Thomas Jahnke & Wolfram Meyerhöfer (Hg.) (2006) Pisa & Co. Kritik eines Programms. Hildesheim: Franzbecker. Zusammenfassungen der Beiträge Uwe Gellert, Universität Hamburg Mathematik „in der Welt“ und mathematische „Grundbildung“. Zur Konsistenz des mathematikdidaktischen Rahmens von PISA In PISA wird suggeriert, der Konstruktion von Testaufgaben und der Interpretation von Ergebnissen stünde ein stabiles und in der Wissenschaftsgemeinschaft konsensuelles mathematikdidaktisches Theoriegerüst zu Verfügung: Die Testaufgaben operationalisierten eine alternativenlose Normierung mathematischer Grundbildung und diese leite sich unmittelbar aus vermeintlich unstrittigen Fundamenten der Mathematikdidaktik ab. Inwieweit die Glieder dieses Gerüsts zueinander passen, sich ergänzen und nicht in Widerspruch miteinander geraten, wird in diesem Artikel nachgegangen, und zwar mit Blick auf die fraglich erscheinende Kompatibilität der Arbeiten Hans Freudenthals zu einer mathematikdidaktischen Phänomenologie und der Vorstellung einer „mathematischen Grundbildung“ im Rahmen von PISA. Hans-Dieter Sill, Universität Rostock: PISA und die Bildungsstandards Der Artikel leistet eine Analyse der wissenschaftlichen und bildungspolitischen Hintergründe und Desiderata der aktuellen Bildungsstandards in Deutschland. Ausgehend von Bezügen zur New-Math werden die Rolle der KMK und des BMBF bei der Einführung von Bildungsstandards untersucht. Es werden der Stand und die Methoden der Curriculumforschung in der BRD und der DDR eingeschätzt und die Standards des NCTM in Beziehung zu den Bildungsstandards gesetzt. Die aktuellen Bildungsstandards für den mittleren Schulabschluss im Fach Mathematik sowie die „neue Aufgabenkultur“ werden kritisch analysiert und Perspektiven einer fundierten Weiterentwicklung angedeutet. Peter Bender, Universität Paderborn Was sagen uns PISA & Co, wenn wir uns auf sie einlassen? Der Autor setzt sich mit PISA, TIMSS und IGLU auseinander und stellt mehr oder weniger versteckte Ungereimtheiten, unsaubere Argumentationen, gewagte Interpretationen und offensichtliche Missbräuche dar. Er argumentiert an den Konstrukten und Daten der Studien selbst. Eva Jablonka, Freie Universität Berlin Mathematical Literacy: Die Verflüchtigung eines ambitionierten Testkonstrukts in bedeutungslose PISA-Punkte Der Beitrag untersucht, ob die in PISA-Punkten ausgedrückte Mathematikleistung als empirische Evidenz für das im Theorierahmen der Studie definierte Konstrukt der Mathematical Literacy betrachtet werden kann. Wie wurde aus der Nominaldefinition, durch die das Konstrukt der Mathematical Literacy festgelegt ist, die Batterie der Testaufgaben entwickelt oder ausgewählt? Ist der Theorierahmen konsistent? Lässt sich die benutzte Skalierung, die bestimmte Annahmen über die Struktur der Kompetenz unterstellt, die damit sinnvoll gemessen werden kann, rechtfertigen? Es stellt sich heraus, dass globale und vage Definition der Mathematical Literacy beim Versuch der Operationalisierung dieses Konstrukts in der Form von PISAAufgaben ihre Bedeutung verliert. Die Skalierung mit einem Modell aus der probabilistischen Testttheorie erweist sich als unpassend. Die Annahmen die das benutzte Modell impliziert, sind weder für die Art der Aufgaben noch für die Qualität der im Theorierahmen beschriebenen mathematischen Grundbildung naheliegend. In PISA wird das Modell jedoch trotz theoretischer und empirischer Unstimmigkeiten beibehalten. Die im mathematischen Leistungstest ermittelten PISA-Punkte gestatten folglich höchstens unverbindliche Interpretationen und lassen keine differenzierten Schlussfolgerungen über Zusammenhänge zu anderen in der Studie erhobenen Daten zu. Eva Jablonka, Freie Universität Berlin Mathematical literacy: the volatilisation of an ambitious construct into meaningless PISA-scores The chapter investigates whether the student scores for mathematical literacy in PISA can be taken as empirical evidence of the construct described in the theoretical framework of the study. Given the nominal definition of mathematical literacy, how were the test items developed or chosen? Is the theoretical framework consistent? Is the use of the scaling model justified, which implies assumptions on the structure of the competency to be measured? It emerges that the global and vague definition of mathematical literacy loses its meaning through its operationalisation in the form of PISA test items. The scaling model is based on assumptions, which are not suggested either by the definition of the construct or by the type of items used. However, in PISA the model is maintained despite its theoretical and empirical inconsistencies. Consequently, the student scores have no well-founded interpretation and do not allow for drawing conclusions about interrelationships with other data generated by the study. Volker Hagemeister, Berlin Kritische Anmerkungen zum Umgang mit den Ergebnissen von PISA In diesem Text wird gängigen bildungspolitischen und didaktischen Schlussfolgerungen, die aus PISA und anderen Vergleichsuntersuchungen gezogen wurden, widersprochen. Der Autor argumentiert für geringere Klassenstärken, insbesondere für Kinder, denen es an Bildungsunterstützung von zu Hause mangelt. Er plädiert für die Entlastung der Lehrer von Therapien spezifischer Lernbehinderungen und mahnt Veränderungen der Prüfungsanforderungen bei Schulzeitverkürzung an. Er spricht sich gegen zentrale Prüfungen mit Notenrelevanz aus und fordert eine staatlich geförderte Ganztagsbetreuung vorrangig für solche Kinder, die dieses Angebot aus sozialen Gründen benötigen. Er schlägt eine gezielte sprachliche Förderung von Migranten durch spezialisierte Lehrer parallel zur regulären Schule vor. Schlagwörter: Klassenfrequenz; Lehrerrolle; Vorverlegung des Einschulungsalters; Verkürzung der Schulzeit; Zentrale Prüfungen; Förderung von Migranten Christine Keitel, FU Berlin Der (un)heimliche Einfluss der Testideologie auf Bildungskonzepte, Mathematikunterricht und mathematikdidaktische Forschung Der Beitrag zeigt zunächst anhand der Darstellung der Geschichte des Testens, dass Testverfahren zwar kontinuierlich formale Verfeinerungen und enorme technische Verbesserungen und Vereinfachungen – nicht zuletzt durch den Computereinsatz – erhielten, dass aber die Grundannahmen des Testens keine substantielle Entwicklung oder Veränderung erfahren haben; die impliziten Vorannahmen und Vorurteile sind dieselben, die fehlenden theoretischen Begründungen und auffälligen Widersprüche sind nicht beseitigt, sondern nur versteckter, die funktionalen Zwecke, denen es diente und immer noch dient, sind die gleichen. Die Vorannahmen und die sozialen Dimensionen des Testens werden diskutiert und die Folgen für den Mathematikunterricht aufgezeigt. Das Problem wird für das PISA-Konstrukt der „Mathematical literacy“ spezifiziert. Thomas Jahnke, Universität Potsdam Zur Ideologie von PISA & Co Der Autor diskutiert PISA und andere Vergleichsuntersuchungen kritisch als positivistische, defizitäre Weltzugänge ohne Erkenntnisgewinn. Er stellt theoretische und methodische Fehler bei TIMSS und Pisa dar und setzt sich mit Motivlagen der beteiligten Forscher auseinander. Er setzt den Begriff der mathematischen Bildung (reflektierendes Betreiben von Mathematik als formale Erkenntnishilfe und prozedurales Instrument) gegen Bildungsstandards und plädiert gegen eine Fokussierung auf ein Diktat der Brauchbarkeit. Wolfram Meyerhöfer, Universität Potsdam PISA & Co als kulturindustrielle Phänomene Großtests werden in industrialisierter, arbeitsteiliger Produktion produziert. Das theoretische Konzept zur Kulturindustrie ermöglicht uns, Phänomene zu verstehen, die durch diese industrialisierte Arbeitsweise entstehen: Entfremdung der Wissenschaftler von ihrem Produkt, Primat des Gelingens vor der Erkenntnis, technologische Rechtfertigung von Halbbildung, Produktpräsentation statt Debatte, aggressiver Umgang mit Kritik, eingeschränkte Lernfähigkeit des Systems. Das Phänomen der Länderrangreihen wird einer separaten Analyse unterzogen, dabei erschließt sich das Primat des Voyerismus vor Erkenntnis. Wolfram Meyerhöfer, Universität Potsdam Testen, Lernen und Gesellschaft. Zwischen Autonomie und Heteronomie Schule bewegt sich im Spannungsfeld von Autonomie und Heteronomie. Sie unterliegt dem Anspruch, die Autonomie des Schülers als gesellschaftlichem Subjekt zu entwickeln, ihn aber ebenso in heteronomes Verhalten einzuführen. In diesem Beitrag wird dem Problem nachgespürt, dass Tests schulisches Sein und Tun in Richtung Heteronomie verschieben, indem sie Autonomie beschädigen. Dabei erzeugt die strukturelle Asymmetrie zwischen Tester und Getestetem eine Beschränkung der Autonomie sowohl des Getesteten als auch des Testers. Tests werden als Ersatz für herkömmliche Bildungszertifikate diskutiert, es werden Prämissen und Folgen des Testens aufgezeigt, der Unterschied zwischen Testaufgaben und unterrichtlichen Aufgaben wird analysiert.