PISA ist ein Programm

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Prof. Dr. Wolf-Dieter Scholz
Oldenburg, September 2002
PISA
(Programme for International Study Assessment)
Ergebnisse und Wirkungen einer internationalen Untersuchung zur Schieflage des deutschen Schulsystems
„Kinder sind keine Fässer, die man
füllen muss, sie sind vielmehr wie Feuer, die angefacht werden müssen!“
„Nobody likes change except a wet
baby“
1. Zwischen „Bildungskatastrophe und PISA-Schock“: Internationale Untersuchungen
zur Schulleistung
In der Wochenzeitschrift „Die Zeit" war folgendes zu lesen: “Die Bundesrepublik steht in der
vergleichenden Schulstatistik am untersten Ende der europäischen Länder“; deutsche Schülerinnen und Schüler zeigen in den naturwissenschaftlichen Schulleistungen nur unterdurchschnittliche Leistungen, die deutlich schlechter seien als die der Schüler aus vielen anderen
vergleichbaren Industriestaaten. „Nicht nur die „klassischen Bildungsstaaten
Frankreich,
England oder Schweden, liegen weit vor der Bundesrepublik; auch Länder wie Ungarn, Finnland, Schottland, Australien oder Neuseeland übertreffen den Unterrichtserfolg hierzulande“.
Es heißt weiter, dass wie sonst kaum irgendwo auf der Welt das Schulsystem in Deutschland
die Schüler ausliest, eine im internationalen Vergleich nur sehr geringe Quote an Schülerinnen und Schülern eines Jahrgangs in den Abschlussklassen der Sekundarstufe II hat (9% gegenüber 75% in den USA, 70% in Japan, 47% in Belgien) und dass schließlich trotz der hohen Selektivität des gegliederten Schulsystems „aber auch diese „hochausgelesene kleine Elite (...) nicht leistungsfähiger (ist) als die Spitze in anderen Ländern.“
Der Inhalt dieses Berichtes scheint eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der
PISA Studie 2000 zu sein. Der Eindruck trügt. Es handelt sich hierbei vielmehr um einen Bericht vom 20. September 1974 von Hajo Matthiesen - als Faksimile wiederabgedruckt in der
ZEIT vom 12. Dezember 2001 - eingeleitet mit der bezeichnenden Überschrift „Alte Wahrheiten“ (DIE ZEIT, 51. 2001). Der Artikel von Matthiesen
bezieht sich auf eine weltweit
durchgeführte Studie über Schulleistungen im naturwissenschaftlichen Unterricht, die von der
International Association for the Evaluation of Educational Research (IEA) durchgeführt und
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in Deutschland vom Institut für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt (Leitung:
Prof. Dr. Schultze) betreut worden ist. Befragt wurden damals 258 000 Schülerinnen und
Schüler in 9700 Schulen aus 20 Ländern nach ihren Kenntnissen und praktischen Fähigkeiten
in den Fächern Erdkunde, Biologie, Chemie und Physik. Das war etwa zur gleichen Zeit, als
die OECD-Studien zur Wirksamkeit des deutschen Bildungssystems „Bildungswesen: Mangelhaft“ veröffentlicht worden ist (1972). Es war ziemlich genau zehn Jahre nach Georg
Pichts Warnung vor der „Deutschen Bildungskatastrophe“ sowie der „First International Mathematics Study (FIMS), im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der „First International Science
Study“ (FISS) von 1970 und es war etwa 20 Jahre vor der Veröffentlichung der sogenannten
TIMSS-Studie (Third International Mathematics And Science Study), die für die mathematischen und naturwissenschaftlichen Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler im
OECD-Vergleich zu ähnlichen Ergebnissen kam und erste tiefergehende Beunruhigungen in
Deutschland auslöste. Die nun im Jahr 2000/2001 veröffentlichte PISA Studie ist Fortsetzung
und in der Kontinuität der Ergebnisse gleichsam die „Krönung“ der vorangegangenen Untersuchungen zur Wirksamkeit des deutschen Bildungssystems. Man könnte also meinen, dass
sich eigentlich nicht viel getan hat. Für die gemessenen schlechte deutsche Leistungsbilanz
scheint das so zu sein, für die öffentliche, politische, wissenschaftliche und publizistische Reaktion darauf nicht. Es hat den Anschein, als gäbe es ein schmerzhaftes Erwachen aus dem
unbegründeten Traum, dass im großen und ganzen unser Schulsystem seine gesellschaftlichen
und individuellen Aufgaben gut erfülle. Es sieht so aus, als würde sich nicht nur die Politik
selbstkritisch mit den Schwächen unseres Bildungssystems beschäftigen, um deren Wirksamkeiten zumindest mittelfristig erheblich zu verbessern und es international konkurrenzfähiger
zu machen.
2. Was ist PISA, welches Anliegen hat die Untersuchung und mit welcher Methode ist
gearbeitet worden?
PISA ist das Akronym für „Programme for International Student Assesment“ und damit ein
Programm im Rahmen der (internationalen) empirischen Schulleistungsforschung. PISA soll
mit Hilfe empirischer Methoden sogenannte Basiskompetenzen der nachwachsenden Generation erfassen, die diese – so die Annahme - für die Bewältigung von Zukunftsaufgaben in modernen Gesellschaften benötigen. Das PISA-Programm wird von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) durchgeführt. Es wird von allen Mitgliedstaaten gemeinschaftlich getragen und verantwortet. Zentrale Zielsetzung von PISA ist
es, den Regierungen der teilnehmenden Länder auf einer gesicherten Grundlage Informatio-
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nen zur Verfügung zu stellen, die sie zur Verbesserung ihrer nationalen Bildungssysteme nutzen können. Gedacht ist dabei an alle Ebenen des Bildungssystems. Eingeschlossen ist damit
auch die Entwicklung von einzelnen Aspekten des Schulsystems, angesprochen werden aber
auch Aspekte der Lehrerausbildung und der Schulberatung. Bei den von der PISA Studie
2000 untersuchten Basiskompetenzen geht es nicht um Schulwissen im engeren curricularen
Sinne. Es geht vielmehr um solche Dinge, die nach Auffassung der OECD-Staaten Autoren in
modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig
sind. Ich möchte schon an dieser Stelle darauf hinweisen, dass PISA damit nur bestimmte
Ausschnitte aus dem komplexen Feld schulischen Lernens misst. Über die vielschichtigen
Leistungen der Schulen werden damit nur eingeschränkte Aussagen möglich: „Soziale Integration von Minderheiten, Beiträge zur Persönlichkeitsentwicklung, Entwicklung musischästhetischer Interessen, Verringerung von Gewalt – auch das sind Leistungen der Schule, die
allzu leicht aus dem Blick geraten.“ (Brügelmann/Heimann 2002. S. 10) Bei PISA sind in
einer internationalen standardisierten Leistungsmessung 15jährige Schülerinnen und Schüler
in ihren Schulen befragt worden. Teilnehmer sind 32 Staaten, davon 28 Mitgliedsstaaten der
OECD. In jedem der untersuchten Länder wurden zwischen 4.500 und 10.000 Schülerinnen
und Schülern getestet. Zusätzlich sind für eine deutsche Länderauswertung weitere 1466
Schulen mit insgesamt 50 000 Schülern untersucht worden. Die Ergebnisse liegen uns seit
Ende Juni 2002 vor. Sie zeigen das - erwartete - Gefälle zwischen den Spitzenreitern Bayern, Baden-Württemberg auf der einen und den Schlusslichtern Bremen, Sachsen-Anhalt auf
der anderen Seite. Auch wenn die Länderregierungen aus Bayern und Baden-Württemberg
der Versuchung nicht ganz widerstehen konnten, im Kontext des Bundestagswahlkampfes ihr
besseres Abschneiden als gutes Abschneiden und Ausdruck einer besseren und erfolgreicheren konservativen Bildungspolitik zu interpretieren, ein genauerer Blick auf die Länderauswertung relativiert diesen Eindruck sehr schnell. Der positive Eindruck wird getrübt wenn es
z. B. um die Gleichheit der Bildungschancen geht, und die Ergebnisse büßen ihren Glanz ein,
wenn sie international eingeordnet werden. Es zeigt sich nämlich, dass dann auch Bayern und
Baden-Württemberg nur eher zweitklassig und von der internationalen Spitze noch entfernt
sind – wenngleich deutlich näher dran als z. B. Bremen und Niedersachsen! Gleichwohl bietet
der Ländervergleich die Chance, sorgfältig und uneingenommen zu analysieren, in welchen
Punkten der Bildungspolitik wir auch von Bayern lernen können, sie machen aber auch deutlich, dass die Ergebnisse der PISA Studie nicht abstrahiert werden dürfen von der Sozialstruktur und damit auch von der Problemstruktur einer Region. Offenkundig haben Länder oder
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Regionen mit einer günstigen und modernen Wirtschaftsstruktur auch eine günstigere Sozialstruktur und damit bessere Voraussetzungen für eine erfolgreiche Bildungspolitik
Ohne hier die Ergebnisse der PISA E-Studie zu vertiefen, soll auf zwei Aspekte hingewiesen
werden, die bei der bildungspolitischen Bewertung des gemessenen Leistungsgefälles zwischen den Bundesländern berücksichtigt werden müssen, um nicht zu kurzschlüssigen Folgerungen zu kommen. Zum einen drücken sich in den Ergebnissen die Ambivalenzen bzw. die
Zielkonflikte eines dreigliedrigen, früh auf Selektion ausgerichteten Schulsystems aus. Wenn
nämlich die Bildungspolitik eines Bundeslandes den Schwerpunkt in der möglichst weiten
Ausschöpfung der Begabungen sieht und die Abiturientenquote entsprechend hoch ist – das
ist z. B in den Bundesländern Bremen und Brandenburg mit jeweils ca. 31%, in NordrheinWestfalen mit 29% der Fall , dann führt das zu einer Schwächung vor allem der Hauptschule:
„Der Aufstieg der einen zieht am anderen Ende Demoralisierung und kognitive Schwächen
nach sich.“ (Kahl 2002. 8). Ist umgekehrt der Anteil der Schüler in der Hauptschule besonders
groß, führt das dort auf der einen Seite offenkundig zu besseren Schulleistungen, der Anteil
derer, die das Abitur erreichen, ist dann allerdings im nationalen und internationalen Vergleich nur sehr gering. Das gilt z. B. für Bayern. Hier liegt der Anteil der Abiturienten mit
Allgemeiner Hochschulreife bei ca. 20%, und auch der Anteil aller Absolventen des Schulsystems mit einer Hochschulreife (einschließlich Fachhochschulreife) liegt mit 29% niedriger
als in allen anderen Bundesländern. Die Folge ist u. A., dass Bayern seinen hohen Bedarf an
Akademikern aus anderen Bundesländern importieren muss! Ein anderer Aspekt betrifft den
unterschiedlichen Anteil von Schülern mit einem Migrationshintergrund und der damit korrelierenden Sozialstruktur. Das wird am Bundesland Bremen besonders deutlich. Hier liegt der
Anteil von Schülern mit einem entsprechenden Elterhaus mit 40,7% höher als in allen anderen
Bundesländern, und er ist fast doppelt so hoch wie in Bayern (22,4%). Erschwerend hinzu
kommt, dass in Bremen der Anteil von Schülern aus bildungsfernen Migrationsfamilien (Türkei, Polen, ehemalige Sowjetunion) mit 67% besonders hoch ist und auch der Anteil der Jugendlichen, deren beide Eltern im Ausland geboren sind, ist mit 36,1% aller Emigrantenkinder ebenfalls überdurchschnittlich (Carle 2001. Seite 8). Ursula Carle weist darauf hin, dass
es in Bremen besonders viele 15-Jährige mit schlechten deutschen Sprachkenntnissen gibt,
weil hier 35,3% der Jugendlichen mit Migrationshintergrund während ihrer Schulzeit eingewandert sind – das sind 14,12% der gesamten Bremer Stichprobe (Carle 2002. Seite 8)! Die
Autoren der PISA Studie gehen davon aus, dass das Schulleistungsverhalten von 15-Jährigen
Schülerinnen und Schülern durch komplex zusammenwirkende Faktoren bewirkt wird, dass
dabei primäre und sekundäre Faktoren eine Rolle spielen und die gemessenen Schulleistungen
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im Guten wie im Schlechten nicht nur durch die Schule, sondern ebenso durch Elternhauseinflüsse beeinflusst werden. Deshalb müssen solche Aspekte wie der Migrationshintergrund,
die Sozialstruktur einer Region und die Gesamtleistungen eines Schulsystems (dazu gehört
auch die Quote an Abiturienten) beim Bundesländervergleich mit herangezogen werden. Allerdings darf der Einfluss der ethnischen Zugehörigkeit auch nicht überbewertet werden. In
den neuen Bundesländern liegt nämlich der Anteil von Kindern aus Migrantenfamilien bei
weniger als 5 %. Von Sachsen abgesehen gehören sie dennoch nicht zu den Spitzenreitern in
bundesweiten Vergleich.
3. Welche Aspekte der Leistungsfähigkeit der Schulen sind untersucht worden und welches Konzept steckt hinter der untersuchten „Literalität“?
PISA misst im Wesentlichen drei zentrale kognitive Bereiche: Lesekompetenz (reading literacy); mathematische Grundbildung (mathematical literacy) und naturwissenschaftliche
Grundbildung (scientific literacy). Dabei geht es vorrangig nicht nur um die Beherrschung des
im jeweiligen Lehrplanes der beteiligten Länder vorgesehenen Lehrstoffes, sondern vor allem
um solche Kenntnisse, Fähigkeiten und fächerübergreifende Kompetenzen, die man im Erwachsenenleben benötigt: Das methodische Instrumentarium dieser Vergleichsuntersuchung
besteht aus einer Batterie und Mischung von Testaufgaben und Fragen, für die die Schülerinnen und Schüler eigene Antworten ausarbeiten mussten. Zusätzlich mussten sie einen Schülerfragebogen mit Hintergrundfragen über sich selbst beantworten. Auch die Schulleiter wurden gebeten, Fragen über ihre Schule zu beantworten. Die erste Erhebung fand im Jahr 1999
statt, danach erfolgen weitere Erhebungen in einem Drei-Jahreszyklus. Im Jahr 2003 wird
vorrangig die Mathematik, im Jahr 2006 werden die Naturwissenschaften evaluiert. Die Messung fächerübergreifender Kompetenzen wird schrittweise angestrebt. PISA wird also dynamisiert und bleibt uns auch als Diskussionsthema in den nächsten Jahren erhalten. Zusätzlich
zu dieser international vergleichenden Befragung und Testung kann es nationale eigene Untersuchungen als Vertiefungen geben wie das ist zum Beispiel in Deutschland mit PISA-E
gemacht worden ist. Wichtig und neu im Vergleich zu vorangegangenen Studien wie z. B. bei
TIMSS ist, dass PISA neben schulischen Daten auch Informationen über den gesellschaftlichen Hintergrund des jeweiligen Bildungssystems erhebt. Neu ist auch, dass in der PISA Untersuchung nicht einfach nur Wissen abgefragt wird, sondern unter Rückgriff auf das Konzept
der sogenannter Literalität (literacy) auch getestet wird, wie Schülerinnen und Schüler das in
der Schule erworbene Wissen zum Verständnis der Welt/ihrer Welt tatsächlich anwenden
können.
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4. Wie schneiden die deutschen Schülerinnen und Schüler ab, und welche anderen bildungspolitisch bedenklichen Ergebnisse zeigt PISA für Deutschland?
4.1 Die kognitiven Leistungen als Basiskompetenzen
Gemessen wurden die Bereiche

Lesekompetenz als sprachliche Literalität. Testergebnisse über die Gesamtleistung/Gesamtskala „Lesen“: OECD- Durchschnitt: 500 Punkte; Finnland auf Platz 1:
546 Punkte; Deutschland auf Platz 21: 484 Punkte; Brasilien auf dem letzten Platz:
396 Punkte. Fazit: Deutschland liegt im unteren Teil des Feldes der OECD!

Mathematische Grundbildung: OECD-Durchschnitt mit 500 Punkten; Platz 1: Japan
mit 557 Testpunkten; Finnland als erstes europäisches Land auf Platz 4 mit 536 Punkten; Deutschland auf Platz 20 mit 490 Punkten; Brasilien auf dem letzten Platz mit 334
Punkten. Fazit: Auch hier liegt Deutschland im unteren Feld der OECD-Staaten!

Naturwissenschaftliche Grundbildung: OECD-Durchschnitt mit 500 Punkten; Platz 1
Korea mit 552 Punkten; Platz 3 nach Japan: Finnland mit 538 Punkten; Deutschland
auf Platz 20 mit 487 Punkten; Brasilien auf dem letzten Platz mit 375 Punkten. Fazit:
Auch hier liegt Deutschland im unteren Feld der OECD-Staaten!
4.2 Die Spreizung im Leistungsverhalten zwischen guten und schlechten Schülern
In den drei Bereichen des Leseverständnisses, der Mathematikkenntnisse und der Kenntnisse
in den Naturwissenschaften ist die Schere zwischen den Schwächsten und den Besten in
Deutschland sehr groß. So ist der Abstand zwischen den 5% schwächsten und den 5% stärksten Schülerinnen und Schüler im Bereich der Lesekompetenz größer als in allen anderen untersuchten Ländern! Hinzu kommt, dass bei den Lesekenntnissen 25% der deutschen Schüler
zu den Leistungsschwachen gehören, während die leistungsstarken deutschen Schüler nur den
internationalen Durchschnitt erreichen. PISA zeigt, dass mit einer dichteren sozialen Integration der Schülerinnen und Schüler die Qualität der schulischen Leistungen nicht leidet. Im
Gegenteil: In den Ländern, die besonders gut abgeschnitten haben (Finnland, Schweden, Japan) ist der Unterschied zwischen den starken und schwachen Schülerinnen und Schülern
signifikant geringer als in Deutschland, die Leistungsspitze ist dort aber deutlich höher.
4.3 Ausländerkinder bzw. Kinder mit einem Migrationshintergrund
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Schüler mit einem Migrationshintergrund haben in allen Ländern besondere Probleme mit der
gemessenen Leistung . In Deutschland ist das aber besonders ausgeprägt. So erreichen z. B.
Kinder aus türkischen Familien bei uns im Leseverständnis deutlich geringere Leistungen als
Kinder mit gleichem Migrationshintergrund in Norwegen, Schweden, der Schweiz oder Österreich. Dieses ist insofern auch bedenklich, als die meisten von ihnen in Deutschland geboren sind und deshalb von der ersten Klasse an durch unser Bildungssystem gelaufen sind. Ich
bin schon darauf eingegangen, dass der Migrationshintergrund mit schwachen Schulleistungen hoch korreliert und als eine Erklärung für das in der nationalen PISA Studie gemessene
Leistungsgefälle zwischen den Bundesländern herangezogen werden muss.
4.4 Ergebnisse sozialer Selektion: Der Zusammenhang zwischen Familienherkunft und
Leistungsverhalten
Nicht allein die Leistungsergebnisse der deutschen Schülerinnen und Schüler in den Fähigkeiten des Textverständnisses, in der Mathematik und in den Naturwissenschaften müssen uns
beunruhigen. Anlass zur großen Sorge gibt auch, dass nach dieser PISA-Untersuchung in keinem anderen industrialisierten Land der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft der
Schüler und ihrer gemessenen Schulleistung so groß ist wie in Deutschland, wenngleich in
allen untersuchten Ländern die soziale Herkunft mit der gemessenen Leistung korreliert. Ganz
offensichtlich verstärkt unser Bildungssystem die soziale Ungleichheit sehr viel stärker als
das in anderen Länder der Fall ist. Diese Ergebnisse bekommen auch deshalb eine besondere
Brisanz, weil sich schon in der OECD-Studie aus den 70er Jahren das im Prinzip gleiche Bild
ergeben hatte. 30 Jahre Bildungspolitik, eine große Dynamik in der Ausweitung der Beteiligung an höheren Bildungsabschlüssen durch die seit den 70er Jahren verstärkt einsetzende
Bildungsexpansion in Deutschland haben an diesem Grundübel offensichtlich kaum etwas
geändert. Da eine demokratische Bildungspolitik Benachteiligungen aber nicht verstärken und
fortschreiben darf, sondern so weit wie möglich ausgleichen muss, da die Frage der Bildungschancen gewissermaßen die soziale Frage der modernen Wissensgesellschaften ist, geben
gerade diese Untersuchungsergebnisse Anlass, nach Wegen zu suchen, wie unser Bildungssystem von den Kindertagesstätten über die Schulen bis zu den Hochschulen und den Weiterbildungseinrichtungen so verbessert werden kann, dass diese scharfe Selektion in Zukunft
deutlich verringert wird und Deutschland nicht Weltmeister in der sozialen Selektion seiner
Schülerinnen und Schüler bleibt! Wenn die soziale Ausgrenzung von höheren Bildungsabschlüssen nicht politisch gewollt wird, muss es bedenklich stimmen, dass in der PISA Studie
festgestellt wird, dass sich zwar weltweit der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft
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und den Bildungschancen lockert, in Deutschland aber das Tempo dieses Entkopplungsprozesses so gering ist, dass „man von einer hohen Stabilität der Grundstruktur sozialer Disparitäten sprechen (muss)“ (S. 352). Der internationale Vergleich zeigt auch, dass eine höhere
Bildungsbeteiligung sozial schwächerer Bevölkerungsgruppen nicht etwa mit einem Verlust
an Qualität erkauft werden muss. Das Gegenteil scheint eher der Fall zu sein: „Es deutet sich
eine positive Beziehung zwischen Leseniveau und Lockerung des Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Schulerfolg an.„ (S. 389) Die Autoren der deutschen Studie sehen die „Institution Schule selbst als Ursache der Disparitäten“ (S. 352). Zu den bedenklichen Ergebnissen
des deutschen Schulsystems gehört auch die im internationalen Maßstab viel zu hohe Quote
der Zurückstellungen von der Grundschule und die der Klassenwiederholer. In Deutschland
haben von allen in der PISA Studie befragten 15-Jährigen nur 64 % ihre bisherige Schulzeit
ohne zeitliche Verzögerung verbracht. Sie haben viel Zeit verloren durch späte Einschulung
bzw. durch Wiederholen einer Klasse. Im Durchschnitt ist das heutige Einschulungsalter
in Deutschland ein Dreivierteljahr höher als noch Anfang der 70er Jahre. Hinzu kommt,
dass fast jede/r Zehnte die Erfahrung einer Herabstufung von einer Schule zur anderen gemacht hat. Auch das ist ein Weltrekord! Der internationale Vergleich bei PISA zeigt, dass
Späteinschulung und Klassenwiederholung nicht zu besseren Leistungen führen. Eine frühzeitig einsetzende Förderung der Leistungschwächeren scheint wirkungsvoller zu sein als das
Wiederholen einer Klasse oder das damit verbundene Verlassen der höheren Schulform. Der
in Baden-Württemberg seit 1997 laufende Schulversuch „Schulanfang auf neuen Wegen“ zeigt ermutigende Ergebnisse mit einer früheren Einschulung von Fünfjährigen.
4.5 Schulleistungen und Beteiligungsquoten an höheren Bildungsabschlüssen
Auch die Beteiligungsquoten an höheren bzw. den höchsten Bildungsabschlüssen in einem
Land sind ein Indikator für soziale Auslese. Die bei uns nach wie vor geäußerte Vermutung
oder Gewissheit, dass die durchschnittliche schulische Leistung besser wird, wenn im Verlaufe der Schullaufbahn die „geeigneten“ von den „ungeeigneten“ Schülerinnen und Schülern
kräftig aussortiert werden, wird durch PISA relativ klar widerlegt. Die quantitative Zunahme
an höheren Bildungsabschlüssen wird eben nicht mit Qualitätseinbußen bezahlt – jedenfalls
nicht in den bei PISA gemessenen Basisqualifikationen! Masse bedeutet eben nicht per se
Verlust von Klasse! Baumert u. a. haben schon in der Oberstufenstudie von TIMMS nachweisen können, dass die gewünschte Elitenbildung zumindest in den mathematischnaturwissenschaftlichen Unterrichtsfächern von einer breiten Rekrutierungsbasis profitiert
(Baumert, Bos & Watermann 2000). Das wird auch in der PISA Studie 2000 bestätigt. Die
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Staaten, die im internationalen Leistungsvergleich am besten abschneiden, haben zum Teil
eine deutlich höhere Beteiligung an höherer Schulbildung und entsprechende Abschlussquoten: Schweden 70%, Japan 69%, Korea 56%, Finnland 53%, Deutschland 33% an einem Altersjahrgang! Wir belegen im internationalen Vergleich unter 21 Ländern den 12. Rang. Im
Durchschnitt aller Länder erreichen 41,9 % der Jugendlichen eine Hochschulzugangsberechtigung, das sind fast 10% mehr als im „Bildungsland“ Deutschland (Hovestadt 2002, 5). Auch
in diesem Bereich hat Deutschland Eckpunkte seiner Bildungspolitik und einer starken Variante in der Bildungstheorie neu und kritisch zu durchdenken, wenn es seinen Modernitätsrückstand im Bildungsbereich aufholen will.
5. PISA – und die Folgen! Wo liegen Möglichkeiten des politischen und pädagogischen
Handelns?
Wenn man sich die Gesamtergebnisse der PISA Studie im internationalen Vergleich für
Deutschland gesondert ansieht, dann muss ganz eindeutig festgestellt werden, dass wir gut
daran tun, uns um Verbesserungen und grundlegende Reformen der inneren Schulverfassung
ebenso wie über die äußere Struktur unseres Schulsystems zu bemühen, dabei aber auch den
wichtigen Aspekt der Lehrerausbildung nicht aus dem Auge verlieren. Hinzu kommt, dass in
Deutschland Bildung wieder in einem höheren Maße an gesellschaftlicher Wertschätzung
gewinnen muss, das schließt auch einen größeren Respekt gegenüber den im Bildungssystem
arbeitenden Menschen und die Anerkennung ihrer schwierigen und wichtigen Arbeit mit ein
und zwar von den Erzieherinnen bis zu den Hochschullehrenden! Nur in der Verknüpfung
verschiedener Dimensionen können Voraussetzungen geschaffen werden, um in Zukunft bei
solchen Untersuchungen besser abzuschneiden – und das nicht nur im Bereich der kognitiven
Leistungen unserer jungen Menschen! Über Einzelmaßnahmen, die dann auch noch als Patentlösungen angepriesen werden, werden wir die bestehenden Defizite nicht lösen.
Wo liegen nun konkrete bildungspolitische und pädagogische Möglichkeiten des Handelns,
wo liegen die stärksten Defizite in unserem Schulsystem? Ich kann das hier im Rahmen meines Vortrages aus Zeitgründen nur kurz ansprechen.
5.1 Verbesserung des Unterrichts
Verbessert werden muss vor allem der Schulunterrichts. Wichtig ist eine Didaktik der Vielfalt
und Anwendungsorientierung. Wir wissen aus der empirischen Schulforschung, dass ein gut
strukturierter Unterricht mit einem leistungsfordernden und lernfreundlichem Klima für den
Lernerfolg von großer Bedeutung ist. Die weiterführenden Realschulen und Gymnasien soll-
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ten stärker als bisher darüber nachdenken, dass Lernprobleme ihrer Schüler nicht dadurch
„gelöst“ dürfen, dass diese an die darunter liegende Schule abgeschoben werden, dass vielmehr der Lernprozess im Mittelpunkt des pädagogischen Denkens und Handelns stehen sollte,
und durch ihn auch die schwächeren Schüler in die Lage versetzt werden müssen, bessere
Leistungen zu erbringen. Auch deshalb brauchen wir eine Umorientierung sowohl in der Lehrerausbildung wie auch im beruflichen Selbstverständnis von Lehrerin und Lehrer. Es muss
sehr viel stärker als bisher in den Mittelpunkt gestellt werden, dass Pädagogik und Didaktik
zentrale Felder der beruflichen Arbeit von Lehrkräften sind, dass die Unterschiedlichkeiten
von Kindern und Jugendlichen akzeptiert werden müssen und dass man lernen muss, mit
Vielfalt und Heterogenität pädagogisch richtig umzugehen. Es muss stärker und systematischer als bisher darauf eingegangen werden, dass unsere Schülerinnen und Schüler mit jeweiligen besonderen Schwierigkeiten, unterschiedlichen Lernvoraussetzungen, Stärken und
Schwächen in den Unterricht kommen und legitime Unterschiede in den Lernfortschritten
zeigen.
Wichtig ist aber auch, dass Lehrkräfte lernen, den Förderbedarf ihrer Schülerinnen und Schüler valider und präziser zu diagnostizieren als bislang, um entsprechend pädagogisch reagieren zu können. Wichtig ist auch, dass in der Schule viel stärker als bisher die innere Differenzierung des Unterrichts praktiziert wird. Damit können die Voraussetzungen verbessert werden, den unterschiedlichen Kindern mit ihren unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten auch
unterschiedliche Lösungswege anzubieten und ihre Lernfortschritte individuell zu befördern.
Ich bin der Meinung, dass wir Abschied nehmen müssen von dem alten Leitbild an unseren
Schulen, nach dem alle Schülerinnen und Schüler in der gleichen Zeit die gleichen Lernziele
erreichen sollen. Wir wissen: Wer das nicht schafft, wer da nicht mithalten kann, für den
steigt die Wahrscheinlichkeit, aussortiert zu werden. Das ist in einem gegliederten Schulsystem gleichsam systemlogisch.
5.2 Verbesserung und Ausbau der vorschulischen Bildungsangebote.
Die frühkindlichen Bildungsangebote müssen verstärkt und z.B. die Kindertagestätten zu Erziehungs- und Bildungseinrichtungen weiter entwickelt werden. Dort liegen begünstigende
Bedingungen, um die Kinder in ihrer emotionalen sozialen und kognitiven Entwicklung zu
fördern, hier können bereits die Voraussetzungen geschaffen werden, spätere Leistungs- und
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Verhaltensdefizite erst gar nicht aufkommen zu lassen. Die Kognitionsforschung zeigt sehr
deutlich, dass Kinder in der Altersphase von 4 bis 10 Jahren eine besonders hohe Lernbereitschaft und Lernfähigkeit besitzen, die genutzt werden sollte. Auch Sprachförderung
und interkulturelle Erziehung sind sinnvolle Teile der vorschulischen Erziehung. Das bedeutet
u.a. aber, dass die Kindertagesstätten in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung der Schule gleichgestellt werden müssen. Auch hier können wir von Finnland lernen. Fast 100% aller Kinder
besuchen dort die freiwilligen Vorschulklassen. In den finnischen Kindergärten verwischen
sich auch die uns so vertrauten und verteidigten Unterschiede zwischen den akademisch und
nichtakademisch ausgebildeten Pädagogen: Hier arbeiten überwiegend akademisch ausgebildete Lehrkräfte - eine für standespolitisch sozialisierte deutsche Lehrkräfte beängstigende
Vorstellung!
Gertrud Hovestadt ist statistisch der Frage nachgegangen, „ob die „guten" PISA-Länder auch
eine hohe Beteiligungsquote im Elementarbereich gemeinsam haben“ (Hovestadt 2002, 2).
Sie verweist zu Recht darauf, dass sich daraus nicht umstandslos folgern kann, dass eine
frühere Bildungsbeteiligung im Alter unter 6 Jahren positiv auf die späteren Schulleistungen
auswirken. Das bedarf weitergehender empirischer Forschungen. Verglichen worden sind von
ihr die Anteile der Kinder eines Altersjahrganges bis zum Alter von 6 Jahren, die im Jahr
1995/96 eine Bildungs- oder Fördereinrichtung des Elementarbereiches besuchten. Das konnte der Kindergarten oder eine andere Institution sein, das ist einigen EU-Ländern aber auch
die Primar- bzw. Grundschule (Hovestadt 2002, 2f). Die Zahlen sind überraschend: 53% der
Dreijährige (53 %), 78% der Vierjährigen und ca. 90% der Sechsjährigen besuchten 1995/96
in Deutschland den Kindergarten oder eine andere vorschulische Einrichtung,
Der Vergleich im EU-Rahmen zeigt zweierlei. Generell liegt die Beteiligung der deutschen
Kinder in den untersuchten Altersgruppen in der unteren Hälfte. Erschwerend hinzu kommt,
dass sich die Zahlenverhältnisse bis zum 6. Lebensjahr der Kinder noch weiter auseinander
entwickeln: „Von Rang 8 bei den Drei- und Vierjährigen rutscht Deutschland bei den Fünfjährigen auf den 10. Rang und erreicht schließlich bei den Sechsjährigen nur noch den 14. und
damit vorletzten Rang“ (Hovestadt 2002, 2).
5.3 Verbesserung der Integration von Migrantenkindern
In einer Einwanderungsgesellschaft wie Deutschland müssen deutlich stärkere Anstrengungen
unternommen werden, um die Migrantenkinder besser in unser Schulsystem zu integrieren
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und sie zu entsprechend besseren Leistungen zu führen. Der entscheidende Punkt für die festgestellten Disparitäten in der Bildungsbeteiligung und im Schulerfolg ist dabei „die Beherrschung der deutschen Sprache auf einem dem jeweiligen Bildungsgang angemessenen Niveau. Für Kinder aus Zuwanderfamilien ist die Sprachkompetenz die entscheidende Hürde in
ihrer Bildungskarriere“ (PISA 2000. S. 374). Förderung der deutschen Sprache ist deshalb
dringend angesagt! Es kann gar nicht bestritten werden, dass es Schulen mit einem hohen Anteil nichtdeutscher Ethnien besonders schwer haben. Nicht zuletzt wegen der spezifischen
Wohnsituation in solchen Wohngebieten kann kaum damit gerechnet werden, dass die Kinder
dort günstige Voraussetzungen für den Erwerb der deutschen Sprache und damit für schulisches Lernen mitbringen. Wir brauchen also dringend eine Verstärkung der Integration durch
Sprachförderung – und zwar der deutschen Sprache! Dieses sollte allerdings schon vor dem
Schuleintritt beginnen. Förderung der Kompetenz der deutschen Sprache sollte aber nicht nur
bei den Kindern ansetzen, sondern die Elternhäuser mit einschließen. So kann ein Beitrag
dafür geleistet werden, dass die Schüler ihre Schullaufbahn nicht mit so starken sprachlichen
Defiziten beginnen, dass ihr Scheitern im Kern bereits angelegt ist!
5.4 Reformen an den Strukturen des Schulsystems
Neben den eher schul- und unterrichtsbezogenen Aspekten müssen aber auch die Strukturen
unseres Bildungssystems überdacht werden. Die im internationalen Maßstab sehr frühe Sortierung von Kindern auf unterschiedliche Schulformen bringt offenkundig keine besseren
Voraussetzungen für Schülerleistungen im Verlaufe der Schullaufbahn. Die in unserem gegliederten Schulsystem ausgedrückte Vermutung, dass homogene Lerngruppen einen möglichst hohen Lernerfolg garantieren, entpuppt sich nach den Ergebnissen der PISA Studie als
Illusion oder als Ideologie. Im internationalen Vergleich gesehen zeigt PISA vielmehr sehr
deutlich, dass nicht Homogenität der Lerngruppen, sondern ihre Heterogenität erfolgreicher
zu einer breit fundierten Leistungsfähigkeit und gleichzeitig zu Spitzenleistungen führt.
Was könnte/müsste nun angestrebt werden im Rahmen des bundesdeutschen Kulturföderalismus? Denkbar wäre eine einheitliche Verlängerung der Grundschule auf sechs Jahre oder
zumindest eine Form der Integration verschiedener Bildungsgänge in einer Schule. Auch hier
ist der vergleichende Blick auf andere Länder nützlich. Im Jahr 1992 haben nur die Bundesrepublik Deutschland, Österreich und ein kleinerer Teil der (deutschsprachigen) Kantone in der
Schweiz eine gemeinsame Schulzeit bis zum Alter von 10 Jahren. Alle anderen OECDLänder schicken ihre Schülerinnen und Schüler zum Teil deutlich länger gemeinsam in eine
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Schule (Hovestadt 2002, Tabelle S. 4). Seit 1992 hat sich die Tendenz zum längeren gemeinsamen Schulbesuch weiter verstärkt.
Ein anderer wichtiger Indikator für den Modernitätsstand eines Schulsystems ist deren Organisationsgrad in Ganztagsschulen bzw. Halbtagsschulen. Ganztags- und Halbtagsschulen bieten ungleiche Bedingungen, Schülerinnen und Schüler kognitiv, sozial und emotional zu fördern – allerdings nur dann, wenn sie entsprechend mit Personal und Sachmitteln ausgestattet
sind, und sich nicht auf bloße nachunterrichtliche Betreuung beschränken! Sie haben aber
darüber hinaus auch eine hohe gesellschaftspolitische Bedeutung, weil sie den Spielraum insbesondere für Frauen mit bestimmen, Familien- und Erwerbstätigenwünsche miteinander zu
verbinden. Der EU-Vergleich in der Frage der Organisation der Schulen als Ganz- oder Halbtagsschulen zeigt, dass nur in Deutschland, Österreich und Griechenland die Halbtagsschule
die eindeutig dominierende Schulform ist. Die anderen EU-Länder haben in teilweise unterschiedlichen Varianten Europas die Ganztagsschule als dominierende oder wie in Italien und
Portugal als gleichgewichtig nebeneinander angebotene Schule.
Tabelle
Vor - und Anmerkungen
Nachmittagsunterricht
Belgien
ja
Dänemark ja
Spanien
ja
Betreuung außerhalb des Unterrichts vorhanden, wird von Eltern initiiert und finanziert
unregelmäßiger Unterrichtsschluss, insbesondere in den ersten
Schuljahren um die Mittagszeit.
Durchgehende Betreuung der Kinder auch
nachmittags unter
Beteiligung der Einrichtungen der Jugendhilfe.
In den Sommermonaten oft nur Vormittagsunterricht;
durchgehende Betreuung teilweise
Frankreich ja
Vorgeschriebener Unterrichtsumfang; mittwochs unterrichtsfrei.
Kaum außerunterrichtliche Aktivitäten
Irland
Luxemburg
ja
ja
Niederlande
ja
kein Mittagessen
Unterricht vormittags und an drei Nachmittagen;
Übermittagsbetreuung
allenfalls im Sekundarbereich
staatliche Rahmenvorgaben lassen seit den 80er Jahren vielfältige Lösungen zu;
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die traditionelle Ganztagsschule wurde fast überall in irgendeiner Form beibehalten
Finnland ja
Schweden ja
Ver.Königr ja
.
Island
ja
Norwegen ja
Italien
teils
Durchgehende Betreuung der Kinder auch nachmittags unter
Beteiligung der
Einrichtungen der Jugendhilfe.
Vor- und Nachmittagsunterricht gesetzlich vorgeschrieben,
Ausnahme:
Schottland. Bei der zeitlichen und inhaltlichen Gestaltung haben die Schulen weitreichende Autonomie.
Dadurch eine Fülle außerunterrichtlicher Schulaktivitäten
Durchgehende Betreuung der Kinder auch nachmittags unter
Beteiligung der Einrichtungen der Jugendhilfe
Das Grundschulgesetz von 1990 ermöglicht Ganz- oder
Halbtagsschulen mit vielfältigen Varianten.
Ganztagsschulen sind "offene Ganztagsschulen“.
Die Teilnahme an außerunterrichtlichen Angeboten (nachmittags) steht den Kindern frei.
Portugal
teils
Griechen- nein
land
Österreich nein
Deutsch- nein
land
Halb- und Ganztagsschulen nebeneinander. Wegen Raumnot
kann der Unterricht oftmals allerdings nicht vor- und nachmittags erteilt werden,
sondern im Wechsel der Schulklassen schichtweise
Halbtagsschule im Schichtwechsel
Im Zusammenhang der Frauenerwerbstätigkeit zunehmende
außerunterrichtliche Betreuungsangebote
G. Hovestadt, Uni Essen, Fb2, AG Bildungsforschung/Bildungsplanung
Hovestadt: Was ist in Deutschlands Schulen anders? (S. 6)
Die Ganztagsschule bietet nicht nur eine zuverlässigere pädagogische Betreuung der Schülerinnen und Schüler bis in den Nachmittag als unsere unzuverlässige Halbtagsschule, sie kann
auch eine größere Vielfalt von pädagogisch relevanten Angeboten vorhalten und das Lernen
in anderen Lernrhythmen und anderen Lernfeldern ermöglichen. Gemeint sind damit praktische, sportliche, künstlerische sowie Freizeitangebote. Die längere gemeinsame Schulzeit in
der Ganztagsschule könnte auch zu einer Verbesserung der sozialen Integration der Migrantenkinder und zu einer stärkeren Identifikation aller Schülerinnen und Schüler mit ihrer Schu-
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le führen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf die Studie „CivEd“ (Civic Education
Across Countries: Twenty-four National Case Studies from the IEA Civic Educational
Projekt) verweisen, in der fast zeitgleich zur PISA Studie die politische Bildung im internationalen Vergleich untersucht worden ist (Torney-Purta, J.; Schwille, J; Amadeo, J-A. 1999
und Torney-Purta, J. u.a. 2001). Für die deutschen Jugendlichen sind zwei Ergebnisse bemerkenswert. Zum einen ist bei ihnen die Erwartung an die positiven Wirkungen schulischer
Partizipation besonders schwach, zum anderen lehnen sie stärker als alle anderen Gruppen
gleiche Rechte für Immigranten ab. Christa Händle hält es für plausibel, dass beide Ergebnisse auch mit der Organisation unserer Schulen als (unvollständige) Halbtagsschulen zusammenhängen: „Schulen mit einem breiten Nachmittagsangebot, die in den reichen Ländern des
Nordens die Regel sind, können in einem höheren Maße Möglichkeiten von sozialer und politischer Partizipation bieten“, weil sie nicht so sehr Unterrichtsschulen sind und das Lernen
nicht so zerreißen in einen instrumentelle Teil am Vormittag und einen Peer- und Freizeitteil
am Nachmittag (Händle 2002. S. 30).
Zu den notwendigen strukturelle Veränderungen unseres Schulsystems gehört m. E. aber eine
stärkere Selbstständigkeit unserer Schulen bei der Verantwortung für die Inhalte, für die Didaktik, für das Personal aber auch für die Mittel, die verwaltet werden müssen. Finnland als
„Europameister“ in der PISA Studie führt seine Erfolge unter anderem darauf zurück, dass
hier die Autonomie der einzelnen Schule in weiten Entscheidungsfeldern bereits eine bewährte und von den beteiligten Lehrkräften, Schulleitungen und Eltern hoch akzeptierte Realität
ist. Im internationalen Vergleich sind die pädagogischen, administrativen und wirtschaftlichen
Freiräume der deutschen Schulen eher bescheiden. Hier ist ein erheblicher Nachholbedarf
festzustellen, weil es evident ist, dass die Qualität der Schule auch von entscheidungskompetenten und starken Schulleitungen abhängt. Es bleibt abzuwarten, welche Innovationskraft der
föderativen Zentralismus der Bundesrepublik Deutschland in diesem Feld entwickeln und
durchsetzen kann, um die fachliche Qualifizierung/Vorbereitung der Schulleitungen und ihre
rechtliche Stellung dem internationalen Niveau anzupassen (Schweizer. 2002. S. 153). Die
Landesregierung in Niedersachsen zeigt erste interessante Ansätze dazu mit dem Modellversuch „Personalkostenbudgetierung“, der insbesondere den Berufsschulen mehr Autonomie
finanzielle Gestaltungsfreiheit und Kompetenzen beim Abschluss von befristeten Verträgen
mit Vertretungslehrkräften zubilligt. Ein Schritt in die richtige Richtung scheint mir auch die
Absicht zu sein, den Schulen auf freiwilliger Basis die Möglichkeit zur Umgestaltung zur
„Selbständigen Schule“ zu geben. In welcher Weise dabei tatsächlich substantielle staatliche
Kompetenzen an die Schule abgegeben werden, muss abgewartet werden. Ich habe allerdings
16
die Befürchtung, dass die Erweiterung der schulischen Autonomie mit traditionellen letztlich
auch obrigkeitsstaatlichen Gewohnheiten kollidiert und nicht ohne innerschulischen Widerstand durchgesetzt werden kann. Größere Autonomie der einzelnen Schule bedeutet auch
mehr Verantwortung aller dort arbeitenden Menschen, das bedeutet auch ein erhöhtes Engagement, und last but not least kann es meines Erachtens nur wirkungsvoll funktionieren, wenn
es mit größeren Weisungsbefugnissen der Schulleitungen verbunden wird – ob das aber angesichts
einer
weit
verbreiteten
Angst vieler Lehrkräfte auch vor einer funktionalen Zuständigkeits- und Entscheidungshierarchie durch eine gestärkte Schulleitung möglich ist, muss abgewartet werden. Hinzu kommt,
dass eine wirkliche Stärkung der Autonomie auch in curricularen Fragen, eingebunden werden muss in die Entwicklung von Kerncurricula, um in der schulischen Vielfalt und in den
dann noch stärkeren individuellen Profilen der Schulen die notwendige Einheitlichkeit in den
unterrichtlichen schulischen Kernbereichen zu sichern. Für die Hochschulen jedenfalls wird
es sinnvoll sein, möglichst schnell Ergänzungsstudienangebote im Bereich von Schul- und
Bildungsmanagement zu entwickeln, um Lehrkräfte und Schulleitungen besser als bisher auf
Leitungsaufgaben in autonomen Schulen vorzubereiten.
5.5 Veränderungen in der Lehrerausbildung
Ganz wichtig ist aber auch, dass die Lehrerbildung in der Universität aber auch in der zweiten
Ausbildungsphase zu einem neuen professionellen Selbstverständnis führt. Im wesentlichen
geht es auf allen Ebenen der Lehrerausbildung und Fortbildung darum, die pädagogischen
und didaktischen Kompetenzen der gegenwärtigen und zukünftigen Lehrkräfte so zu entwickeln, dass die Schüler mit höherer Motivation lernen und allen Beteiligten die Schule mehr
Spaß macht. Dazu gehören in der universitären Lehramtsausbildung auch die wissenschaftlichen Methoden, mit denen die Lehrkräfte an den Schulen die Wirksamkeit ihres Unterrichts
überprüfen können.
Für die Universitäten hat das weitreichende Konsequenzen. Es bedeutet nämlich, dass das
Verhältnis von Fachwissenschaft, Fachdidaktik und Grundwissenschaften neu bestimmt wird.
Die Lehrkräfte an allen Schulen, Schulformen und Schulstufen müssen sich als Vermittlungsexperten verstehen, als hochqualifiziertes Fachpersonal, das Lernprozesse so organisiert, dass
die Schülerinnen und Schüler mit Interesse, Freude und Erfolg die Voraussetzungen erwerben, die ihnen eine erfolgreiche Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erleichtern. In diesem
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Sinne ist auch das Motto meines Beitrages zu gemeint: „Kinder sind keine Fässer, die man
füllen muss, sie sind vielmehr wie Feuer, die angefacht werden müssen!“
5.6 Verbesserung des Bildungsklimas und Erhöhung der Bildungsausgaben
Die Leistungsfähigkeit eines Bildungssystem hängt von vielen internen und externen Bedingungen ab. Zu ihnen gehört auch das gesellschaftliche Umfeld. Gemeint ist damit die Art, in
der in einer Gesellschaft z. B. über Bildung geredet wird und das Ausmaß der Wertschätzung
das Bildung politisch, publizistisch und öffentlich zukommt. Dieses ist deshalb von großer
Bedeutung, weil es zum einen die Motivation derer beeinflussen kann, die im Bildungssystem
direkt oder indirekt handeln (Lehrkräfte, Eltern, Schüler, Politiker, Beschäftigte in der Administration). Es ist aber auch von Bedeutung, weil davon die Bereitschaft abhängen kann, notwendige Ressourcen für diesen Sektor bereit zu stellen und gegebenenfalls zu Gunsten von
Bildungsausgaben andere Prioritäten in den öffentlichen Haushalten zu setzen. Ich will hier
auf den ersten Aspekt gar nicht weiter eingehen und nur so viel sagen. Wir haben einen erheblichen Nachholbedarf, um in unserem Land ein positives Bildungsklima zu schaffen. Nur
wenn uns dieses gelingt, wird dem Bildungssystem die Bedeutung zukommen, die es in einer
modernen Dienstleistungsgesellschaft als zentrale Institution der Zukunftssicherung braucht.
Dazu gehört nicht nur eine bessere personelle und materielle Ausstattung der Schulen und
Hochschulen, dazu gehört auch die Art des Umgangs mit den Lehrkräften und Erzieherinnen
und Erziehern. Es ist schon erstaunlich, in welcher Weise in der Vergangenheit bis in die
höchsten Ebenen hinein, abwertend über diese Berufsstände geredet bzw. populistisch Stimmung gemacht wurde. Es ist mitunter auch schwierig zu akzeptieren, wie manche Eltern über
Lehrkräfte denken und reden und damit deren Autorität gegenüber den Schülern und Schülerinnen schwächen. Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass es auch deutliche Rückzugstendenzen bei Lehrkräften gibt, die von einer gelegentlich schwer nachzuvollziehenden Larmoyanz getragen werden.
Deutschland gehört zu den reichen OECD-Ländern, das gilt nicht nur für den privaten Bereich, das gilt auch für den Öffentlichen Sektor. Dennoch stehen wir im Hinblick auf die Bildungsausgaben im OECD-Vergleich eher bescheiden da. Die öffentlichen Ausgaben für Bildung betrugen 1998 in Deutschland 4,35 % des Bruttoinlandproduktes (BIP). Deutschland
steht mit diesem Anteil seiner Bildungsausgaben an 22. Stelle von insgesamt 30 Ländern.
Innerhalb der EU investieren nur Griechenland und Irland einen geringeren Anteil ihres BIP
in den Bildungsbereich. Wenn die öffentlichen Ausgaben für Bildungseinrichtungen ein Indi-
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kator dafür sind, welche Bedeutung Bildung in einem Land hat, dann ist dieses Ergebnis beunruhigend.
In der Erziehungswissenschaft herrscht weitgehender Konsens darüber, dass entscheidende
Voraussetzungen einer Bildungsgraphie in der Primarstufe liegen. Was hier versäumt wird,
lässt sich nur schwer in späteren Phasen der Schule und des weiteren Lebens ausgleichen.
Deshalb ist bei der Betrachtung der Bildungsausgaben von Interesse, wie die Prioritäten für
die verschiedenen Schulstufen gesetzt werden, insbesondere welche Bedeutung bei Bildungsinvestitionen der Grundschule bzw. Primarstufe zukommt.
Auch dieser Frage ist Gertrud Hovestadt für das Jahr 1998 statistisch nachgegangen. Sie
kommt zu folgenden Ergebnissen:

Im Bereich der vorschulischen Erziehung wird (für relativ wenige Kinder) relativ viel
Geld und mehr als in den meisten EU-Ländern ausgegeben (mit 4.648 Dollar liegt
Deutschland auf Platz 11 von 24 Ländern). Dabei darf aber nicht unerwähnt bleiben,
dass für diese Einrichtungen durch Gebühren mitfinanziert werden.

Deutlich sparsamer sind wir in Deutschland bei den Grundschülern. Mit durchschnittlich 3531 Dollar liegt Deutschland hier auf Platz 15 von 25!

Ein ähnliches Bild zeigt der Vergleich bei den Sekundarschülern. Mit 6.209 Dollar
liegt Deutschland auf Platz 14 von 25 Ländern und damit in der unteren Hälfte.

Ein wichtiger Indikator für die Prioritäten im Schulsystem ist auch das Verhältnis der
Ausgaben für den Primarbereich zum Sekundarbereich. In Deutschland werden durchschnittlich nur 57% der Mittel für die Grundschule ausgegeben, die in die Sekundarstufe investiert werden. Im Durchschnitt aller OECD-Staaten sind dieses 74%, in
Finnland sind es 85%, in Dänemark 86%, in Schweden 100% und in den asiatischen
Ländern, die besonders gut in der PISA Studie abgeschnitten haben, sind es ebenfalls
deutlich mehr als in Deutschland (Hovestadt 2002, Tabelle S. 10).
6. Einige abschließende Bemerkungen
Anderen Ländern - vor allem solchen mit integrierten Schulsystemen - gelingt es nach PISA
offensichtlich sehr viel stärker, die Vererbung sozialer Voraussetzungen (gemeint sind damit
die sozialen Benachteiligungen!) im und durch das Schulsystem abzubauen bzw. abzuschwä-
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chen und gleichzeitig zu einem höheren Leistungsniveau zu gelangen als in Deutschland trotz oder wegen seines hoch selektiven und gegliederten Schulsystems.
Dennoch darf dieses nicht zur unproduktiven Neuauflage ideologisch geführter bildungspolitischer Diskussionen führen – bei aller Leidenschaft, mit der wir in Deutschland über Bildungsfragen streiten! Es ist vielmehr angesagt, über die Schwächen und Stärken unserer
Schulen pragmatisch und ergebnisorientiert zu reden und zu handeln, ohne dabei allerdings
das große Ziel einer grundlegenden Strukturveränderung unseres Schulsystems aus dem Blick
zu verlieren. Hier müssen die dicken Bretter auch mit stumpfen Bohrern weiter bearbeitet
werden! Es lohnt sich mehr denn je, den Strukturplan zum Aufbau des deutschen Bildungswesens, wie ihn 1970 der Deutsche Bildungsrat verabschiedet hat, vor dem Hintergrund der
PISA Ergebnisse neu zu diskutieren! Gleichwohl: auch wenn PISA zeigt, dass integrierte Systeme in vieler Hinsicht sehr viel leistungsfähiger sind als das gegliederte Schulsystem in
Deutschland, für solche radikale Veränderungen der Grundstruktur des Schulsystems scheint
bei uns zur Zeit kein politischer Wille vorhanden zu sein. Solange sich dieses nicht ändert und das kann in der föderativen Bundesrepublik mit ihren 16 Bildungs- und Schulministerien
lange dauern - muss deshalb unterhalb der Ebene der großen schulstrukturellen Veränderung
nach Wegen gesucht werden, wie dennoch die Leistungsfähigkeit unseres Schulsystems und
damit unserer Schülerinnen und Schüler verbessert werden kann. Allerdings: wenn es schon
keine gravierende strukturellen Maßnahmen in Richtung Schaffung integrativer Schulsysteme
gibt, dann sollte auch vermieden werden, den Schritt zurück zu machen, wie er beispielsweise
in Niedersachsen mit der Abschaffung der Orientierungsstufe beschlossen worden ist. Unterhalb der großen Entwürfe gibt es aber auch oder sogar vorrangig auf der Ebene mittlerer Lösungen viel zu tun. Auf Überlegungen bis zum Ende der Grundschulzeit durch die Stärkung
der Kindergärten und anderer vorschulischer Einrichtungen habe ich schon hingewiesen. Ich
stimme Klaus Klemm zu, der in einem Artikel in der Frankfurter Rundschau gesagt hat
„Deutschlands Schulen können zwar auch in gegliederten Strukturen deutlich besser werden,
ob sie aber international an führende Länder anschließen können, ist angesichts der strukturellen Unbeweglichkeit Deutschlands mehr als fraglich“.
Finnland hat im Rahmen der PISA Studie ganz hervorragend abgeschnitten und ist gleichsam
Europameister geworden. Dieses Ergebnis ist für uns in Deutschland deshalb besonders interessant, als es sich mit Finnland um ein Land handelt, dass in der politischen und kulturellen
Tradition Europas steht und wir keine Erklärungen in den kulturellen und philosophischen
Differenzen z. B. gegenüber den asiatischen Ländern suchen müssen. Besucher finnischer
Schulen bzw. des finnischen Zentralamtes für Unterrichtswesen fragen immer wieder, warum
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die Finnen bei der PISA Studie so gut abgeschnitten haben und wo die Ursachen dafür liegen.
Einmal abgesehen davon, dass viele Finnen ebenso überrascht sind von ihrem guten Abschneiden, eine wichtige Erklärung wird weitgehend übereinstimmend in ihren Gesamtschulen gesehen, weil in ihnen die Schüler einer Altersgruppe gemeinsam nach demselben Lehrplan lernen. Ausdrücklich positiv wird auch die große Autonomie der finnischen Schulen hervorgehoben. Die Schulen dürfen einen Teil der angebotenen Fächer selbst bestimmen, die
Lehrer machen den Lehrplan selbst, der Schulleiter muss nur dafür sorgen, dass die Finanzierung im vorgegebenen Rahmen bleibt. Zur Autonomie gehört auch, dass die Lehrkraft ihre/seine Schule selber aussuchen darf. Der Direktor des finnischen Zentralamtes für Unterrichtswesen Jukka Sarjala verweist auf einen großen Vorteil solcher integrierter System wie
die Gesamtschule: „Wir haben keine Möglichkeit, die Schüler an andere Schule abzuschieben,
wenn wir sie für zu schlecht halten.“ Daraus folgt, dass die Lehrer aufgefordert sind, sich um
die schlechten Schüler besonders zu bemühen. Noch bedeutsamer scheint mir aber sein Hinweis darauf zu sein, dass in seinem Land von keiner Schule Schüler ausgeschlossen oder herabgestuft werden dürfen. „Es darf keine schlechten Schulen für schlechte Schüler geben, denn
so erst werden schlechte Schüler produziert!“ (DIE ZEIT 2002. S. 30). Vielleicht liegt in dieser pädagogischen, humanitären und bildungspolitischen Grundhaltung ein wesentlicher Erklärungshintergrund für das insgesamt sehr gute Abschneiden der finnischen und für das im
Vergleich dazu schlechte Abschneiden der deutschen Schülerinnen und Schüler. Es scheint in
der Tradition der deutschen weiterführenden Schulen verankert zu sein, dass sie ihre Schülerinnen und Schüler eher unwillig so akzeptieren wie sie sind, dass vorrangig gefragt wird, „
ob die Schüler für die Schule (wirklich, WDS) geeignet sind, und nicht, wie eine geeignete
Schule für die Kinder aussehen würde“ (Kahl. 2002. S. 9). Solange wir an den weiterführenden Schulen Lehrkräfte haben, die glauben, dass sie selber zwar an ihrer Schule richtig sind,
leider aber nicht ein Teil ihrer Schüler, solange sie also davon ausgehen, dass sie die falschen
Schüler an ihrer Schule haben und diese eigentlich gar nicht hierher gehören, ist auch der Gedanke eher fremd, dass sie jeden Schüler seiner Individualität entsprechend fördern können
und fördern müssen. Notwendig scheint mir daher eine neue „Philosophie des Unterrichtens“
(Brügelmann/Heymann 2002. S. 14) zu sein, bei der der Gedanke des Förderns wichtiger ist
als der der Selektion. Wer nicht die Schülerinnen und Schüler an seiner Schule in seinem Unterricht in seiner Klasse willkommen heißt, sie als die Subjekte seiner beruflichen Anstrengungen betrachtet, wer nicht den pädagogisches Grundsatz verinnerlicht hat, dass dem
Schwächeren geholfen werden muss, seine Schwächen auszugleichen und gleichzeitig der
Begabte gefördert und gefordert werden muss, wer schließlich den Leistungsschwächeren
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signalisiert, dass sie eigentlich nicht dazu gehören, der trägt Mitverantwortung für die Ergebnisse der PISA Studie!
Ich möchte noch einmal auf Finnland verweisen. Ein wichtiger Grundsatz der finnischen Pädagogik lautet: Kinder dürfen in der Schule nicht beschämt werden! (DIE ZEIT. 2002. S. 30)
Dass ein solcher gelebter Grundsatz auch zu einer hohen Leistungsfähigkeit des Schulsystems
führen kann, zeigt uns die PISA Studie. Sie zeigt darüber hinaus, dass Schulen bzw. ihre
Schüler dann besonders leistungsfähig sind, wenn das pädagogische Handeln von Leistungsvertrauens, Ermutigung zum eigenen Können und einer starken Gemeinschaftsorientierung
bestimmt wird. Allen Schülern Anerkennung zu geben und ihr Zugehörigkeitsgefühl zur
Klasse und zur Schule zu stärken, sind die besten Voraussetzungen, ihre soziale und kognitive
Leistungsfähigkeit zu stärken. So können offensichtlich auch die Schwachen wirkungsvoller
stark gemacht und die Starken in ihren Stärken nachdrücklicher gefördert werden, als in unserem auf Selektion fixierten Schulsystem. Dazu gehört auch die Frage nach der Bewertung von
Leistungen durch Schulnoten und Versetzungen. PISA liefert viele Beispiele, dass auch ein
später Einsatz von Noten (in Schweden wird erst ab der 8. Klasse benotet) zu überdurchschnittlichen Leistungen führen kann und Kooperation wirkungsvoller sein kann als früh einsetzendes Konkurrenzverhalten. Das wird im übrigen auch in der Hamburger LAU Studie
bestätigt, in der sich zeigt, dass sich die Schulleistungen von Grundschulkindern nicht deshalb
verschlechtern, weil statt der herkömmlichen Zensuren Lernentwicklungsberichte erstellt
werden (Lehmann u.a. 1997. S. 81 f.).
Allerdings warne ich davor, die Lösungen der Probleme, die PISA uns aufgezeigt hat, allein
im Pädagogischen oder im Bildungspolitischen zu suchen. Die Leistungsfähigkeit eines
Schulsystems gerade auch im Hinblick auf den Zusammenhang von sozialer Herkunft und
Schulerfolg, hängt vermutlich auch in einem beachtlichen Maße von der Sozialstruktur der
Gesellschaft ab. Je stärker diese durch Ungleichheit gekennzeichnet ist, je heterogener und
zerrissener sie ist, desto geringer dürfte auch der Einfluss der Schule gegenüber der sozialen
Herkunft sein. Wir haben in Deutschland eine Sozialstruktur mit einer großen sozialen Ungleichheit, wir haben auf der anderen Seite mit Ländern wie Finnland und Schweden sehr viel
homogenere Gesellschaften, in denen die Schule die Herstellung von gleichen Bildungschancen wirkungsvoller moderieren kann, als bei uns.
Gleichwohl, ich hoffe sehr, dass Isabell von Ackeren nicht recht behält mit ihrer Befürchtung,
dass Deutschland seinen „verfestigten Modernitätsrückstand“ nicht aufholen wird und „den
Anschluss an den Modernisierungszug der entwickelten Länder (weiterhin) verpasst“ (van
Ackeren. 2002. S. 172), weil der Strukturkonservatismus das politische Denken und Handeln
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dominiert: „Das große Umsteuern in Deutschlands Schulen soll und wird sich wohl in den
bestehenden Strukturen , mit den begrenzten Finanzmitteln und mit Lehrenden vollziehen, die
das konstatierte Elend nicht haben verhindern können und die, wenn sie neu in den Schuldienst eintreten, so wie ihre Altvorderen ausgebildet wurden“ (van Ackeren. 2002. S. 173).
Ich bin da etwas optimistischer.
Die KMK hat mit den von ihr herausgegebenen Handlungsfeldern erste konkrete Ansätze
einer Aufarbeitung der PISA Ergebnisse eingeleitet (Schweizer 2002. S. 148f). Auch wenn
dabei die Systemfrage ausgeblendet bleibt, es sind m. E. Schritte in die richtige Richtung .
Vielleicht führen sie pädagogisch weiter als eine hoch geladene bildungspolitische Diskussion
über die Grundstruktur des Bildungssystems in Deutschland.
Eine allerletzte Anmerkung möchte ich machen. So beunruhigend die Ergebnisse der PISA
Studie für Deutschland auch sind. PISA hat eine zumindest implizite Botschaft, die für die
Bildungsdiskussion in Deutschland konstruktiv und versachlichend wirken kann: Die Position
von den angeborenen Begabungen, die durch Förderungskonzepte in der Familie, der Schule
und dem Unterricht kaum verändert werden können, wird deutlich als theoretischer Anachronismus entlarft. PISA zeigt, dass Leistung vor allem ein Ergebnis von Anstrengung und Leistungsförderung im Rahmen von Lernprozessen ist!
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