10. Dezember 2001 Konsequenz Und was nun? Koordinierte Qualitätsinitiative starten Nun haben wir den Salat: Pisa belegt, dass die Leistungen unserer Schulen, auch die Spitzenleistungen, höchstens durchschnittlich sind, wir vergleichsweise wenig für die Lernschwachen tun und zudem an der Spitze der Länder mit hoher sozialer Auslese stehen. Und was nun? Es lohnt nicht, diese Ergebnisse infrage zu stellen. Sie sind wissenschaftlich fundiert. Man könnte Details kritisieren, aber insgesamt stellt Pisa das Spitzenniveau von großflächigen Leistungsuntersuchungen dar. Die Frage ist vielmehr: Was sollen und was können wir jetzt unternehmen, damit die Schülerleistungen besser werden? An der sozialen Selektivität unseres Schulsystems können wir ohnehin wenig ändern, solange die Auslese schulstrukturell nach der 4. Klasse Grundschule erfolgt. Aber wir können und sollten eine großangelegte koordinierte Qualitätsinitiative starten. Vorweg sei festgestellt: Die Daten von Pisa umstandslos in Unterrichtsverbesserung umsetzen zu wollen, ist eine Illusion, eine Steuerungsillusion, der viele Behörden unterliegen. Denn jede Rückgabe von Daten an die Schulen Ende des neuen Jahres wird innerschulisch als Intervention und nicht als Unterstützung verstanden. Wir wissen u. a. aus der Systemtheorie, wie voraussetzungsvoll die Beeinflussung komplexer Systeme von außen und wie unwahrscheinlich gelingende Intervention ist. Wir müssen davon ausgehen, dass das System, in das investiert wird (zum Großteil), selbst entscheidet, wie es (und ob es) die Intervention verarbeitet. In unserem Fall ist die Einzelschule das System. Einzelschulen sind normalerweise gewachsene Institutionen mit einer eigenen Dynamik, die man von außen kaum beeinflussen kann. Druck machen bewirkt fast nichts, meistens Abwehr. I. Systemebene Behörde Dennoch gibt es Handlungsmöglichkeiten, vor allem auf der Systemebene der Behörden und der Politik. Diese sind für die Rahmenbedingungen, Unterstützung und die Ressourcen zuständig. Hier kann und muss viel getan werden, wie der folgende Katalog von Maßnahmen zeigen soll: 1. Lehrplanrevision Großflächige Leistungsuntersuchungen können Hinweise für eine Revision der Lehrpläne der betroffenen Fächer geben. Je differenzierter die Informationen der Datenrückmeldung für die Subdisziplinen der Fächer (z.B. Algebra, Geometrie usw.) ausfallen, desto nützlicher sind die Hinweise für eine Lehrplanrevision. Ebenso können durch Datenrückmeldungen auch fachdidaktische Aktivitäten von Berufsverbänden und wissenschaftlichen Vereinigungen angeregt werden, die wiederum auf die Lehrplanarbeit einwirken. 2. BLK-Programme Ein gutes Beispiel ist Sinus, ein Programm der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und -forschung zur Erneuerung der Curricula für Mathematik und Naturwissenschaften im Anschluss an Timss. Dieses Programm regt in zahlreichen Modellschulen Aktivitäten zur Unterrichtsentwicklung an, bei denen auch assoziierte Schulen einbezogen sind. 3. Programme von Landesinstituten Jedes Bundesland unterhält ein Institut, das Curriculumentwicklung, Lehrerfortbildung, Materialentwicklung und Projektdurchführung bzw. -betreuung betreibt. Diese Vorhaben können durch die Ergebnisse der großflächigen Leistungsuntersuchungen Impulse erhalten und perspektivisch orientiert werden. Vor allem müssten Landesinstitute spezielle Förderprogramme für Schülerinnen und Schüler mit Lernschwächen konzipieren und durchführen und die Ministerien dafür zusätzliche Mittel bereitstellen. 4. Lehrerbildung Die Ergebnisse von großflächigen Leistungsuntersuchungen können in die Ausbildung des Lehrernachwuchses einfließen und dieser neue Akzente verleihen. Sie vermögen darüber hinaus die allgemein- und fachdidaktische Forschung und Entwicklung anzuregen, welche an den Institutionen der Lehrerbildung angesiedelt sind. 5. Lehrerfortbildung In vergleichbarer Weise wie die Ausbildung von Lehrern kann auch deren Fortbildung richtungsweisende und aktivitätenlenkende Impulse von großflächigen Leistungsuntersuchungen erhalten. Sie wirken schneller als die der Lehrerbildung der 1. Phase. 6. Beratung und Unterstützung Hierzu zählt vor allem die Ausbildung und Bereitstellung von Schulentwicklungsberatern. Dazu gehört ebenso das System von Fachberatern, das überall existiert, und in Bezug auf die neuen Inhalte von Pisa („literacy“ als Bezugspunkt) modernisiert werden müsste. Synergien sind zu erwarten, wenn Fach- und Schulentwicklungsberater eng zusammenarbeiten. 7. Materialentwicklung Das Feld der Materialentwicklung ist weit. Es umfasst neue Schulbücher und Arbeitsmittel, Testpakete und Aufgabensammlungen, Lernhilfen und Angebote auf Bildungsserver. Alle diese Materialien könnten aus den Ergebnissen von großflächigen Leistungsuntersuchungen wichtige Hinweise für die Überarbeitung erhalten. 8. Ganztagsschule Deutsche Schulen unterscheiden sich von den Schulen fast aller anderen Länder dadurch, dass sie Halbtags- und nicht Ganztagseinrichtungen sind. Schulen über den ganzen Tag stellen ein besonders wirksames Mittel der Kontextsteuerung dar. Sie schaffen Zeitgefäße für Lehrerkooperation und damit für fachbezogene wie überfachliche Absprachen, Materialentwicklung oder gegenseitige Hospitationen, kurz: für Unterrichtsentwicklung. Ob diese Zeitgefäße allerdings in diesem Sinne genutzt werden, entscheidet nicht die Systemebene, sondern die Einzelschule. Das Maß der Nutzung kann allerdings durch die Systemebene beeinflusst werden, vor allem durch Anreize, Unterstützung und Wettbewerbe mit Preisen. Zur notwendigen Unterstützung zählt auch die Bereitstellung von Arbeitsplätzen für die Lehrpersonen in der Schule. II. Schulebene Bewirken lässt sich vor allem etwas auf der Ebene von Einzelschulen. Allerdings geht es hier weniger um Interventionen der Behörden, aber desto mehr um Schulentwicklung. 1. Lerngemeinschaften entwickeln Professionelle Lerngemeinschaften (PLG) gelten in der nordamerikanischen Diskussion als das wirksamste Instrument der Schulentwicklung, um Schülerleistungen zu verbessern. Die Begrifflichkeit schillert: Mal wird das ganze Kollegium als PLG verstanden, mal sind einzelne Gruppen gemeint. Plausibler ist es, kleine Gruppen als PLGs zu bezeichnen, weil sich konkrete Zusammenarbeit in Gruppen und nicht im Plenum eines Kollegiums vollzieht. Solche Gruppen bestehen aus drei bis zehn Lehrpersonen, die sich innerhalb von Schulen zusammengetan haben. Sie tagen vergleichbar mit Qualitätszirkeln etwa vierzehntäglich. Das ist viel mehr, als in Deutschland gewohnt. Ihre Hauptkennzeichnung ist eine doppelte: Sie sind zum einen strikt auf die Verbesserung von Schülerleistungen bezogen, und sie sind zum anderen dezidiert auf die professionelle Entwicklung ihrer Mitglieder bedacht nach dem Motto „Lehrer als Lerner“. Die Verbesserung der Schülerleistungen als handlungsleitendes Kriterium nimmt fast rigorose Züge an. Bei jeder Aktion, bei jedem Vorschlag und bei jeder Entscheidung wird in erster Linie gefragt: Und was nützt das dem Lernerfolg unserer Schülerinnen und Schüler? Lehrer als Lerner verstehen sich als solche, die voneinander („Lehrer lernen von Lehrern“) und die miteinander, also in einer professionellen Gemeinschaft, lernen. Lehrer als Lerner PLGs sind in den USA eine Novität; sie sind es erst recht im deutschen Sprachraum. Deshalb werfen sie im Moment noch mehr Fragen auf als sie beantworten können. Zur Beantwortung dieser Fragen müssen zunächst die Zielgruppen für die Arbeit in PLGs gesucht bzw. die schon vorhandenen innerschulischen Arbeitsstrukturen geklärt werden. Infrage kommen in erster Linie: Fachgruppen, das heißt fachbezogene Jahrgangs- oder Stufengruppen (also alle Lehrerinnen und Lehrer eines Fachs in einer breiten Jahrgangsgruppe oder Stufe) bzw. komplette Jahrgangsgruppen (die dann überfachlich arbeiten). Wichtig ist, dass die PLGs durch die Schulleitungen unterstützt werden, symbolisch wie organisatorisch. Beispielsweise könnte die Schulleitung mit dem Sprecher bzw. den Mitgliedern einer PLG eine Zielvereinbarung treffen, die auch die Unterstützung regelt. Vor allem müsste die Schulleitung die stundenplantechnischen Voraussetzungen und auch Entlastungen schaffen, indem sie z. B. zulässt, dass alle 14 Tage eine 6. oder 7. Stunde „abgehängt“ wird, zu der dann die PLG tagen kann. Zur Institutionalisierung im Sinne von „Aufdauerstellung“ gehört auch, dass sich die Lehrpersonen nicht verzetteln, sondern nur in einer, nicht aber in zwei oder gar drei PLGs mitarbeiten. Feedback-Kultur Die Mitglieder einer PLG könnten die Pisa-Rückmeldungen bearbeiten und versuchen, sie zu verstehen. In der Folge ist vieles denkbar: Beispielsweise liegt es nahe, dass Mitglieder einer PLG sich auf Beispiele eigener, gelungener Unterrichtspraxis („best practices“) besinnen, sie sich gegenseitig vorstellen und auf mutmaßliche Folgen für das Lernen der Schüler hin überprüfen. Das bedeutet auch einen Einstieg in interne Unterrichtsevaluation, die im gelungenen Fall zur Dauereinrichtung wird. Zu nennen wären ferner: Führen und gemeinsames Auswerten von Lerntagebüchern, gegenseitige Vertretung im Unterricht, um eine konkrete Basis Erfahrungsaustausch in der eigenen Schule zu finden, Erfahrungsaustausch mit Kollegen aus anderen Schulen, Anbahnung, Durchführung und Auswertung von Hospitationen, Entwicklung und Austausch von Arbeitsmitteln, Einholen und Auswertung von Feedback der Schüler zu ihrem Unterricht, Klärung und Überprüfung von Leistungsstandards, Austausch und Auswertung von Klassenarbeiten und Parallelarbeiten, Erstellen von Förderplänen. für Zur Erhöhung ihrer Professionalität können PLGs gemeinsam eine Fortbildungsveranstaltung besuchen, sie auswerten und versuchen, die Erfahrungen im eigenen Unterricht umzusetzen. PLGs könnten umgekehrt Fortbildner bzw. Trainer für eine längerfristige Begleitung in ihrer Schule gewinnen und sich für einen bestimmten Zeitraum intensiv begleiten lassen. Solche Fortbildner können auch selber Unterrichtsstunden (als Beispiel) geben oder Mitglieder der PLGs in deren Unterricht coachen. Auf diese Weise kommt die Fortbildung in die Schule, entsteht Lernen on-the-job. Die PLGs müssten versuchen, eine Feedback-Kultur aufzubauen, untereinander und im Verhältnis zu den Schülerinnen und Schülern. Darüber hinaus wäre eine Vernetzung mit (Fach-)Lehrpersonen anderer Schulen dem professionellen Lernen zuträglich, vor allem eine Zusammenarbeit mit PLGs anderer Schulen. Diskurse innerhalb der PLGs über Kriterien lernförderlichen Unterrichts sowie von Kriterien der Leistungsbewertung sind weitere, letztlich unverzichtbare Beiträge zur Professionalisierung. 2. Fach- oder Lernstrukturen? Eine zentrale Frage ist, wie eine Strategie der Unterrichtsentwicklung inhaltlich auszusehen hätte: fachdidaktisch, allgemeindidaktisch, methodenorientiert oder wie sonst? Pisa ist stark fachdidaktisch geprägt. Fachdidaktiker entwickelten die Leistungstests; sie sind auch in den Forschungsgruppen prominent vertreten. Die Rückmeldungen enthalten zudem meist fachdidaktische Daten, wenngleich der ultimative curriculare Bezugspunkt nicht bei Fächern, sondern bei der Bewältigung zukünftiger Lebenssituationen („literacy“) liegt. Es liegt deshalb nahe, die innerschulische Verarbeitung der Pisa-Rückmeldungen in erster Linie den Fachkonferenzen (Deutsch, Mathematik, Naturwissenschaften) zuzuschreiben (und Unterrichtsentwicklung vielleicht aufsteigend von Klasse 5 und nicht erst von Klasse 9 an zu konzipieren). Andererseits zeigen ernstzunehmende Erfahrungen aus den Klippert-Projekten sowie aus „Schule und Co.“, dass nachhaltige Unterrichtsentwicklungen eher horizontal zu konzipieren sind, also über Klassen- und Jahrgangsteams. In vertikalen Strukturen (d.h. in Fachkonferenzen) wird eher über Inhalte gearbeitet, in horizontalen über Lernen. Zudem fällt Kooperation in fachübergreifenden Teams leichter als in fachspezifischen, wie Forschungen zeigen. 3. Innerschulische Akteure aktivieren Eine innerschulische Nutzung der Ergebnisse von großflächigen Leistungsuntersuchungen ist nur möglich, wenn die schulischen Akteure dies wollen. Es gibt eine ganze Reihe solcher Akteure. Da ist zunächst die Schulleitung. Sie ist der Adressat der Daten. Sie entscheidet wesentlich darüber, ob die Schule überhaupt Daten anfordert und vor allem, was damit gemacht werden soll. Hinzukommen die Fachkonferenzen. Ihre Perspektive liegt konsequenterweise darin, die PisaDaten als Anstoß zu nehmen, um sich zu Professionellen Lerngemeinschaften zu entwickeln. Diese können mit Schulentwicklungs-Beratungen/Fachberatungen zusammen gespannt werden. Die Schulaufsicht spielt bei PISA kaum eine Akteursrolle. Sie kennt die Daten nicht bzw. nur wenn die Einzelschule das will. Beratung kann deshalb nur auf Wunsch der Schule erfolgen. Unklar ist auch, ob und in welchem Umfang die Schulkonferenz/Eltern eine Rolle übernehmen können. Vor allem können sie Druck machen. Wie produktiv oder unproduktiv diesbezüglicher Druck sein kann, hängt von den Verhältnissen vor Ort ab. Nicht zuletzt sollte man an die Einrichtung einer Steuergruppe denken. Dies bedarf auf jeden Fall einer koordinierenden und Schwerpunkt setzenden Instanz. Sie könnte vertikale mit horizontalen Arbeitsstrukturen der Schulentwicklung koordinieren. Es sollte hinzugefügt werden, dass Schulentwicklung nur „läuft“, wenn die Einzelschul- und Systemebene zusammenarbeiten. So kann man auf der Systemebene viel für leistungsschwache Schulen tun, z.B. zusätzliche Ressourcen, auch in Form zusätzlicher Lehrpersonen mit Förderauftrag, bereitstellen, neue Lehrmaterialien entwickeln, die Schülerströme beeinflussen oder die Ausleseprozeduren verändern. Das betrifft auch Eingriffe in den Aufbau der Schulstruktur. Aber das ist in Deutschland ja tabu. Viele der genannten Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung kosten Geld. Geld ist hoffentlich für die größte Wirtschaftsmacht Europas kein Tabu. Hans-Günter Rolff aus e&w 12/01