppe vom Hotel in der Türkei an den Flughafen, ans –
falsche – Terminal und fährt sogleich wieder weg. Das richtige Terminal liegt
zwei Kilometer weiter. Die Reisegruppe: Menschen mit Behinderungen, darunter
viele Rollstuhlfahrer/-innen. In solchen Situationen, so Reiseleiterin Dunja
Zazar, sei rasches Handeln und Gelassenheit gefragt, «aber auch das tiefe
Wissen, dass es einen Weg gibt, wo ein Wille ist». Die gelernte Sozialpädagogin
und Ernährungsberaterin leitet seit fünf Jahren Reisen von Procap ins In- und
Ausland. Die Faszination für fremde Länder prägt sie ebenso wie die Freude an
der Arbeit mit Menschen mit Behinderung.
Das Schöne dieser Erde zeigen
Die oben beschriebene Reisegruppe kam vollzählig und pünktlich nach Hause, und
Dunja Zazar hat seither viele weitere Reisen geleitet. So war sie letztes Jahr
die Richtige, um einen leicht lern- und körperbehinderten Mann auf eine
sechswöchige Reise durch Indien zu begleiten – auf Wegen, die auch für die
meisten nicht behinderten Menschen eine Herausforderung darstellen. Nach ihrer
Motivation gefragt, erzählt sie von der Freude, die sie empfindet, wenn sie
glückliche Menschen sieht, die zum ersten Mal das Meer, eine Stadt oder einfach
ihre Wunschdestination sehen. Aber es gehe auch um ganz banale Dinge: «Viele
Menschen mit Handicap wollen in den Ferien endlich einmal in den Ausgang. Bis
morgens um eins in einer Bar zu sitzen, ist ein Luxus, den betreute Menschen im
Alltag meistens nicht haben.»
Sich auf Menschen einlassen
Vor der Abreise erhalten Reiseleiter/-innen wie Dunja Zazar Informationen über
die Teilnehmenden. Dabei geht es um weit mehr als die Art der Behinderung.
Welche Medikamente muss jemand einnehmen, wer braucht Hilfe bei der
Körperpflege, wer darf vor Ort auch allein losziehen – diese und viele weitere
Fragen werden von Procap Reisen im Voraus abgeklärt.
«Abzuwägen zwischen notwendiger Beaufsichtigung und Selbstständigkeit, ist
manchmal eine Gratwanderung.» Deshalb sei es sehr wichtig, dass begleitende
Menschen offen und flexibel seien und die Fähigkeit hätten, sich mit
Wertschätzung und Respekt auf verschiedenste Menschen einzulassen.
Dunja Zazar erlebt immer wieder, dass Menschen, die sie begleitet, sich öffnen,
weil sie sich Zeit nimmt, ihnen zuzuhören. Auch das fehle vielen im Alltag. «Ich
lerne so viel von Menschen mit Behinderung. Oft fällt mir auf, dass sie ganz in
der Gegenwart leben, dass sie näher am eigentlichen Sein sind als andere
Menschen.»
Einsätze in betreuten Ferien Für die Realisierung der rund 60 betreuten
Ferienangebote für Menschen mit Handicap suchen wir regelmässig Reiseleiter/innen und freiwillige Ferienbegleiter/-innen. Verfügen Sie über Erfahrungen in
der Betreuung von Menschen mit einer Behinderung? Oder sind Sie daran
interessiert? Wir bieten Ihnen spannende Aufgaben im Reise- oder
Freizeitbereich. Weitere Informationen finden Sie auf
www.freiwilligenarbeit.procap.ch.
Sektionen
Procap Aarau
Generalversammlung
Am 8. März konnte der Vorstand von Procap Aarau trotz herrlichem Frühlingswetter
57 Personen an ihrer GV im reformierten Kirchgemeindesaal in Oberentfelden
begrüssen. Alle Geschäfte wurden einstimmig angenommen. Verena Erb, Präsidentin
der Sektion Procap Fricktal, las einen Brief der abtretenden Präsidentin
Cornelia Lüthy vor, in welchem sie sich aus dem Vorstand verabschiedete. Procap
Aarau dankt Conny Lüthy im Namen des Vorstandes und der Mitglieder herzlich für
die geleistete Arbeit! Vizepräsidentin Renate Läderach gab bekannt, dass der
Vorstand im Moment noch keine neue Präsidentin oder neuen Präsidenten bekannt
geben und zur Wahl vorschlagen könne. Der Vorstand wird die Geschäfte in der
bekannten Konstellation weiter führen: Regula Zehnder als Kassierin, Thomas
Brunner für besondere Aufgaben und Renate Läderach als Vizepräsidentin.
Procap Oberwallis
Generalversammlung
An der 70. Generalversammlung von Procap Oberwallis in der Simplonhalle in Brig
zeigte sich Verbandspräsident Valentin Pfammatter (Bild) erfreut, dass Procap
Oberwallis mit heute rund 1000 Mitgliedern auch nach 70 Jahren auf einem soliden
Fundament steht. 2013 nahmen 2600 Personen die Beratungen der Kontaktstelle in
Anspruch oder nahmen an Anlässen und Kursen teil, erklärte Geschäftsführer
Christophe Müller in seinem Jahresbericht. Nach dem stürmischen Vorjahr
(Zweitwohnungsinitiative und Abstimmung über das Raumplanungsgesetz) kehrte bei
der Bauberatung wieder mehr Ruhe ein. Bei den Ergänzungswahlen wurde neu Pia
Schwery-Zurbriggen aus Naters in den Vorstand gewählt. Staatsrätin Esther Waeber
Kalbermatten ging in ihrem Gastreferat auf die Politik für Menschen mit einer
Behinderung im Wallis ein.
Procap March-Höfe
Generalversammlung
Procap March-Höfe lud unlängst zur 55. Generalversammlung im Pfarreiheim Gerbi
in Lachen ein. Vizepräsident Heribert Trachsel begrüsste die geladenen Gäste
sowie die Mitglieder von Procap. Höhepunkt der Versammlung waren zahlreiche
Ehrungen von langjährigen Mitgliedern. Nach der Annahme der Jahresrechnungen und
Revisionsberichte standen die Wahlen auf der Traktandenliste. Der gesamte
Vorstand stellte sich zur Wiederwahl. Auch das Jahresprogramm wurde vorgestellt.
Dieses hält im Juni einen grossen Anlass für Sportbegeisterte in Tenero bereit.
Auch die traditionelle Höfli-Chilbi und die Adventsfeier werden nicht fehlen.
Die Gäste wurden im Anschluss an die GV vom Samariterverein bei einem späten
Mittagessen herzlich bewirtet.
Procap Kanton Solothurn
Generalversammlung
Präsident Peter Schafer begrüsste die Anwesenden zur vierten Generalversammlung
von Procap Kanton Solothurn in der Eta-Kantine in Grenchen. Er hiess Anita Burau
und Susanne Haeder von Procap Nordwestschweiz, Franz Müller, Leiter Fachstelle
Behinderung, Amt für soziale Sicherheit, Solothurn und Sandra Näf, Präsidentin
Verein Insieme, Olten, als Gäste herzlich willkommen. Der Präsident informierte
über einige Eckpunkte in seinem Jahresbericht. Die Jahresrechnung wurde von der
Versammlung einstimmig genehmigt und der Kassierin Décharge erteilt. Das
diesjährige Tätigkeitsprogramm ist vielseitig. Es gibt gemeinsame Anlässe und
solche in den Regionen. Die Vereinsreise und die GV werden jeweils gemeinsam
durchgeführt. Zwei Mitglieder konnten für ihre 50-jährige Mitgliedschaft und elf
Mitglieder für ihre 25-jährige Zugehörigkeit geehrt werden. Den Anwesenden wurde
ein Geschenk überreicht. Die Sektion Procap Kanton Solothurn sucht immer wieder
Helfer/-innen für ihre Standaktionen: Schoggiherzliverkauf und Losverkauf an der
Kilbi. Interessierte melden sich bitte bei Procap Kanton Solothurn.
Agenda
Montreux Jazz Festival barrierefrei
Zum zweiten Mal in Folge berät und begleitet Procap Schweiz dieses Jahr das Team
des Montreux Jazz Festivals (4.–19. Juli 2014) zu allen Fragen rund um die
Zugänglichkeit der verschiedenen Veranstaltungen. Dank dieser Zusammenarbeit
wird in Montreux erstmals ein Konzert in Gebärdensprache übersetzt werden
können. Das Gratiskonzert von Ella Ronen im Rahmen von «Music in the Park»
findet am 19. Juli statt. Ronen wird auf der Bühne von einer
Gebärdensprachübersetzerin begleitet. Zudem werden für Interessierte ein
Workshop über Techniken zur Übersetzung von Tönen und geführte Besuche des
Backstagebereiches des Festivals in Gebärdensprache angeboten.
»Weitere Informationen: www.zugangsmonitor.ch. Auf unserer Facebookseite werden
wir Gratiseintritte verlosen.
6. Jungfrau-Pararace
Am 12. September findet im Rahmen des 22. Jungfrau-Marathons zum sechsten Mal
der Behindertensportanlass Jungfrau-Pararace statt (Kategorien Handbike, Sprint,
Meile und offen). In der offenen Kategorie über 200 m können alle mitmachen,
unabhängig von Art und Grad der Behinderung. Alle Teilnehmenden erhalten eine
Medaille. Die Strecke in der offenen Kategorie verläuft auf dem Höheweg im
Zentrum von Interlaken (Start: 16.30 Uhr).
»Anmeldung bis 10. August. Weitere Informationen: www.jungfrau-marathon.ch >
Pararace
Zürcher Theater Spektakel
Unter dem Motto «Zürcher Theater Spektakel – ein inklusiver Anlass» baut das
internationale Theater- und Tanz-Festival, das vom 14. bis 31. August auf der
Landiwiese in Zürich stattfindet, das Programmangebot für Menschen mit
Sinnesbehinderungen aus: Vorstellungen mit Live-Audiodeskription ermöglichen
sehbehinderten Menschen den Besuch. Für Hörbehinderte sind neu ausgewählte
deutschsprachige Stücke untertitelt und vier der Spielorte mit
Induktionsschleifen ausgerüstet. Bei der Infrastruktur sind mit einem
barrierefreien Kassenbereich sowie einer zusätzlichen Behindertentoilette
Verbesserungen zu verzeichnen. Und dank einem taktil fassbaren Plan im
Eingangsbereich können sich auch blinde Menschen besser auf dem Festivalgelände
orientieren.
Programminfos ab Ende Mai: www.theaterspektakel.ch
Barrierefreie Dokumentation: www.zugangsmonitor.ch
Vorverkauf: ab 9. Juli 2014
Buchtipp: Lehrmittel zu Sport und Behinderung
Das neue Lehrmittel «Sport, erst recht» von PluSport vermittelt Basiswissen, um
mit Menschen mit einer Behinderung bedürfnisgerecht und erfolgreich Sport
treiben zu können. Was muss man zum Beispiel wissen, wenn man Menschen mit einer
Sehbehinderung oder mit Epilepsie im Sport begleitet? Das Buch beschreibt 17
verschiedene Behinderungsbilder und deren Auswirkungen auf Bewegung und Sport
und liefert interessierten Sportleitern/-innen geeignete Instrumente zu Planung,
Durchführung und Auswertung von Bewegungs- und Sportlektionen.
Stefan Häusermann, Chantal Bläuenstein, Isabelle Zibung: Sport, erst recht,
2014, Ingold Verlag.
Buchtipp: Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik
Ein Kind mit einer Behinderung verhindern, ein Kind zur Rettung eines
Geschwisters auswählen, ein Knabe statt ein Mädchen – was spricht dagegen?
Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik konfrontieren Gesellschaft und
Individuum mit schwierigen ethischen Fragen. Fachpersonen aus verschiedenen
Bereichen, Menschen mit einer Behinderung und ihre Angehörigen nehmen Stellung.
Das Buch wurde initiiert von insieme Schweiz, der Dachorganisation der
Elternorganisationen für Menschen mit geistiger Behinderung.
Christian Kind, Suzanne Braga, Annina Studer (Hg.): Auswählen oder annehmen?
Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik – Testverfahren an werdendem Leben,
2010, Chronos.
Juristischer Ratgeber
Muss die Krankenkasse den Gentest zahlen?
Unser 6-jähriger Sohn wurde mit einer Mehrfachbehinderung geboren. Die Ärzte
empfehlen eine genetische Untersuchung, um eine allfällige Chromosomenstörung
nachzuweisen. Muss unsere Krankenkasse den ärztlich empfohlenen Gentest bei
unserem Sohn bezahlen? Was müssen wir beachten?
Gabriela Grob Hügli, Rechtsanwältin
Gemäss dem Bundesgesetz über die Krankenversicherung müssen Leistungen immer die
Kriterien von Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit erfüllen.
Zudem haben sie sich auf das Mass zu beschränken, das im Interesse der
versicherten Person liegt und das für den Behandlungszweck erforderlich ist. In
diesem Sinn übernimmt die obligatorische Krankenpflegeversicherung unter anderem
Kosten für Leistungen, die der Diagnose oder der Behandlung einer Krankheit und
ihrer Folgen dienen. Dazu gehören ärztlich verordnete Analysen. Analysen, die
als Pflichtleistung im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
vergütet werden, sind in der sogenannten Analysenliste aufgeführt. Dabei handelt
es sich um eine Positivliste mit verbindlichem und abschliessendem Charakter.
Bei ihrem Sohn Andreas liegen unter anderem eine Epilepsie, eine mentale
Retardierung und eine Mikrozephalie vor. Die vom Arzt empfohlene
Reihenhybridisierung (Gentest zum Nachweis von Chromosomenanomalien) ist in der
Analysenliste aufgeführt. Sie ist somit grundsätzlich eine Pflichtleistung der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung. Trotzdem wehren sich Krankenkassen
immer wieder dagegen, Genuntersuchungen als Pflichtleistungen anzuerkennen und
entsprechend zu vergüten. Oft wird die Wirksamkeit in Frage gestellt. Es wird
argumentiert, dass bei vergleichbaren Patienten trotz Gentest die Diagnose
unklar bleibe und Kleinstmutationen der Chromosomen auch mit hochauflösenden
Genuntersuchungen nicht zu erkennen seien. Ebenfalls seien von solchen
Untersuchungen keine medizinischen Massnahmen zu erwarten. In der Praxis stellen
sich tatsächlich schwierige Abgrenzungsfragen; allgemeingültige Ratschläge und
Erklärungen sind deshalb nicht möglich. Die Rechtsprechung stellt denn auch
jeweils auf den konkreten Einzelfall ab.
Immerhin kann aber gesagt werden, dass bestimmte Kriterien erfüllt sein müssen,
um eine Kostenübernahme für genetische Untersuchungen bei bereits vorliegender
Erkrankung oder konkretem Krankheitsverdacht zu erwirken.
Die Analyse muss immer der Diagnose oder der Behandlung einer Krankheit und
ihrer Folgen dienen. Und sie muss mit einer hohen Wahrscheinlichkeit die
Konsequenz haben, dass sie
• einen Entscheid über Notwendigkeit und Art einer medizinischen Behandlung oder
• eine richtungsgebende Änderung der bisher angewendeten Behandlung oder
• eine richtungsgebende Änderung der notwendigen Untersuchung oder
• einen Verzicht auf weitere Untersuchungen von typischerweise zu erwartenden
Krankheitssymptomen, Folgeerkrankungen oder Beschwerden zur Folge hat.
Damit die Kosten von Genuntersuchungen allenfalls von Ihrer Krankenkasse
übernommen werden, ist eine enge Zusammenarbeit mit einem Facharzt für
Humangenetik unabdingbar. Er muss die oben erwähnten Kriterien auf die
Erkrankung Ihres Sohnes anwenden und die Notwendigkeit der empfohlenen
Reihenhybridisierung anhand dieser Voraussetzungen konkret darlegen. Für eine
weiterführende Beratung wenden Sie sich bitte an die für Sie zuständige
Beratungsstelle von Procap.
Procap-Ratgeber
«Was steht meinem Kind zu? Ein sozialversicherungsrechtlicher Ratgeber für
Eltern von Kindern mit Behinderung», 4., aktualisierte und überarbeitete
Auflage, CHF 34.– (CHF 29.– für Mitglieder) plus Porto. Bestellungen an
[email protected].
Ratgeber Procap bewegt
Haben Sie Ernährungstipps für Wohngruppen?
Als Betreuer/-innen einer Wohngruppe für Erwachsene mit unterschiedlichen
Behinderungen möchten wir uns mit dem Thema Ernährung beschäftigen.
Isabel Zihlmann, Ernährungsexpertin
Zu Beginn ist es wichtig, die Ess- und Trinkgewohnheiten jeder einzelnen Person
innerhalb der Wohngruppe kennenzulernen. Am besten halten sie diese gemeinsam
mit den Bewohnern/-innen in einem persönlichen Tagebuch fest. Notieren Sie
individuelle Voraussetzungen und Lebensgewohnheiten: Wann und was isst und
trinkt die Person? Was mag sie am liebsten, was nicht? Auf diese Weise werden
eigene Bedürfnisse bewusst gemacht, und es entstehen Ideen für Zielsetzungen und
Aktivitäten. Ein Ziel könnte beispielsweise sein, dass die Bewohner/-innen
regelmässig Wünsche für den Speiseplan einbringen können. Spannend ist für viele
auch, eigene Schöpfmengen nachzuwiegen oder herauszufinden, wie viel Zucker in
den Getränken enthalten ist. Muss es so süss sein, oder ginge es auch anders?
Für ein Fest können Sie gemeinsam mit den Bewohnern/-innen der Wohngruppe bunte
kulinarische Beiträge gestalten, die sich unter ein bestimmtes Motto (z.B. Essen
aus aller Welt für die Fussball-WM) stellen lassen. Einige weitere Tipps:
Gemeinsam Rezepte entwickeln und kochen oder Ateliers zu Geruch und Geschmack,
um die Sinne anzusprechen und die Neugier auf andere sensorische Erfahrungen zu
wecken. Für ein gutes Körperbewusstsein gehört auch die Auseinandersetzung mit
Bewegung und körperlichem Empfinden dazu. Wichtig ist bei der Durchführung aller
Aktivitäten: Schaffen Sie Strukturen und Gelegenheiten, sich während einer
längeren Zeit mit der Thematik zu befassen, beispielsweise in Form von
regelmässigen gemeinsamen Aktivitäten und als festen Input bei Sitzungen der
Wohngruppe. Auf diese Weise lassen sich Fortschritte verfolgen und auch nach
aussen kommunizieren.
Hilfsmittel für das Notieren von Ess-, Trink- und Bewegungsgewohnheiten:
Gesundheitspass Essen, Trinken und Bewegen». Download auf www.procap-bewegt.ch.
Tipps für Aktivitäten: Broschüre «Gesund leben mit Behinderung». Bestellung:
[email protected].
Übung mit Ball
Übung: Gerader Rücken, einen weichen Ball in die Hand nehmen. Zudrücken, den
Druck 2 bis 5 Sekunden beibehalten, dann wieder loslassen. 5 bis 10
Wiederholungen. Ziel: Stärkung der Finger und Unterarme.
Empfehlungen von Procap
für ein erfolgreiches Training
- Passen Sie die Anstrengung -immer Ihren Möglichkeiten an.
- Achten Sie auf Ihre Atmung.
- Sie sollten während der Übung immer in der Lage sein zu sprechen.
» Trinken Sie genügend – am besten Wasser.
Fragen zu den Themen
Ernährung und Bewegung schicken Sie bitte per Post an Procap bewegt, Frohburgstrasse 4, Postfach, 4601 Olten, E-Mail [email protected].
Schlusswort
Frühdiagnostik
Wenn es die Präimplantationsdiagnostik (PID) bereits 1957 gegeben hätte, und
dabei festgestellt worden wäre, dass ich möglicherweise MS bekommen würde, wäre
ich wahrscheinlich abgetrieben worden. Mein Vater war ein überaus vorsichtiger
Mensch und tat sich sehr schwer, mit Unsicherheiten zu leben. Und das wäre sehr
schade gewesen. Immerhin lebe ich seit 57 Jahren recht gut, auch wenn bei mir im
Alter von 19 Jahren MS diagnostiziert wurde und ich seit 20 Jahren im Rollstuhl
sitze. Aber was hätte ich nicht alles verpasst. Meinen ersten Kuss mit Astrid am
Rand vom Büschiwald bei Köniz im Kanton Bern. Meinen besten Freund Riccardo, den
ich seit bald 50 Jahren kenne. Meine Reise nach Mallorca, wo ich im Speisesaal
unseres Hotels das schönste Mädchen sah, das ich je gesehen hatte. Seit vielen
Jahren ist sie meine Frau. Die zwei Bücher, die ich veröffentlichen konnte.
Multiple Sklerose ist etwas anderes als Trisomie. Aber hart ist es so oder so.
Trotzdem bin ich glücklich, dass ich lebe.
Reto Meienberg
Reto Meienberg ist freischaffender Werbetexter und hat Texte zu BehindertenCartoons verfasst. Der heute 57-Jährige hat mit 19 die Diagnose Multiple
Sklerose erhalten.
Schwerpunkt 3/2014: Hindernisfrei wohnen
Nächster Schwerpunkt
Mehr als 170 000 Menschen in der Schweiz benötigen aufgrund einer Gehbehinderung
rollstuhlgängige Wohnungen. Aber hindernisfreie Wohnungen sind Mangelware und
oft teuer. Im nächsten Magazin lesen Sie mehr zum Thema und über die
Sensibilisierungskampagne von Procap, die sich an Verantwortliche der
Immobilien- und Baubranche richtet.
Kleinanzeigen
Die Gratiskleinanzeigen für Mitglieder finden Sie auf der Website von Procap
www.procap.ch. Sie können unter den Rubriken Partnerschaft/Freundschaft,
Hilfsmittel, Assistenz oder Wohnung Anzeigen aufgeben.
Falls Sie Fragen haben oder Hilfe beim Ausfüllen des Onlineformulars benötigen,
kontaktieren Sie Susi Mauderli, Tel. 062 206 88 96.
Impressum
Herausgeberin Procap Auflage WEMF 21 968 (total), 17 396 (deutsch); erscheint
vierteljährlich Verlag und Redaktion Procap-Magazin, Frohburgstrasse 4,
Postfach, 4601 Olten, Tel. 062 206 88 88, [email protected], www.procap.ch
Spendenkonto IBAN CH86 0900 0000 4600 1809 1 Leitung Redaktion Franziska Stocker
Mitarbeit in dieser Nummer Gabriela Grob Hügli, Anita Huber, Susi Mauderli, Reto
Meienberg, Marie-Christine Pasche, Isabel Zihlmann Übersetzung Tatjana Lauber,
Franziska Stocker Korrektorat -Priska Vogt Layout Clemens Ackermann Inserateverwaltung Axel Springer Schweiz AG, Fachmedien, Förrlibuckstrasse 70, Postfach,
8021 Zürich, 043 444 51 09, Fax 043 444 51 01, [email protected] Druck und
Versand Stämpfli -Publikationen AG, Wölflistrasse 1, 3001 Bern; Adressänderungen bitte -Ihrer Sektion melden oder Procap in Olten, Tel. 062 206
88 88. Papier FSC Mix aus nachhaltiger Waldbewirtschaftung Abonnemente
Jahresabonnement für Nichtmitglieder Schweiz CHF 20.–, Ausland CHF 25.–, ISSN
1664-4603. Redaktionsschluss für Nr. 3/ 2014 24. Juli 2014; Nr. 3 erscheint am
28. August 2014.
Herunterladen