Prof. Dr. Wolf-Dieter Scholz Oldenburg, September 2002 PISA (Programme for International Study Assessment) Ergebnisse und Wirkungen einer internationalen Untersuchung zur Schieflage des deutschen Schulsystems „Kinder sind keine Fässer, die man füllen muss, sie sind vielmehr wie Feuer, die angefacht werden müssen!“ „Nobody likes change except a wet baby“ 1. Zwischen „Bildungskatastrophe und PISA-Schock“: Internationale Untersuchungen zur Schulleistung In der Wochenzeitschrift „Die Zeit" war folgendes zu lesen: “Die Bundesrepublik steht in der vergleichenden Schulstatistik am untersten Ende der europäischen Länder“; deutsche Schülerinnen und Schüler zeigen in den naturwissenschaftlichen Schulleistungen nur unterdurchschnittliche Leistungen, die deutlich schlechter seien als die der Schüler aus vielen anderen vergleichbaren Industriestaaten. „Nicht nur die „klassischen Bildungsstaaten Frankreich, England oder Schweden, liegen weit vor der Bundesrepublik; auch Länder wie Ungarn, Finnland, Schottland, Australien oder Neuseeland übertreffen den Unterrichtserfolg hierzulande“. Es heißt weiter, dass wie sonst kaum irgendwo auf der Welt das Schulsystem in Deutschland die Schüler ausliest, eine im internationalen Vergleich nur sehr geringe Quote an Schülerinnen und Schülern eines Jahrgangs in den Abschlussklassen der Sekundarstufe II hat (9% gegenüber 75% in den USA, 70% in Japan, 47% in Belgien) und dass schließlich trotz der hohen Selektivität des gegliederten Schulsystems „aber auch diese „hochausgelesene kleine Elite (...) nicht leistungsfähiger (ist) als die Spitze in anderen Ländern.“ Der Inhalt dieses Berichtes scheint eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der PISA Studie 2000 zu sein. Der Eindruck trügt. Es handelt sich hierbei vielmehr um einen Bericht vom 20. September 1974 von Hajo Matthiesen - als Faksimile wiederabgedruckt in der ZEIT vom 12. Dezember 2001 - eingeleitet mit der bezeichnenden Überschrift „Alte Wahrheiten“ (DIE ZEIT, 51. 2001). Der Artikel von Matthiesen bezieht sich auf eine weltweit durchgeführte Studie über Schulleistungen im naturwissenschaftlichen Unterricht, die von der International Association for the Evaluation of Educational Research (IEA) durchgeführt und 2 in Deutschland vom Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt (Leitung: Prof. Dr. Schultze) betreut worden ist. Befragt wurden damals 258 000 Schülerinnen und Schüler in 9700 Schulen aus 20 Ländern nach ihren Kenntnissen und praktischen Fähigkeiten in den Fächern Erdkunde, Biologie, Chemie und Physik. Das war etwa zur gleichen Zeit, als die OECD-Studien zur Wirksamkeit des deutschen Bildungssystems „Bildungswesen: Mangelhaft“ veröffentlicht worden ist (1972). Es war ziemlich genau zehn Jahre nach Georg Pichts Warnung vor der „Deutschen Bildungskatastrophe“ sowie der „First International Mathematics Study (FIMS), im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der „First International Science Study“ (FISS) von 1970 und es war etwa 20 Jahre vor der Veröffentlichung der sogenannten TIMSS-Studie (Third International Mathematics And Science Study), die für die mathematischen und naturwissenschaftlichen Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler im OECD-Vergleich zu ähnlichen Ergebnissen kam und erste tiefergehende Beunruhigungen in Deutschland auslöste. Die nun im Jahr 2000/2001 veröffentlichte PISA Studie ist Fortsetzung und in der Kontinuität der Ergebnisse gleichsam die „Krönung“ der vorangegangenen Untersuchungen zur Wirksamkeit des deutschen Bildungssystems. Man könnte also meinen, dass sich eigentlich nicht viel getan hat. Für die gemessenen schlechte deutsche Leistungsbilanz scheint das so zu sein, für die öffentliche, politische, wissenschaftliche und publizistische Reaktion darauf nicht. Es hat den Anschein, als gäbe es ein schmerzhaftes Erwachen aus dem unbegründeten Traum, dass im großen und ganzen unser Schulsystem seine gesellschaftlichen und individuellen Aufgaben gut erfülle. Es sieht so aus, als würde sich nicht nur die Politik selbstkritisch mit den Schwächen unseres Bildungssystems beschäftigen, um deren Wirksamkeiten zumindest mittelfristig erheblich zu verbessern und es international konkurrenzfähiger zu machen. 2. Was ist PISA, welches Anliegen hat die Untersuchung und mit welcher Methode ist gearbeitet worden? PISA ist das Akronym für „Programme for International Student Assesment“ und damit ein Programm im Rahmen der (internationalen) empirischen Schulleistungsforschung. PISA soll mit Hilfe empirischer Methoden sogenannte Basiskompetenzen der nachwachsenden Generation erfassen, die diese – so die Annahme - für die Bewältigung von Zukunftsaufgaben in modernen Gesellschaften benötigen. Das PISA-Programm wird von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) durchgeführt. Es wird von allen Mitgliedstaaten gemeinschaftlich getragen und verantwortet. Zentrale Zielsetzung von PISA ist es, den Regierungen der teilnehmenden Länder auf einer gesicherten Grundlage Informatio- 3 nen zur Verfügung zu stellen, die sie zur Verbesserung ihrer nationalen Bildungssysteme nutzen können. Gedacht ist dabei an alle Ebenen des Bildungssystems. Eingeschlossen ist damit auch die Entwicklung von einzelnen Aspekten des Schulsystems, angesprochen werden aber auch Aspekte der Lehrerausbildung und der Schulberatung. Bei den von der PISA Studie 2000 untersuchten Basiskompetenzen geht es nicht um Schulwissen im engeren curricularen Sinne. Es geht vielmehr um solche Dinge, die nach Auffassung der OECD-Staaten Autoren in modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig sind. Ich möchte schon an dieser Stelle darauf hinweisen, dass PISA damit nur bestimmte Ausschnitte aus dem komplexen Feld schulischen Lernens misst. Über die vielschichtigen Leistungen der Schulen werden damit nur eingeschränkte Aussagen möglich: „Soziale Integration von Minderheiten, Beiträge zur Persönlichkeitsentwicklung, Entwicklung musischästhetischer Interessen, Verringerung von Gewalt – auch das sind Leistungen der Schule, die allzu leicht aus dem Blick geraten.“ (Brügelmann/Heimann 2002. S. 10) Bei PISA sind in einer internationalen standardisierten Leistungsmessung 15jährige Schülerinnen und Schüler in ihren Schulen befragt worden. Teilnehmer sind 32 Staaten, davon 28 Mitgliedsstaaten der OECD. In jedem der untersuchten Länder wurden zwischen 4.500 und 10.000 Schülerinnen und Schülern getestet. Zusätzlich sind für eine deutsche Länderauswertung weitere 1466 Schulen mit insgesamt 50 000 Schülern untersucht worden. Die Ergebnisse liegen uns seit Ende Juni 2002 vor. Sie zeigen das - erwartete - Gefälle zwischen den Spitzenreitern Bayern, Baden-Württemberg auf der einen und den Schlusslichtern Bremen, Sachsen-Anhalt auf der anderen Seite. Auch wenn die Länderregierungen aus Bayern und Baden-Württemberg der Versuchung nicht ganz widerstehen konnten, im Kontext des Bundestagswahlkampfes ihr besseres Abschneiden als gutes Abschneiden und Ausdruck einer besseren und erfolgreicheren konservativen Bildungspolitik zu interpretieren, ein genauerer Blick auf die Länderauswertung relativiert diesen Eindruck sehr schnell. Der positive Eindruck wird getrübt wenn es z. B. um die Gleichheit der Bildungschancen geht, und die Ergebnisse büßen ihren Glanz ein, wenn sie international eingeordnet werden. Es zeigt sich nämlich, dass dann auch Bayern und Baden-Württemberg nur eher zweitklassig und von der internationalen Spitze noch entfernt sind – wenngleich deutlich näher dran als z. B. Bremen und Niedersachsen! Gleichwohl bietet der Ländervergleich die Chance, sorgfältig und uneingenommen zu analysieren, in welchen Punkten der Bildungspolitik wir auch von Bayern lernen können, sie machen aber auch deutlich, dass die Ergebnisse der PISA Studie nicht abstrahiert werden dürfen von der Sozialstruktur und damit auch von der Problemstruktur einer Region. Offenkundig haben Länder oder 4 Regionen mit einer günstigen und modernen Wirtschaftsstruktur auch eine günstigere Sozialstruktur und damit bessere Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bildungspolitik Ohne hier die Ergebnisse der PISA E-Studie zu vertiefen, soll auf zwei Aspekte hingewiesen werden, die bei der bildungspolitischen Bewertung des gemessenen Leistungsgefälles zwischen den Bundesländern berücksichtigt werden müssen, um nicht zu kurzschlüssigen Folgerungen zu kommen. Zum einen drücken sich in den Ergebnissen die Ambivalenzen bzw. die Zielkonflikte eines dreigliedrigen, früh auf Selektion ausgerichteten Schulsystems aus. Wenn nämlich die Bildungspolitik eines Bundeslandes den Schwerpunkt in der möglichst weiten Ausschöpfung der Begabungen sieht und die Abiturientenquote entsprechend hoch ist – das ist z. B in den Bundesländern Bremen und Brandenburg mit jeweils ca. 31%, in NordrheinWestfalen mit 29% der Fall , dann führt das zu einer Schwächung vor allem der Hauptschule: „Der Aufstieg der einen zieht am anderen Ende Demoralisierung und kognitive Schwächen nach sich.“ (Kahl 2002. 8). Ist umgekehrt der Anteil der Schüler in der Hauptschule besonders groß, führt das dort auf der einen Seite offenkundig zu besseren Schulleistungen, der Anteil derer, die das Abitur erreichen, ist dann allerdings im nationalen und internationalen Vergleich nur sehr gering. Das gilt z. B. für Bayern. Hier liegt der Anteil der Abiturienten mit Allgemeiner Hochschulreife bei ca. 20%, und auch der Anteil aller Absolventen des Schulsystems mit einer Hochschulreife (einschließlich Fachhochschulreife) liegt mit 29% niedriger als in allen anderen Bundesländern. Die Folge ist u. A., dass Bayern seinen hohen Bedarf an Akademikern aus anderen Bundesländern importieren muss! Ein anderer Aspekt betrifft den unterschiedlichen Anteil von Schülern mit einem Migrationshintergrund und der damit korrelierenden Sozialstruktur. Das wird am Bundesland Bremen besonders deutlich. Hier liegt der Anteil von Schülern mit einem entsprechenden Elterhaus mit 40,7% höher als in allen anderen Bundesländern, und er ist fast doppelt so hoch wie in Bayern (22,4%). Erschwerend hinzu kommt, dass in Bremen der Anteil von Schülern aus bildungsfernen Migrationsfamilien (Türkei, Polen, ehemalige Sowjetunion) mit 67% besonders hoch ist und auch der Anteil der Jugendlichen, deren beide Eltern im Ausland geboren sind, ist mit 36,1% aller Emigrantenkinder ebenfalls überdurchschnittlich (Carle 2001. Seite 8). Ursula Carle weist darauf hin, dass es in Bremen besonders viele 15-Jährige mit schlechten deutschen Sprachkenntnissen gibt, weil hier 35,3% der Jugendlichen mit Migrationshintergrund während ihrer Schulzeit eingewandert sind – das sind 14,12% der gesamten Bremer Stichprobe (Carle 2002. Seite 8)! Die Autoren der PISA Studie gehen davon aus, dass das Schulleistungsverhalten von 15-Jährigen Schülerinnen und Schülern durch komplex zusammenwirkende Faktoren bewirkt wird, dass dabei primäre und sekundäre Faktoren eine Rolle spielen und die gemessenen Schulleistungen 5 im Guten wie im Schlechten nicht nur durch die Schule, sondern ebenso durch Elternhauseinflüsse beeinflusst werden. Deshalb müssen solche Aspekte wie der Migrationshintergrund, die Sozialstruktur einer Region und die Gesamtleistungen eines Schulsystems (dazu gehört auch die Quote an Abiturienten) beim Bundesländervergleich mit herangezogen werden. Allerdings darf der Einfluss der ethnischen Zugehörigkeit auch nicht überbewertet werden. In den neuen Bundesländern liegt nämlich der Anteil von Kindern aus Migrantenfamilien bei weniger als 5 %. Von Sachsen abgesehen gehören sie dennoch nicht zu den Spitzenreitern in bundesweiten Vergleich. 3. Welche Aspekte der Leistungsfähigkeit der Schulen sind untersucht worden und welches Konzept steckt hinter der untersuchten „Literalität“? PISA misst im Wesentlichen drei zentrale kognitive Bereiche: Lesekompetenz (reading literacy); mathematische Grundbildung (mathematical literacy) und naturwissenschaftliche Grundbildung (scientific literacy). Dabei geht es vorrangig nicht nur um die Beherrschung des im jeweiligen Lehrplanes der beteiligten Länder vorgesehenen Lehrstoffes, sondern vor allem um solche Kenntnisse, Fähigkeiten und fächerübergreifende Kompetenzen, die man im Erwachsenenleben benötigt: Das methodische Instrumentarium dieser Vergleichsuntersuchung besteht aus einer Batterie und Mischung von Testaufgaben und Fragen, für die die Schülerinnen und Schüler eigene Antworten ausarbeiten mussten. Zusätzlich mussten sie einen Schülerfragebogen mit Hintergrundfragen über sich selbst beantworten. Auch die Schulleiter wurden gebeten, Fragen über ihre Schule zu beantworten. Die erste Erhebung fand im Jahr 1999 statt, danach erfolgen weitere Erhebungen in einem Drei-Jahreszyklus. Im Jahr 2003 wird vorrangig die Mathematik, im Jahr 2006 werden die Naturwissenschaften evaluiert. Die Messung fächerübergreifender Kompetenzen wird schrittweise angestrebt. PISA wird also dynamisiert und bleibt uns auch als Diskussionsthema in den nächsten Jahren erhalten. Zusätzlich zu dieser international vergleichenden Befragung und Testung kann es nationale eigene Untersuchungen als Vertiefungen geben wie das ist zum Beispiel in Deutschland mit PISA-E gemacht worden ist. Wichtig und neu im Vergleich zu vorangegangenen Studien wie z. B. bei TIMSS ist, dass PISA neben schulischen Daten auch Informationen über den gesellschaftlichen Hintergrund des jeweiligen Bildungssystems erhebt. Neu ist auch, dass in der PISA Untersuchung nicht einfach nur Wissen abgefragt wird, sondern unter Rückgriff auf das Konzept der sogenannter Literalität (literacy) auch getestet wird, wie Schülerinnen und Schüler das in der Schule erworbene Wissen zum Verständnis der Welt/ihrer Welt tatsächlich anwenden können. 6 4. Wie schneiden die deutschen Schülerinnen und Schüler ab, und welche anderen bildungspolitisch bedenklichen Ergebnisse zeigt PISA für Deutschland? 4.1 Die kognitiven Leistungen als Basiskompetenzen Gemessen wurden die Bereiche Lesekompetenz als sprachliche Literalität. Testergebnisse über die Gesamtleistung/Gesamtskala „Lesen“: OECD- Durchschnitt: 500 Punkte; Finnland auf Platz 1: 546 Punkte; Deutschland auf Platz 21: 484 Punkte; Brasilien auf dem letzten Platz: 396 Punkte. Fazit: Deutschland liegt im unteren Teil des Feldes der OECD! Mathematische Grundbildung: OECD-Durchschnitt mit 500 Punkten; Platz 1: Japan mit 557 Testpunkten; Finnland als erstes europäisches Land auf Platz 4 mit 536 Punkten; Deutschland auf Platz 20 mit 490 Punkten; Brasilien auf dem letzten Platz mit 334 Punkten. Fazit: Auch hier liegt Deutschland im unteren Feld der OECD-Staaten! Naturwissenschaftliche Grundbildung: OECD-Durchschnitt mit 500 Punkten; Platz 1 Korea mit 552 Punkten; Platz 3 nach Japan: Finnland mit 538 Punkten; Deutschland auf Platz 20 mit 487 Punkten; Brasilien auf dem letzten Platz mit 375 Punkten. Fazit: Auch hier liegt Deutschland im unteren Feld der OECD-Staaten! 4.2 Die Spreizung im Leistungsverhalten zwischen guten und schlechten Schülern In den drei Bereichen des Leseverständnisses, der Mathematikkenntnisse und der Kenntnisse in den Naturwissenschaften ist die Schere zwischen den Schwächsten und den Besten in Deutschland sehr groß. So ist der Abstand zwischen den 5% schwächsten und den 5% stärksten Schülerinnen und Schüler im Bereich der Lesekompetenz größer als in allen anderen untersuchten Ländern! Hinzu kommt, dass bei den Lesekenntnissen 25% der deutschen Schüler zu den Leistungsschwachen gehören, während die leistungsstarken deutschen Schüler nur den internationalen Durchschnitt erreichen. PISA zeigt, dass mit einer dichteren sozialen Integration der Schülerinnen und Schüler die Qualität der schulischen Leistungen nicht leidet. Im Gegenteil: In den Ländern, die besonders gut abgeschnitten haben (Finnland, Schweden, Japan) ist der Unterschied zwischen den starken und schwachen Schülerinnen und Schülern signifikant geringer als in Deutschland, die Leistungsspitze ist dort aber deutlich höher. 4.3 Ausländerkinder bzw. Kinder mit einem Migrationshintergrund 7 Schüler mit einem Migrationshintergrund haben in allen Ländern besondere Probleme mit der gemessenen Leistung . In Deutschland ist das aber besonders ausgeprägt. So erreichen z. B. Kinder aus türkischen Familien bei uns im Leseverständnis deutlich geringere Leistungen als Kinder mit gleichem Migrationshintergrund in Norwegen, Schweden, der Schweiz oder Österreich. Dieses ist insofern auch bedenklich, als die meisten von ihnen in Deutschland geboren sind und deshalb von der ersten Klasse an durch unser Bildungssystem gelaufen sind. Ich bin schon darauf eingegangen, dass der Migrationshintergrund mit schwachen Schulleistungen hoch korreliert und als eine Erklärung für das in der nationalen PISA Studie gemessene Leistungsgefälle zwischen den Bundesländern herangezogen werden muss. 4.4 Ergebnisse sozialer Selektion: Der Zusammenhang zwischen Familienherkunft und Leistungsverhalten Nicht allein die Leistungsergebnisse der deutschen Schülerinnen und Schüler in den Fähigkeiten des Textverständnisses, in der Mathematik und in den Naturwissenschaften müssen uns beunruhigen. Anlass zur großen Sorge gibt auch, dass nach dieser PISA-Untersuchung in keinem anderen industrialisierten Land der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft der Schüler und ihrer gemessenen Schulleistung so groß ist wie in Deutschland, wenngleich in allen untersuchten Ländern die soziale Herkunft mit der gemessenen Leistung korreliert. Ganz offensichtlich verstärkt unser Bildungssystem die soziale Ungleichheit sehr viel stärker als das in anderen Länder der Fall ist. Diese Ergebnisse bekommen auch deshalb eine besondere Brisanz, weil sich schon in der OECD-Studie aus den 70er Jahren das im Prinzip gleiche Bild ergeben hatte. 30 Jahre Bildungspolitik, eine große Dynamik in der Ausweitung der Beteiligung an höheren Bildungsabschlüssen durch die seit den 70er Jahren verstärkt einsetzende Bildungsexpansion in Deutschland haben an diesem Grundübel offensichtlich kaum etwas geändert. Da eine demokratische Bildungspolitik Benachteiligungen aber nicht verstärken und fortschreiben darf, sondern so weit wie möglich ausgleichen muss, da die Frage der Bildungschancen gewissermaßen die soziale Frage der modernen Wissensgesellschaften ist, geben gerade diese Untersuchungsergebnisse Anlass, nach Wegen zu suchen, wie unser Bildungssystem von den Kindertagesstätten über die Schulen bis zu den Hochschulen und den Weiterbildungseinrichtungen so verbessert werden kann, dass diese scharfe Selektion in Zukunft deutlich verringert wird und Deutschland nicht Weltmeister in der sozialen Selektion seiner Schülerinnen und Schüler bleibt! Wenn die soziale Ausgrenzung von höheren Bildungsabschlüssen nicht politisch gewollt wird, muss es bedenklich stimmen, dass in der PISA Studie festgestellt wird, dass sich zwar weltweit der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft 8 und den Bildungschancen lockert, in Deutschland aber das Tempo dieses Entkopplungsprozesses so gering ist, dass „man von einer hohen Stabilität der Grundstruktur sozialer Disparitäten sprechen (muss)“ (S. 352). Der internationale Vergleich zeigt auch, dass eine höhere Bildungsbeteiligung sozial schwächerer Bevölkerungsgruppen nicht etwa mit einem Verlust an Qualität erkauft werden muss. Das Gegenteil scheint eher der Fall zu sein: „Es deutet sich eine positive Beziehung zwischen Leseniveau und Lockerung des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Schulerfolg an.„ (S. 389) Die Autoren der deutschen Studie sehen die „Institution Schule selbst als Ursache der Disparitäten“ (S. 352). Zu den bedenklichen Ergebnissen des deutschen Schulsystems gehört auch die im internationalen Maßstab viel zu hohe Quote der Zurückstellungen von der Grundschule und die der Klassenwiederholer. In Deutschland haben von allen in der PISA Studie befragten 15-Jährigen nur 64 % ihre bisherige Schulzeit ohne zeitliche Verzögerung verbracht. Sie haben viel Zeit verloren durch späte Einschulung bzw. durch Wiederholen einer Klasse. Im Durchschnitt ist das heutige Einschulungsalter in Deutschland ein Dreivierteljahr höher als noch Anfang der 70er Jahre. Hinzu kommt, dass fast jede/r Zehnte die Erfahrung einer Herabstufung von einer Schule zur anderen gemacht hat. Auch das ist ein Weltrekord! Der internationale Vergleich bei PISA zeigt, dass Späteinschulung und Klassenwiederholung nicht zu besseren Leistungen führen. Eine frühzeitig einsetzende Förderung der Leistungschwächeren scheint wirkungsvoller zu sein als das Wiederholen einer Klasse oder das damit verbundene Verlassen der höheren Schulform. Der in Baden-Württemberg seit 1997 laufende Schulversuch „Schulanfang auf neuen Wegen“ zeigt ermutigende Ergebnisse mit einer früheren Einschulung von Fünfjährigen. 4.5 Schulleistungen und Beteiligungsquoten an höheren Bildungsabschlüssen Auch die Beteiligungsquoten an höheren bzw. den höchsten Bildungsabschlüssen in einem Land sind ein Indikator für soziale Auslese. Die bei uns nach wie vor geäußerte Vermutung oder Gewissheit, dass die durchschnittliche schulische Leistung besser wird, wenn im Verlaufe der Schullaufbahn die „geeigneten“ von den „ungeeigneten“ Schülerinnen und Schülern kräftig aussortiert werden, wird durch PISA relativ klar widerlegt. Die quantitative Zunahme an höheren Bildungsabschlüssen wird eben nicht mit Qualitätseinbußen bezahlt – jedenfalls nicht in den bei PISA gemessenen Basisqualifikationen! Masse bedeutet eben nicht per se Verlust von Klasse! Baumert u. a. haben schon in der Oberstufenstudie von TIMMS nachweisen können, dass die gewünschte Elitenbildung zumindest in den mathematischnaturwissenschaftlichen Unterrichtsfächern von einer breiten Rekrutierungsbasis profitiert (Baumert, Bos & Watermann 2000). Das wird auch in der PISA Studie 2000 bestätigt. Die 9 Staaten, die im internationalen Leistungsvergleich am besten abschneiden, haben zum Teil eine deutlich höhere Beteiligung an höherer Schulbildung und entsprechende Abschlussquoten: Schweden 70%, Japan 69%, Korea 56%, Finnland 53%, Deutschland 33% an einem Altersjahrgang! Wir belegen im internationalen Vergleich unter 21 Ländern den 12. Rang. Im Durchschnitt aller Länder erreichen 41,9 % der Jugendlichen eine Hochschulzugangsberechtigung, das sind fast 10% mehr als im „Bildungsland“ Deutschland (Hovestadt 2002, 5). Auch in diesem Bereich hat Deutschland Eckpunkte seiner Bildungspolitik und einer starken Variante in der Bildungstheorie neu und kritisch zu durchdenken, wenn es seinen Modernitätsrückstand im Bildungsbereich aufholen will. 5. PISA – und die Folgen! Wo liegen Möglichkeiten des politischen und pädagogischen Handelns? Wenn man sich die Gesamtergebnisse der PISA Studie im internationalen Vergleich für Deutschland gesondert ansieht, dann muss ganz eindeutig festgestellt werden, dass wir gut daran tun, uns um Verbesserungen und grundlegende Reformen der inneren Schulverfassung ebenso wie über die äußere Struktur unseres Schulsystems zu bemühen, dabei aber auch den wichtigen Aspekt der Lehrerausbildung nicht aus dem Auge verlieren. Hinzu kommt, dass in Deutschland Bildung wieder in einem höheren Maße an gesellschaftlicher Wertschätzung gewinnen muss, das schließt auch einen größeren Respekt gegenüber den im Bildungssystem arbeitenden Menschen und die Anerkennung ihrer schwierigen und wichtigen Arbeit mit ein und zwar von den Erzieherinnen bis zu den Hochschullehrenden! Nur in der Verknüpfung verschiedener Dimensionen können Voraussetzungen geschaffen werden, um in Zukunft bei solchen Untersuchungen besser abzuschneiden – und das nicht nur im Bereich der kognitiven Leistungen unserer jungen Menschen! Über Einzelmaßnahmen, die dann auch noch als Patentlösungen angepriesen werden, werden wir die bestehenden Defizite nicht lösen. Wo liegen nun konkrete bildungspolitische und pädagogische Möglichkeiten des Handelns, wo liegen die stärksten Defizite in unserem Schulsystem? Ich kann das hier im Rahmen meines Vortrages aus Zeitgründen nur kurz ansprechen. 5.1 Verbesserung des Unterrichts Verbessert werden muss vor allem der Schulunterrichts. Wichtig ist eine Didaktik der Vielfalt und Anwendungsorientierung. Wir wissen aus der empirischen Schulforschung, dass ein gut strukturierter Unterricht mit einem leistungsfordernden und lernfreundlichem Klima für den Lernerfolg von großer Bedeutung ist. Die weiterführenden Realschulen und Gymnasien soll- 10 ten stärker als bisher darüber nachdenken, dass Lernprobleme ihrer Schüler nicht dadurch „gelöst“ dürfen, dass diese an die darunter liegende Schule abgeschoben werden, dass vielmehr der Lernprozess im Mittelpunkt des pädagogischen Denkens und Handelns stehen sollte, und durch ihn auch die schwächeren Schüler in die Lage versetzt werden müssen, bessere Leistungen zu erbringen. Auch deshalb brauchen wir eine Umorientierung sowohl in der Lehrerausbildung wie auch im beruflichen Selbstverständnis von Lehrerin und Lehrer. Es muss sehr viel stärker als bisher in den Mittelpunkt gestellt werden, dass Pädagogik und Didaktik zentrale Felder der beruflichen Arbeit von Lehrkräften sind, dass die Unterschiedlichkeiten von Kindern und Jugendlichen akzeptiert werden müssen und dass man lernen muss, mit Vielfalt und Heterogenität pädagogisch richtig umzugehen. Es muss stärker und systematischer als bisher darauf eingegangen werden, dass unsere Schülerinnen und Schüler mit jeweiligen besonderen Schwierigkeiten, unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, Stärken und Schwächen in den Unterricht kommen und legitime Unterschiede in den Lernfortschritten zeigen. Wichtig ist aber auch, dass Lehrkräfte lernen, den Förderbedarf ihrer Schülerinnen und Schüler valider und präziser zu diagnostizieren als bislang, um entsprechend pädagogisch reagieren zu können. Wichtig ist auch, dass in der Schule viel stärker als bisher die innere Differenzierung des Unterrichts praktiziert wird. Damit können die Voraussetzungen verbessert werden, den unterschiedlichen Kindern mit ihren unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten auch unterschiedliche Lösungswege anzubieten und ihre Lernfortschritte individuell zu befördern. Ich bin der Meinung, dass wir Abschied nehmen müssen von dem alten Leitbild an unseren Schulen, nach dem alle Schülerinnen und Schüler in der gleichen Zeit die gleichen Lernziele erreichen sollen. Wir wissen: Wer das nicht schafft, wer da nicht mithalten kann, für den steigt die Wahrscheinlichkeit, aussortiert zu werden. Das ist in einem gegliederten Schulsystem gleichsam systemlogisch. 5.2 Verbesserung und Ausbau der vorschulischen Bildungsangebote. Die frühkindlichen Bildungsangebote müssen verstärkt und z.B. die Kindertagestätten zu Erziehungs- und Bildungseinrichtungen weiter entwickelt werden. Dort liegen begünstigende Bedingungen, um die Kinder in ihrer emotionalen sozialen und kognitiven Entwicklung zu fördern, hier können bereits die Voraussetzungen geschaffen werden, spätere Leistungs- und 11 Verhaltensdefizite erst gar nicht aufkommen zu lassen. Die Kognitionsforschung zeigt sehr deutlich, dass Kinder in der Altersphase von 4 bis 10 Jahren eine besonders hohe Lernbereitschaft und Lernfähigkeit besitzen, die genutzt werden sollte. Auch Sprachförderung und interkulturelle Erziehung sind sinnvolle Teile der vorschulischen Erziehung. Das bedeutet u.a. aber, dass die Kindertagesstätten in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung der Schule gleichgestellt werden müssen. Auch hier können wir von Finnland lernen. Fast 100% aller Kinder besuchen dort die freiwilligen Vorschulklassen. In den finnischen Kindergärten verwischen sich auch die uns so vertrauten und verteidigten Unterschiede zwischen den akademisch und nichtakademisch ausgebildeten Pädagogen: Hier arbeiten überwiegend akademisch ausgebildete Lehrkräfte - eine für standespolitisch sozialisierte deutsche Lehrkräfte beängstigende Vorstellung! Gertrud Hovestadt ist statistisch der Frage nachgegangen, „ob die „guten" PISA-Länder auch eine hohe Beteiligungsquote im Elementarbereich gemeinsam haben“ (Hovestadt 2002, 2). Sie verweist zu Recht darauf, dass sich daraus nicht umstandslos folgern kann, dass eine frühere Bildungsbeteiligung im Alter unter 6 Jahren positiv auf die späteren Schulleistungen auswirken. Das bedarf weitergehender empirischer Forschungen. Verglichen worden sind von ihr die Anteile der Kinder eines Altersjahrganges bis zum Alter von 6 Jahren, die im Jahr 1995/96 eine Bildungs- oder Fördereinrichtung des Elementarbereiches besuchten. Das konnte der Kindergarten oder eine andere Institution sein, das ist einigen EU-Ländern aber auch die Primar- bzw. Grundschule (Hovestadt 2002, 2f). Die Zahlen sind überraschend: 53% der Dreijährige (53 %), 78% der Vierjährigen und ca. 90% der Sechsjährigen besuchten 1995/96 in Deutschland den Kindergarten oder eine andere vorschulische Einrichtung, Der Vergleich im EU-Rahmen zeigt zweierlei. Generell liegt die Beteiligung der deutschen Kinder in den untersuchten Altersgruppen in der unteren Hälfte. Erschwerend hinzu kommt, dass sich die Zahlenverhältnisse bis zum 6. Lebensjahr der Kinder noch weiter auseinander entwickeln: „Von Rang 8 bei den Drei- und Vierjährigen rutscht Deutschland bei den Fünfjährigen auf den 10. Rang und erreicht schließlich bei den Sechsjährigen nur noch den 14. und damit vorletzten Rang“ (Hovestadt 2002, 2). 5.3 Verbesserung der Integration von Migrantenkindern In einer Einwanderungsgesellschaft wie Deutschland müssen deutlich stärkere Anstrengungen unternommen werden, um die Migrantenkinder besser in unser Schulsystem zu integrieren 12 und sie zu entsprechend besseren Leistungen zu führen. Der entscheidende Punkt für die festgestellten Disparitäten in der Bildungsbeteiligung und im Schulerfolg ist dabei „die Beherrschung der deutschen Sprache auf einem dem jeweiligen Bildungsgang angemessenen Niveau. Für Kinder aus Zuwanderfamilien ist die Sprachkompetenz die entscheidende Hürde in ihrer Bildungskarriere“ (PISA 2000. S. 374). Förderung der deutschen Sprache ist deshalb dringend angesagt! Es kann gar nicht bestritten werden, dass es Schulen mit einem hohen Anteil nichtdeutscher Ethnien besonders schwer haben. Nicht zuletzt wegen der spezifischen Wohnsituation in solchen Wohngebieten kann kaum damit gerechnet werden, dass die Kinder dort günstige Voraussetzungen für den Erwerb der deutschen Sprache und damit für schulisches Lernen mitbringen. Wir brauchen also dringend eine Verstärkung der Integration durch Sprachförderung – und zwar der deutschen Sprache! Dieses sollte allerdings schon vor dem Schuleintritt beginnen. Förderung der Kompetenz der deutschen Sprache sollte aber nicht nur bei den Kindern ansetzen, sondern die Elternhäuser mit einschließen. So kann ein Beitrag dafür geleistet werden, dass die Schüler ihre Schullaufbahn nicht mit so starken sprachlichen Defiziten beginnen, dass ihr Scheitern im Kern bereits angelegt ist! 5.4 Reformen an den Strukturen des Schulsystems Neben den eher schul- und unterrichtsbezogenen Aspekten müssen aber auch die Strukturen unseres Bildungssystems überdacht werden. Die im internationalen Maßstab sehr frühe Sortierung von Kindern auf unterschiedliche Schulformen bringt offenkundig keine besseren Voraussetzungen für Schülerleistungen im Verlaufe der Schullaufbahn. Die in unserem gegliederten Schulsystem ausgedrückte Vermutung, dass homogene Lerngruppen einen möglichst hohen Lernerfolg garantieren, entpuppt sich nach den Ergebnissen der PISA Studie als Illusion oder als Ideologie. Im internationalen Vergleich gesehen zeigt PISA vielmehr sehr deutlich, dass nicht Homogenität der Lerngruppen, sondern ihre Heterogenität erfolgreicher zu einer breit fundierten Leistungsfähigkeit und gleichzeitig zu Spitzenleistungen führt. Was könnte/müsste nun angestrebt werden im Rahmen des bundesdeutschen Kulturföderalismus? Denkbar wäre eine einheitliche Verlängerung der Grundschule auf sechs Jahre oder zumindest eine Form der Integration verschiedener Bildungsgänge in einer Schule. Auch hier ist der vergleichende Blick auf andere Länder nützlich. Im Jahr 1992 haben nur die Bundesrepublik Deutschland, Österreich und ein kleinerer Teil der (deutschsprachigen) Kantone in der Schweiz eine gemeinsame Schulzeit bis zum Alter von 10 Jahren. Alle anderen OECDLänder schicken ihre Schülerinnen und Schüler zum Teil deutlich länger gemeinsam in eine 13 Schule (Hovestadt 2002, Tabelle S. 4). Seit 1992 hat sich die Tendenz zum längeren gemeinsamen Schulbesuch weiter verstärkt. Ein anderer wichtiger Indikator für den Modernitätsstand eines Schulsystems ist deren Organisationsgrad in Ganztagsschulen bzw. Halbtagsschulen. Ganztags- und Halbtagsschulen bieten ungleiche Bedingungen, Schülerinnen und Schüler kognitiv, sozial und emotional zu fördern – allerdings nur dann, wenn sie entsprechend mit Personal und Sachmitteln ausgestattet sind, und sich nicht auf bloße nachunterrichtliche Betreuung beschränken! Sie haben aber darüber hinaus auch eine hohe gesellschaftspolitische Bedeutung, weil sie den Spielraum insbesondere für Frauen mit bestimmen, Familien- und Erwerbstätigenwünsche miteinander zu verbinden. Der EU-Vergleich in der Frage der Organisation der Schulen als Ganz- oder Halbtagsschulen zeigt, dass nur in Deutschland, Österreich und Griechenland die Halbtagsschule die eindeutig dominierende Schulform ist. Die anderen EU-Länder haben in teilweise unterschiedlichen Varianten Europas die Ganztagsschule als dominierende oder wie in Italien und Portugal als gleichgewichtig nebeneinander angebotene Schule. Tabelle Vor - und Anmerkungen Nachmittagsunterricht Belgien ja Dänemark ja Spanien ja Betreuung außerhalb des Unterrichts vorhanden, wird von Eltern initiiert und finanziert unregelmäßiger Unterrichtsschluss, insbesondere in den ersten Schuljahren um die Mittagszeit. Durchgehende Betreuung der Kinder auch nachmittags unter Beteiligung der Einrichtungen der Jugendhilfe. In den Sommermonaten oft nur Vormittagsunterricht; durchgehende Betreuung teilweise Frankreich ja Vorgeschriebener Unterrichtsumfang; mittwochs unterrichtsfrei. Kaum außerunterrichtliche Aktivitäten Irland Luxemburg ja ja Niederlande ja kein Mittagessen Unterricht vormittags und an drei Nachmittagen; Übermittagsbetreuung allenfalls im Sekundarbereich staatliche Rahmenvorgaben lassen seit den 80er Jahren vielfältige Lösungen zu; 14 die traditionelle Ganztagsschule wurde fast überall in irgendeiner Form beibehalten Finnland ja Schweden ja Ver.Königr ja . Island ja Norwegen ja Italien teils Durchgehende Betreuung der Kinder auch nachmittags unter Beteiligung der Einrichtungen der Jugendhilfe. Vor- und Nachmittagsunterricht gesetzlich vorgeschrieben, Ausnahme: Schottland. Bei der zeitlichen und inhaltlichen Gestaltung haben die Schulen weitreichende Autonomie. Dadurch eine Fülle außerunterrichtlicher Schulaktivitäten Durchgehende Betreuung der Kinder auch nachmittags unter Beteiligung der Einrichtungen der Jugendhilfe Das Grundschulgesetz von 1990 ermöglicht Ganz- oder Halbtagsschulen mit vielfältigen Varianten. Ganztagsschulen sind "offene Ganztagsschulen“. Die Teilnahme an außerunterrichtlichen Angeboten (nachmittags) steht den Kindern frei. Portugal teils Griechen- nein land Österreich nein Deutsch- nein land Halb- und Ganztagsschulen nebeneinander. Wegen Raumnot kann der Unterricht oftmals allerdings nicht vor- und nachmittags erteilt werden, sondern im Wechsel der Schulklassen schichtweise Halbtagsschule im Schichtwechsel Im Zusammenhang der Frauenerwerbstätigkeit zunehmende außerunterrichtliche Betreuungsangebote G. Hovestadt, Uni Essen, Fb2, AG Bildungsforschung/Bildungsplanung Hovestadt: Was ist in Deutschlands Schulen anders? (S. 6) Die Ganztagsschule bietet nicht nur eine zuverlässigere pädagogische Betreuung der Schülerinnen und Schüler bis in den Nachmittag als unsere unzuverlässige Halbtagsschule, sie kann auch eine größere Vielfalt von pädagogisch relevanten Angeboten vorhalten und das Lernen in anderen Lernrhythmen und anderen Lernfeldern ermöglichen. Gemeint sind damit praktische, sportliche, künstlerische sowie Freizeitangebote. Die längere gemeinsame Schulzeit in der Ganztagsschule könnte auch zu einer Verbesserung der sozialen Integration der Migrantenkinder und zu einer stärkeren Identifikation aller Schülerinnen und Schüler mit ihrer Schu- 15 le führen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die Studie „CivEd“ (Civic Education Across Countries: Twenty-four National Case Studies from the IEA Civic Educational Projekt) verweisen, in der fast zeitgleich zur PISA Studie die politische Bildung im internationalen Vergleich untersucht worden ist (Torney-Purta, J.; Schwille, J; Amadeo, J-A. 1999 und Torney-Purta, J. u.a. 2001). Für die deutschen Jugendlichen sind zwei Ergebnisse bemerkenswert. Zum einen ist bei ihnen die Erwartung an die positiven Wirkungen schulischer Partizipation besonders schwach, zum anderen lehnen sie stärker als alle anderen Gruppen gleiche Rechte für Immigranten ab. Christa Händle hält es für plausibel, dass beide Ergebnisse auch mit der Organisation unserer Schulen als (unvollständige) Halbtagsschulen zusammenhängen: „Schulen mit einem breiten Nachmittagsangebot, die in den reichen Ländern des Nordens die Regel sind, können in einem höheren Maße Möglichkeiten von sozialer und politischer Partizipation bieten“, weil sie nicht so sehr Unterrichtsschulen sind und das Lernen nicht so zerreißen in einen instrumentelle Teil am Vormittag und einen Peer- und Freizeitteil am Nachmittag (Händle 2002. S. 30). Zu den notwendigen strukturelle Veränderungen unseres Schulsystems gehört m. E. aber eine stärkere Selbstständigkeit unserer Schulen bei der Verantwortung für die Inhalte, für die Didaktik, für das Personal aber auch für die Mittel, die verwaltet werden müssen. Finnland als „Europameister“ in der PISA Studie führt seine Erfolge unter anderem darauf zurück, dass hier die Autonomie der einzelnen Schule in weiten Entscheidungsfeldern bereits eine bewährte und von den beteiligten Lehrkräften, Schulleitungen und Eltern hoch akzeptierte Realität ist. Im internationalen Vergleich sind die pädagogischen, administrativen und wirtschaftlichen Freiräume der deutschen Schulen eher bescheiden. Hier ist ein erheblicher Nachholbedarf festzustellen, weil es evident ist, dass die Qualität der Schule auch von entscheidungskompetenten und starken Schulleitungen abhängt. Es bleibt abzuwarten, welche Innovationskraft der föderativen Zentralismus der Bundesrepublik Deutschland in diesem Feld entwickeln und durchsetzen kann, um die fachliche Qualifizierung/Vorbereitung der Schulleitungen und ihre rechtliche Stellung dem internationalen Niveau anzupassen (Schweizer. 2002. S. 153). Die Landesregierung in Niedersachsen zeigt erste interessante Ansätze dazu mit dem Modellversuch „Personalkostenbudgetierung“, der insbesondere den Berufsschulen mehr Autonomie finanzielle Gestaltungsfreiheit und Kompetenzen beim Abschluss von befristeten Verträgen mit Vertretungslehrkräften zubilligt. Ein Schritt in die richtige Richtung scheint mir auch die Absicht zu sein, den Schulen auf freiwilliger Basis die Möglichkeit zur Umgestaltung zur „Selbständigen Schule“ zu geben. In welcher Weise dabei tatsächlich substantielle staatliche Kompetenzen an die Schule abgegeben werden, muss abgewartet werden. Ich habe allerdings 16 die Befürchtung, dass die Erweiterung der schulischen Autonomie mit traditionellen letztlich auch obrigkeitsstaatlichen Gewohnheiten kollidiert und nicht ohne innerschulischen Widerstand durchgesetzt werden kann. Größere Autonomie der einzelnen Schule bedeutet auch mehr Verantwortung aller dort arbeitenden Menschen, das bedeutet auch ein erhöhtes Engagement, und last but not least kann es meines Erachtens nur wirkungsvoll funktionieren, wenn es mit größeren Weisungsbefugnissen der Schulleitungen verbunden wird – ob das aber angesichts einer weit verbreiteten Angst vieler Lehrkräfte auch vor einer funktionalen Zuständigkeits- und Entscheidungshierarchie durch eine gestärkte Schulleitung möglich ist, muss abgewartet werden. Hinzu kommt, dass eine wirkliche Stärkung der Autonomie auch in curricularen Fragen, eingebunden werden muss in die Entwicklung von Kerncurricula, um in der schulischen Vielfalt und in den dann noch stärkeren individuellen Profilen der Schulen die notwendige Einheitlichkeit in den unterrichtlichen schulischen Kernbereichen zu sichern. Für die Hochschulen jedenfalls wird es sinnvoll sein, möglichst schnell Ergänzungsstudienangebote im Bereich von Schul- und Bildungsmanagement zu entwickeln, um Lehrkräfte und Schulleitungen besser als bisher auf Leitungsaufgaben in autonomen Schulen vorzubereiten. 5.5 Veränderungen in der Lehrerausbildung Ganz wichtig ist aber auch, dass die Lehrerbildung in der Universität aber auch in der zweiten Ausbildungsphase zu einem neuen professionellen Selbstverständnis führt. Im wesentlichen geht es auf allen Ebenen der Lehrerausbildung und Fortbildung darum, die pädagogischen und didaktischen Kompetenzen der gegenwärtigen und zukünftigen Lehrkräfte so zu entwickeln, dass die Schüler mit höherer Motivation lernen und allen Beteiligten die Schule mehr Spaß macht. Dazu gehören in der universitären Lehramtsausbildung auch die wissenschaftlichen Methoden, mit denen die Lehrkräfte an den Schulen die Wirksamkeit ihres Unterrichts überprüfen können. Für die Universitäten hat das weitreichende Konsequenzen. Es bedeutet nämlich, dass das Verhältnis von Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Grundwissenschaften neu bestimmt wird. Die Lehrkräfte an allen Schulen, Schulformen und Schulstufen müssen sich als Vermittlungsexperten verstehen, als hochqualifiziertes Fachpersonal, das Lernprozesse so organisiert, dass die Schülerinnen und Schüler mit Interesse, Freude und Erfolg die Voraussetzungen erwerben, die ihnen eine erfolgreiche Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erleichtern. In diesem 17 Sinne ist auch das Motto meines Beitrages zu gemeint: „Kinder sind keine Fässer, die man füllen muss, sie sind vielmehr wie Feuer, die angefacht werden müssen!“ 5.6 Verbesserung des Bildungsklimas und Erhöhung der Bildungsausgaben Die Leistungsfähigkeit eines Bildungssystem hängt von vielen internen und externen Bedingungen ab. Zu ihnen gehört auch das gesellschaftliche Umfeld. Gemeint ist damit die Art, in der in einer Gesellschaft z. B. über Bildung geredet wird und das Ausmaß der Wertschätzung das Bildung politisch, publizistisch und öffentlich zukommt. Dieses ist deshalb von großer Bedeutung, weil es zum einen die Motivation derer beeinflussen kann, die im Bildungssystem direkt oder indirekt handeln (Lehrkräfte, Eltern, Schüler, Politiker, Beschäftigte in der Administration). Es ist aber auch von Bedeutung, weil davon die Bereitschaft abhängen kann, notwendige Ressourcen für diesen Sektor bereit zu stellen und gegebenenfalls zu Gunsten von Bildungsausgaben andere Prioritäten in den öffentlichen Haushalten zu setzen. Ich will hier auf den ersten Aspekt gar nicht weiter eingehen und nur so viel sagen. Wir haben einen erheblichen Nachholbedarf, um in unserem Land ein positives Bildungsklima zu schaffen. Nur wenn uns dieses gelingt, wird dem Bildungssystem die Bedeutung zukommen, die es in einer modernen Dienstleistungsgesellschaft als zentrale Institution der Zukunftssicherung braucht. Dazu gehört nicht nur eine bessere personelle und materielle Ausstattung der Schulen und Hochschulen, dazu gehört auch die Art des Umgangs mit den Lehrkräften und Erzieherinnen und Erziehern. Es ist schon erstaunlich, in welcher Weise in der Vergangenheit bis in die höchsten Ebenen hinein, abwertend über diese Berufsstände geredet bzw. populistisch Stimmung gemacht wurde. Es ist mitunter auch schwierig zu akzeptieren, wie manche Eltern über Lehrkräfte denken und reden und damit deren Autorität gegenüber den Schülern und Schülerinnen schwächen. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass es auch deutliche Rückzugstendenzen bei Lehrkräften gibt, die von einer gelegentlich schwer nachzuvollziehenden Larmoyanz getragen werden. Deutschland gehört zu den reichen OECD-Ländern, das gilt nicht nur für den privaten Bereich, das gilt auch für den Öffentlichen Sektor. Dennoch stehen wir im Hinblick auf die Bildungsausgaben im OECD-Vergleich eher bescheiden da. Die öffentlichen Ausgaben für Bildung betrugen 1998 in Deutschland 4,35 % des Bruttoinlandproduktes (BIP). Deutschland steht mit diesem Anteil seiner Bildungsausgaben an 22. Stelle von insgesamt 30 Ländern. Innerhalb der EU investieren nur Griechenland und Irland einen geringeren Anteil ihres BIP in den Bildungsbereich. Wenn die öffentlichen Ausgaben für Bildungseinrichtungen ein Indi- 18 kator dafür sind, welche Bedeutung Bildung in einem Land hat, dann ist dieses Ergebnis beunruhigend. In der Erziehungswissenschaft herrscht weitgehender Konsens darüber, dass entscheidende Voraussetzungen einer Bildungsgraphie in der Primarstufe liegen. Was hier versäumt wird, lässt sich nur schwer in späteren Phasen der Schule und des weiteren Lebens ausgleichen. Deshalb ist bei der Betrachtung der Bildungsausgaben von Interesse, wie die Prioritäten für die verschiedenen Schulstufen gesetzt werden, insbesondere welche Bedeutung bei Bildungsinvestitionen der Grundschule bzw. Primarstufe zukommt. Auch dieser Frage ist Gertrud Hovestadt für das Jahr 1998 statistisch nachgegangen. Sie kommt zu folgenden Ergebnissen: Im Bereich der vorschulischen Erziehung wird (für relativ wenige Kinder) relativ viel Geld und mehr als in den meisten EU-Ländern ausgegeben (mit 4.648 Dollar liegt Deutschland auf Platz 11 von 24 Ländern). Dabei darf aber nicht unerwähnt bleiben, dass für diese Einrichtungen durch Gebühren mitfinanziert werden. Deutlich sparsamer sind wir in Deutschland bei den Grundschülern. Mit durchschnittlich 3531 Dollar liegt Deutschland hier auf Platz 15 von 25! Ein ähnliches Bild zeigt der Vergleich bei den Sekundarschülern. Mit 6.209 Dollar liegt Deutschland auf Platz 14 von 25 Ländern und damit in der unteren Hälfte. Ein wichtiger Indikator für die Prioritäten im Schulsystem ist auch das Verhältnis der Ausgaben für den Primarbereich zum Sekundarbereich. In Deutschland werden durchschnittlich nur 57% der Mittel für die Grundschule ausgegeben, die in die Sekundarstufe investiert werden. Im Durchschnitt aller OECD-Staaten sind dieses 74%, in Finnland sind es 85%, in Dänemark 86%, in Schweden 100% und in den asiatischen Ländern, die besonders gut in der PISA Studie abgeschnitten haben, sind es ebenfalls deutlich mehr als in Deutschland (Hovestadt 2002, Tabelle S. 10). 6. Einige abschließende Bemerkungen Anderen Ländern - vor allem solchen mit integrierten Schulsystemen - gelingt es nach PISA offensichtlich sehr viel stärker, die Vererbung sozialer Voraussetzungen (gemeint sind damit die sozialen Benachteiligungen!) im und durch das Schulsystem abzubauen bzw. abzuschwä- 19 chen und gleichzeitig zu einem höheren Leistungsniveau zu gelangen als in Deutschland trotz oder wegen seines hoch selektiven und gegliederten Schulsystems. Dennoch darf dieses nicht zur unproduktiven Neuauflage ideologisch geführter bildungspolitischer Diskussionen führen – bei aller Leidenschaft, mit der wir in Deutschland über Bildungsfragen streiten! Es ist vielmehr angesagt, über die Schwächen und Stärken unserer Schulen pragmatisch und ergebnisorientiert zu reden und zu handeln, ohne dabei allerdings das große Ziel einer grundlegenden Strukturveränderung unseres Schulsystems aus dem Blick zu verlieren. Hier müssen die dicken Bretter auch mit stumpfen Bohrern weiter bearbeitet werden! Es lohnt sich mehr denn je, den Strukturplan zum Aufbau des deutschen Bildungswesens, wie ihn 1970 der Deutsche Bildungsrat verabschiedet hat, vor dem Hintergrund der PISA Ergebnisse neu zu diskutieren! Gleichwohl: auch wenn PISA zeigt, dass integrierte Systeme in vieler Hinsicht sehr viel leistungsfähiger sind als das gegliederte Schulsystem in Deutschland, für solche radikale Veränderungen der Grundstruktur des Schulsystems scheint bei uns zur Zeit kein politischer Wille vorhanden zu sein. Solange sich dieses nicht ändert und das kann in der föderativen Bundesrepublik mit ihren 16 Bildungs- und Schulministerien lange dauern - muss deshalb unterhalb der Ebene der großen schulstrukturellen Veränderung nach Wegen gesucht werden, wie dennoch die Leistungsfähigkeit unseres Schulsystems und damit unserer Schülerinnen und Schüler verbessert werden kann. Allerdings: wenn es schon keine gravierende strukturellen Maßnahmen in Richtung Schaffung integrativer Schulsysteme gibt, dann sollte auch vermieden werden, den Schritt zurück zu machen, wie er beispielsweise in Niedersachsen mit der Abschaffung der Orientierungsstufe beschlossen worden ist. Unterhalb der großen Entwürfe gibt es aber auch oder sogar vorrangig auf der Ebene mittlerer Lösungen viel zu tun. Auf Überlegungen bis zum Ende der Grundschulzeit durch die Stärkung der Kindergärten und anderer vorschulischer Einrichtungen habe ich schon hingewiesen. Ich stimme Klaus Klemm zu, der in einem Artikel in der Frankfurter Rundschau gesagt hat „Deutschlands Schulen können zwar auch in gegliederten Strukturen deutlich besser werden, ob sie aber international an führende Länder anschließen können, ist angesichts der strukturellen Unbeweglichkeit Deutschlands mehr als fraglich“. Finnland hat im Rahmen der PISA Studie ganz hervorragend abgeschnitten und ist gleichsam Europameister geworden. Dieses Ergebnis ist für uns in Deutschland deshalb besonders interessant, als es sich mit Finnland um ein Land handelt, dass in der politischen und kulturellen Tradition Europas steht und wir keine Erklärungen in den kulturellen und philosophischen Differenzen z. B. gegenüber den asiatischen Ländern suchen müssen. Besucher finnischer Schulen bzw. des finnischen Zentralamtes für Unterrichtswesen fragen immer wieder, warum 20 die Finnen bei der PISA Studie so gut abgeschnitten haben und wo die Ursachen dafür liegen. Einmal abgesehen davon, dass viele Finnen ebenso überrascht sind von ihrem guten Abschneiden, eine wichtige Erklärung wird weitgehend übereinstimmend in ihren Gesamtschulen gesehen, weil in ihnen die Schüler einer Altersgruppe gemeinsam nach demselben Lehrplan lernen. Ausdrücklich positiv wird auch die große Autonomie der finnischen Schulen hervorgehoben. Die Schulen dürfen einen Teil der angebotenen Fächer selbst bestimmen, die Lehrer machen den Lehrplan selbst, der Schulleiter muss nur dafür sorgen, dass die Finanzierung im vorgegebenen Rahmen bleibt. Zur Autonomie gehört auch, dass die Lehrkraft ihre/seine Schule selber aussuchen darf. Der Direktor des finnischen Zentralamtes für Unterrichtswesen Jukka Sarjala verweist auf einen großen Vorteil solcher integrierter System wie die Gesamtschule: „Wir haben keine Möglichkeit, die Schüler an andere Schule abzuschieben, wenn wir sie für zu schlecht halten.“ Daraus folgt, dass die Lehrer aufgefordert sind, sich um die schlechten Schüler besonders zu bemühen. Noch bedeutsamer scheint mir aber sein Hinweis darauf zu sein, dass in seinem Land von keiner Schule Schüler ausgeschlossen oder herabgestuft werden dürfen. „Es darf keine schlechten Schulen für schlechte Schüler geben, denn so erst werden schlechte Schüler produziert!“ (DIE ZEIT 2002. S. 30). Vielleicht liegt in dieser pädagogischen, humanitären und bildungspolitischen Grundhaltung ein wesentlicher Erklärungshintergrund für das insgesamt sehr gute Abschneiden der finnischen und für das im Vergleich dazu schlechte Abschneiden der deutschen Schülerinnen und Schüler. Es scheint in der Tradition der deutschen weiterführenden Schulen verankert zu sein, dass sie ihre Schülerinnen und Schüler eher unwillig so akzeptieren wie sie sind, dass vorrangig gefragt wird, „ ob die Schüler für die Schule (wirklich, WDS) geeignet sind, und nicht, wie eine geeignete Schule für die Kinder aussehen würde“ (Kahl. 2002. S. 9). Solange wir an den weiterführenden Schulen Lehrkräfte haben, die glauben, dass sie selber zwar an ihrer Schule richtig sind, leider aber nicht ein Teil ihrer Schüler, solange sie also davon ausgehen, dass sie die falschen Schüler an ihrer Schule haben und diese eigentlich gar nicht hierher gehören, ist auch der Gedanke eher fremd, dass sie jeden Schüler seiner Individualität entsprechend fördern können und fördern müssen. Notwendig scheint mir daher eine neue „Philosophie des Unterrichtens“ (Brügelmann/Heymann 2002. S. 14) zu sein, bei der der Gedanke des Förderns wichtiger ist als der der Selektion. Wer nicht die Schülerinnen und Schüler an seiner Schule in seinem Unterricht in seiner Klasse willkommen heißt, sie als die Subjekte seiner beruflichen Anstrengungen betrachtet, wer nicht den pädagogisches Grundsatz verinnerlicht hat, dass dem Schwächeren geholfen werden muss, seine Schwächen auszugleichen und gleichzeitig der Begabte gefördert und gefordert werden muss, wer schließlich den Leistungsschwächeren 21 signalisiert, dass sie eigentlich nicht dazu gehören, der trägt Mitverantwortung für die Ergebnisse der PISA Studie! Ich möchte noch einmal auf Finnland verweisen. Ein wichtiger Grundsatz der finnischen Pädagogik lautet: Kinder dürfen in der Schule nicht beschämt werden! (DIE ZEIT. 2002. S. 30) Dass ein solcher gelebter Grundsatz auch zu einer hohen Leistungsfähigkeit des Schulsystems führen kann, zeigt uns die PISA Studie. Sie zeigt darüber hinaus, dass Schulen bzw. ihre Schüler dann besonders leistungsfähig sind, wenn das pädagogische Handeln von Leistungsvertrauens, Ermutigung zum eigenen Können und einer starken Gemeinschaftsorientierung bestimmt wird. Allen Schülern Anerkennung zu geben und ihr Zugehörigkeitsgefühl zur Klasse und zur Schule zu stärken, sind die besten Voraussetzungen, ihre soziale und kognitive Leistungsfähigkeit zu stärken. So können offensichtlich auch die Schwachen wirkungsvoller stark gemacht und die Starken in ihren Stärken nachdrücklicher gefördert werden, als in unserem auf Selektion fixierten Schulsystem. Dazu gehört auch die Frage nach der Bewertung von Leistungen durch Schulnoten und Versetzungen. PISA liefert viele Beispiele, dass auch ein später Einsatz von Noten (in Schweden wird erst ab der 8. Klasse benotet) zu überdurchschnittlichen Leistungen führen kann und Kooperation wirkungsvoller sein kann als früh einsetzendes Konkurrenzverhalten. Das wird im übrigen auch in der Hamburger LAU Studie bestätigt, in der sich zeigt, dass sich die Schulleistungen von Grundschulkindern nicht deshalb verschlechtern, weil statt der herkömmlichen Zensuren Lernentwicklungsberichte erstellt werden (Lehmann u.a. 1997. S. 81 f.). Allerdings warne ich davor, die Lösungen der Probleme, die PISA uns aufgezeigt hat, allein im Pädagogischen oder im Bildungspolitischen zu suchen. Die Leistungsfähigkeit eines Schulsystems gerade auch im Hinblick auf den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Schulerfolg, hängt vermutlich auch in einem beachtlichen Maße von der Sozialstruktur der Gesellschaft ab. Je stärker diese durch Ungleichheit gekennzeichnet ist, je heterogener und zerrissener sie ist, desto geringer dürfte auch der Einfluss der Schule gegenüber der sozialen Herkunft sein. Wir haben in Deutschland eine Sozialstruktur mit einer großen sozialen Ungleichheit, wir haben auf der anderen Seite mit Ländern wie Finnland und Schweden sehr viel homogenere Gesellschaften, in denen die Schule die Herstellung von gleichen Bildungschancen wirkungsvoller moderieren kann, als bei uns. Gleichwohl, ich hoffe sehr, dass Isabell von Ackeren nicht recht behält mit ihrer Befürchtung, dass Deutschland seinen „verfestigten Modernitätsrückstand“ nicht aufholen wird und „den Anschluss an den Modernisierungszug der entwickelten Länder (weiterhin) verpasst“ (van Ackeren. 2002. S. 172), weil der Strukturkonservatismus das politische Denken und Handeln 22 dominiert: „Das große Umsteuern in Deutschlands Schulen soll und wird sich wohl in den bestehenden Strukturen , mit den begrenzten Finanzmitteln und mit Lehrenden vollziehen, die das konstatierte Elend nicht haben verhindern können und die, wenn sie neu in den Schuldienst eintreten, so wie ihre Altvorderen ausgebildet wurden“ (van Ackeren. 2002. S. 173). Ich bin da etwas optimistischer. Die KMK hat mit den von ihr herausgegebenen Handlungsfeldern erste konkrete Ansätze einer Aufarbeitung der PISA Ergebnisse eingeleitet (Schweizer 2002. S. 148f). Auch wenn dabei die Systemfrage ausgeblendet bleibt, es sind m. E. Schritte in die richtige Richtung . Vielleicht führen sie pädagogisch weiter als eine hoch geladene bildungspolitische Diskussion über die Grundstruktur des Bildungssystems in Deutschland. Eine allerletzte Anmerkung möchte ich machen. So beunruhigend die Ergebnisse der PISA Studie für Deutschland auch sind. PISA hat eine zumindest implizite Botschaft, die für die Bildungsdiskussion in Deutschland konstruktiv und versachlichend wirken kann: Die Position von den angeborenen Begabungen, die durch Förderungskonzepte in der Familie, der Schule und dem Unterricht kaum verändert werden können, wird deutlich als theoretischer Anachronismus entlarft. PISA zeigt, dass Leistung vor allem ein Ergebnis von Anstrengung und Leistungsförderung im Rahmen von Lernprozessen ist! Literatur van Ackeren, I. (2002): Von FIMS und FISS bis TIMMS und PISA. Schulleistungen in Deutschland im historischen und internationalen Vergleich. In: Die Deutsche Schule. 94. Jg. Heft 2. S. 157-175 Baumert, J., Bos, W. & Watermann R. (2000): Fachleistungen im voruniversitären Mathematik- und Physikunterricht im internationalen Vergleich. In. Baumert, Bos & Watermann (Hrg.): TIMSS/III. Dritte Internationale Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie: Mathematische und naturwissenschaftliche Bildung am Ende der Schullaufbahn. Bd. 2. Opladen. S. 129-180 Brügelmann, H./Heymann, H.-W. (2002): PISA 2000: Befunde, Deutungen, Folgerungen. Langfassung eines Artikels aus PÄDAGOGIK 54 (2002). Heft3. S. 40-43. Carle, U. (2002): Blick hinter den PISA-Spiegel: Bayern nicht mehr deutscher Meister. Pisae-spiegelblick02.07.01. Seite 8 Deutsches PISA-Konsortium (2001) (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen Deutsches PISA-Konsortium (2002) (Hrsg.): PISA 2000 – Die Länder der bundesrepublik Deutschland im Vergleich. Opladen 23 DIE ZEIT. Nr. 51 vom 12. Dezember 2001 sowie Nr. 23. vom 29. Mai 2002 Händle, Ch. (2002): Nach TIMMS nun auch: Politische Bildung im internationalen Vergleich . In: FORUM . Zeitschrift des Verbandes Bildung und Erziehung. 55 Jg.Heft4. S. 29-30 Hüfner, K. (Hrg.) (1973): Bildungswesen mangelhaft. BRD-Bildungspolitik im OECDLänderexamen. Frankfurt a.M., Berlin, München Kahl, R. (2002): Die Botschaft von PISA: Du sollst nicht beschämen. Publik-Forum. Nr. 13. S. 8-9 Klemm, K.: Wenn schon kein Umbau, dann auch keine Rolle rückwärts. Frankfurter Rundschau online. 28.03.2002 Lehmann,R.H. u. a. (1997): Aspekte der Lernausgangslage von Schülerinnen und Schülern der fünften Klassen an Hamburger Schulen. Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung: Hamburg Picht, G.(1964): Die deutsche Bildungskatastrophe. Analysen und Dokumentation. Olten, Freiburg, Walter OECD (1973) Bildungswesen: mangelhaft. BRD-Bildungspolitik im OECD-Länderexamen. Hrsg. Von Klaus Hüfner. Frankfurt a. M. Schweizer, J. (2002): PISA und sie Systemfrage. Für eine tabu- und ideologiefreie Analyse der PISA Studie. In: Die deutsche Schule. Jg. 94. Heft 2. S. 148- 156 Torney-Purta, J.; Schwille, J; Amadeo, J-A. (1999) (Eds.): Civic Education Across Countries: Twenty-four National Case Studies from die IEA Civic Educational Projekt. (IEA and Eburon Press). Amsterdam Torney-Purta, J. u.a. (2001): Citizenship and Education in Twenty-eight Countries. Civic Knowledge and Engagement at Age Fourteen. (Eburon Press). Delft