Nationalerziehung im Kaiserreic

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Nationalerziehung im Kaiserreich
Diese "friedlichen" Jahre des 2. Reiches und ihr Einfluss auf die Nationalerziehung sind
Hauptgegenstand unserer Betrachtung. In dieser Zeit wurde das kleindeutsche Reich
durch Preußen geprägt und zur kontinentalen Militärmacht. Was gesamteuropäisch
eine neue Machtkonstellation bedeutete, bedeutete innenpolitisch die Entwicklung
eines nationalstaatlichen Bewußtseins, dessen Folgen sich 1914 zeigten1.
Für Bismarck war die Bildung des Nationalstaates ohnehin nur Instrument, um den
preußischen Staatsgedanken nach innen und außen durchzusetzen2. Noch am 3. Sept.
1870 im Hauptquartier Doncherie konnte der damalige Kronprinz Friedrich Wilhelm in
einem Gespräch mit Bismarck nur bedingte Zustimmung zu der Reichsgründung
feststellen: „Bei der Unterredung mit ihm ... kam zutage, daß er den Plan hegte, das
Elsaß nicht wieder herauszugeben, ..., dasselbe vielmehr unter deutscher Verwaltung
für den Bund oder das Reich zu behalten. Die Errichtung des Reichs selbst wurde nur
in allgemeinen Umrissen angedeutet“.3
Diese Durchsetzung schaffte zahlreiche Gegner:
1. Die Besiegten der Ereignisse zwischen 1866 und 1871, insbesondere folgende
Parteiungen: die Welfen, die Bayrischen Patrioten4, anfangs Schleswig-Holstein, die
Kurhessen, vertreten durch die Hessische Rechtspartei, die Altbraunschweigische
Partei, die deutsch- mecklenburgische Rechtspartei, die Sachsen - allesamt konnten
sich wohl mit dem Reich, nicht aber mit Preußen abfinden.
1 Vgl. Th. Schieder, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat. Köln1961. S. 7
2 Vgl. ebda., S 22.,
3 H.O. Meisner (Hrsg.): Kaiser Friedrich III. Das Kriegstagebuch von 1870/71. Berlin und
Leipzig 1926, S. 103
4
Anmerkung zur Haltung Bayerns bei der Reichsgründung
Nicht nur , daß der bayrische Ministerrat sich bereits am 9. Sept. nach der Schlacht von
Sedan für einen raschen Friedensschluß mit Frankreich einsetzte und Annexionenablehnte (vgl.
Ücker, S. 65), noch am 11. Jan. 71 empfahl der vorberatende Ausschuß des bayr. Landtages
mit 12 gegen 3 Stimmen dem Hohen Hause, das ganze Versailler Vertragswerk abzulehnen
und neue Verhandlungen zu fordern. Die darauf folgende Redeschlacht im Plenum des
bayrischen Lantages dauerte 10 Tage! Prophetenhaft erscheinen nachträglich Beiträge von
Abgeordneten der patriotischen Partei, die damals im Zeichen der militärischen und
wirtschaftlichen Macht des Bismarckreiches als "Querulanten-und engstirniges
Partikularistentum" abgetan und in Vergessenheit gebracht wurden.
Der Abgeordnete Dr. Ruland sagte damals: 'Diese Verträge sind nicht anderes, als die
Grundlage einer absolutistisch- militärischen Hegemonie." Dr. Greil wünschte, "es möge
diesem Prinzip der Nationalität von unserer Seite so sehr als möglich entgegengetreten
werden. Dadurch erwerben wir uns ein Verdienst nicht
nur um Bayern, sondern um Deutschland, um die ganze zivilisierte Welt." Dr.Kraetzer :'
Die Annahme der Verträge führt sicher zum Einheitsstaat. Wohin führt die Gründung eines
solchen Staates? Zu Kriegen, zur Bekämpfung anderer Staaten! ... Dr. Pfahler kritisierte die
preuBische Politik seit Friedrich II. und
warnte:'Drer rastlose Zerstörer des Reiches kann nie und nimmer der Neubegründerdes
Reiches sein! Nicht das Deutsche Reich'sondern zwei Drittel Deutschlands unter dem
preußischen Hut, das ist es, was die Verträge anstreben, und nicht einmal das Kaisertum, das
auf einer sittlichen Idee ruhte, sondern den Cäsarismus." Und als letzter Redner sah Dr. Josef
Edmund Jörg voraus: "Dieses Volk ist für den Frieden geboren, es ist den Frieden gewohnt,
und es wird unendlich bitter fühlen, was es heißt, das dienende Glied eines großen
Militärnationstaates zu sein."(S. 69 f.) Doch am 21. Jan. 1871 wurde das Versailler
Vertragswerk mit 102 gegen 48 Stimmen, zwei Stimmen mehr als die erforderliche
Zweidrittelmehrheit, angenommen.
2. Die Sozialisten mit internationalistischer Ausrichtung, allerdings ab 1890, latent
nationalistisch.
3. Fremdnationale, nichtdeutsche Gruppen, die aus dem Nationalitätenprinzip heraus
Widerstand leisteten: Die Nordschleswiger, die Einwohner der preußischen
Ostprovinzen und die Elsaß-Lothringer. Außerdem, entrüstet über den Verlust
Österreichs, der Katholizismus.
Diesen mächtigen Gegner wollte Bismarck als ersten auf die Knie zwingen,
was ihm bekanntlich mißlang.5 Selbst die konservative preußische Partei konnte sich
erst ab 1876 zu einer bedingten Anerkennung des Nationalstaates entschließen6 Erst
ab 1878 mit dem Rechtsruck bei den Wahlen kann von einer Anerkennung der
Bismarckschen Politik durch die Parteien der Rechten gesprochen werden. Bis dahin
war der Reichskanzler in ausgesprochenem Maße an die Nationalliberalen gebunden,
die faktisch Regierungspartei war. Das Jahrzehnt der nationalliberalen Vorherrschaft
von 1867 bis 1878 stand deshalb im Zeichen des Kompromisses. Er läßt sich auf die
Formel bringen, daß die Nationalliberalen den Kanzler in der Außenpolitik
unangefochten walten ließen und dafür in der Innenpolitik einen beträchtlichen
Spielraum erhielten, verbürgt durch eine liberale Personalpolitik für wichtige
Positionen (Fenske, S. 18)
Mit den Wahlen von 1878 kam es dann auch zur innenpolitischen Wende,
insbesondere in der Wirtschaftspolitk (Schutzzollpolitik), damit verbunden aber auch
ein Abbau der Spannungen zur katholischen Kirche. (Ende des Kulturkampfes) und
eine Entmachtung der Nationalliberalen Partei, die von nun an selbst immer
konservativer wurde (Vgl. Fenske, S. 23) Der deutsche Liberalismus war nun
endgültig geschlagen.
Auch die folgenden Wahlen brachten Mitte-Rechts-Mehrheiten. Offensichtlich war es in
den ersten zehn Jahren nach Bestehen des Reiches gelungen, den deutschen Wähler
mit den kleindeutschen Staat preußischer Prägung zu versöhnen. Nachdem es den
Nationalliberalen anfänglich gelungen war, die liberale Staatsidee in zahlreiche
Gesetzeswerken einzubringen (Vgl. Fenske, S. 19), führten ab 1878 die nun
folgenden konservativen Mehrheiten zu einen Zementierung des Konstitutionalismus
in Deutschland und zu einem Abweichen von den verfassungspolitischen
Entwicklungen anderer Staaten Westeuropas.
Schieder sieht für die Zeit nach der Reichsgründung eine Wechselwirkung a) der
Ausbildung eines kleindeutschen Nationalgefühls, b) des Verschwindens des alten
Großdeutschentums nach 1866 und 1871 und c) der Entstehung einer Bewegung des
Übergangs vom Nationalstaat zum nationalen Imperialismus. in den 80er und 90er
Jahren, die neuartige, aggressive und dynamische Gedanken des Imperialismus und
des Prestigedenkens unter Vermischung völkisch-nationaler und imperialistischer Ziele
zu einem bestimmenden Faktor des Reiches machte.7
Symbole dieser allgemeinen Entwicklung können gesehen werden in dem
Ringen um Reichsflagge, Nationalhymne, Denkmäler und in den Nationalfeiertagen.
Zwar wurde die Symbolkraft geschwächt, weil das dynastische Prinzip und die
Traditionen des Hegemonialstaates Preußen einer allgemeinen Anerkennung
entgegenstanden. So gab es keine offizielle Nationalhymne und keine einheitliche
Reichsflagge. Auch die Auswahl der nationalen Denkmäler spiegelte die Unsicherheit
5 Vgl. Schieder, a.a.O., S. 11 - 17
6 Vgl. ebda., S. 12
7 Vgl. Schieder, a.a.O., S. 40 ff.
in der nationalen Frage wider.8
An der Institutionalisierung und Verbreitung solcher Symbole, an der Anerkennung im
Volke, lassen sich Entwicklungen studieren. Auch ist ihnen die erzieherische Wirkung
nicht absprechen! Besonders deutlich wird das am ersten Nationalfeiertag, den sich
das neugegründete Reich schuf: dem Sedantag. Wir werden sehen, dass dieser
Feiertag gerade in den Schulen eine wichtige Rolle spielte.
Auf dem Gebiete der Kultur hatte sich mit der Reichsgründung die geistigen Gehalte
des deutschen Idealismus erschöpft . Die humanistisch-ästethische Kultur konnte
nicht bewahrt werden. Die größten kulturellen, deutschsprachigen Leistungen
mussten außerhalb des reichsdeutschen Raums festgestellt werden, so z.B. Keller,
Meyer, Bruckner, Grillparzer, R. Wagner u.a.m.. Fontane als Dichter der Preußen
nahm eine eigentümliche Stellung zwischen den Fronten ein (Fenske, S. 29) Auf
wissenschaftlichem Gebiete kam es zu einem Zusammengehen von Staat und
Wissenschaft. Ab 1878 wurden' die Gefahren einer allgemeinen Tendenz zur
Nationalisierung deutlich: ein bisher nicht dagewesener wissenschaftlicher
Chauvinismus wurde beobachtet: Preußen übernahm die Führung in der
Wissenschaftspolitik - Schieder konstatiert einen Rückgang des deutschen
Nationalcharakters als Gefahrenquelle: den deutschen Chauvinismus.9 Die
Schulverhältnisse änderten sich.
Die deutschen Schulverhältnisse waren ein getreues Spiegelbild der deutschen
Zustände. Besonders verhängnisvoll war die Reproduzierung des preußischen
Untertanengeistes auf das Erziehungssystem. „Spät und umso totaler zog der
Nationalismus in die Klassenzimmer ein. ... Es ist doch bemerkenswert, daß andere
Völker mit ihren Schulen – und ihren Pädagogen – nicht annähernd so viel Ärger
gehabt haben wie wir. Den Beweis liefert die deutsche Literatur. Die Fülle des
einschlägigen Stoffes ... gibt Aufschluß über die Geschichte des deutschen
Erziehungswesens und über die Beschleunigung, mit der es sich in ein Sackgasse
verrannte 10. „Was die Schriftsteller unseres Jahrhunderts über Schule und Lehrer
geschrieben haben, scheint zum großen Teil von Haß diktiert, von unüberwindbarer
Abscheu – eine erschreckende Bilanz. ... Nach allen zeitgenössischen Zeugnissen
geben sie .. ein gutes Bild des preußisch-deutschen Obrigkeitsdenkens im
Erziehungssystem.“ Die Lehrer waren nach Auskunft der Biographen „Chauvinisten“,
„skurrille Narren“, „arme Geistesgestörte“, „pathologische Sadisten“ oder gar alles
zusammen.11
Bis in die Zeit zwischen 1875 und 1890 noch häufig Schulhumoreske, Episode der
Autobiographie oder des Entwicklungsromans, erobert sich das Schulthema mit Beginn
des Naturalismus und Aufkommen der Tiefenpsychologie (Arno Holz, Johannes Schlaf,
Papa Hamlet 1889) die Literatur, zeigt die Leiden der Schüler, von denen etwa ab 1902
in den Romanen und Erzählungen immer mehr in den Tod gehen, so unerträglich war
der Schulbetrieb geworden. Der stumpfsinnige Drill in der Schule führte zu einem
Zustand innerhalb der Klasse, der Kameradschaft auschloß und Feinseligkeit erzeugte
12
8 Vgl.
9 Vgl.
10 Vgl.
11 Vgl.
12 Vgl.
ebda., S. 72 ff.
ebda.
Martin Gregor-Dellin, Deutsche Schulzeit, S. 11 f.
ebda. , S. 16 f.
ebda.
Der hier skizzierte grundlegende Wandel auf dem Gebiet der Schule begann sich Ende
der siebziger Jahre in Deutschland zu vollziehen. In ihm löst eine jüngere Generation
die der Reichsgründung ab, die noch selbstverständlich getragen war von der Tradition
und den Anschauungen des Neuhumanismus und der deutschen Klassik. Es ist jenes
Neupreußentum, das die weitere Entwicklung bestimmt, das, befangen in dem
Glauben, das Reich sei nur durch Blut und Eisen geschaffen, die reine Macht
überbewertet und verabsolutiert, meisterhaft dargestellt von Thomas Mann in den
Buddenbrooks:
“Dieser Direktor Wulicke war ein furchtbarer Mann. Er war der Nachfolger des jovialen und
menschenfreundlichen alten Herrn, [...] der bald nach dem Jahre einundsiebzig gestorben war.
Damals war Doktor Wulicke, bislang Professor an einem preußischen Gymnasium, berufen
worden, und mit ihm war ein anderer, ein neuer Geist in der Alten Schule eingezogen. Wo
ehemals die klassische Bildung als ein heiterer Selbstzweck gegolten hatte, den man mit Ruhe,
Muße und fröhlichem Idealismus verfolgte, da waren nun die Begriffe Autorität, Pflicht, Macht,
Dienst, Karriere zu höchster Würde gelangt, und der ‘kategorische Imperativ unseres
Philosophen Kant’ war das Banner, das Direktor Wulicke in jeder Festrede bedrohlich entfaltete.
Die Schule war ein Staat im Staate geworden, in dem preußische Dienststrammheit so
gewaltig herrschte, dass nicht allein die Lehrer, sondern auch die Schüler sich als Beamte
empfanden, die um nichts als ihr Avancement und darum besorgt waren, bei den Machthabern
gut angeschrieben zu stehen ...” 13
Die industrielle und ökonomische Entwicklung des Reiches in den 80'er Jahren, die
zunehmende Verstädterung, der wachsende Einfluß der Sozialdemokratie schufen
Fakten, denen sich auch das konservative Militär nicht entziehen konnte. Einerseits
war die Zahl der diensttauglichen Rekruten auf grund der schlechten gesundheitlichen
Bedingungen gesunken, andererseits gab es nach dem gescheiterten Sozialistengesetz
keine Möglichkeit, die Armee vor dem Einfluß der Sozialdemokratie freizuhalten.14 Die
imperialistischen Vorstellungen, die mit Kaiser Wilhelm II. offizielle Politik wurden,
waren aber nur durch ein noch stärkeres Militär durchzusetzen.
Am 16.6.1888, einen Tag nach seinem Regierungsantritt, hielt der neue Kaiser
Wilhelm II eine Rede an das Kunstpersonal der Königlichen Schauspiele und
bezeichnete Schule und Theater als seine Waffen15 Bereits am 1.5.1889 gab es einen
Erlaß von ihm, der Grundlage für die Verhandlungen über Fragen des höheren
Unterrichts auf der Berliner Schulkonferenz vom 4. - 17.Dezember 1890 werden
sollte: Darin hieß es:
„Schon seit längerer Zeit hat mich der Gedanke beschäftigt, die Schule in ihren einzelnen
Abstufungen nutzbar zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer
Ideen entgegenzuwirken. In erster Linie wird die Schule durch Pflege der Gottesfurcht und der
Liebe zum Vaterlande die Grundlage für eine gesunde Auffassung auch der staatlichen und
gesellschaftlichen Verhältnisse zu legen haben.“ 16
Vom Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal- Angelegenheiten wurden
vom 4. bis zum 17. Dezember 1890 Teilnehmer aus verschiedenen politischen und
gesellschaftlichen Bereichen zu "Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts"
nach Berlin eingeladen. In Reaktion auf die Ordre Wilhelms II. vom 1.5.1889, in der
13 Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Berlin 1931, S. 694
14 Von den gemusterten Wehrpflichtigen waren 1888 61,6 %, 1889 56,6 % als tauglich
befunden. Vgl. Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts- und MedizinalAngelegenheiten. Berlin 1891, S. 440
15 Vgl. A. Mathes (Hrsg), Reden Kaiser Wilhelm II, München 1976, S. 64 f.
16 Erlaß Kaiser Wilhelm II vom 1.5.1889. In: Verhandlungen. S. 3-5
dieser das Staatsministerium auffordert, "bestimmte Vorschläge zu machen",
erörterten 43 Personen den neuen politischen Kurs. Dazu gehörten 7 Professoren und
Oberlehrer, 13 Gymnasialdirektoren, Ministerialkomissare, Offiziere des
Kriegsministeriums, der Hofprediger, der Abt zu Loccum, Pastor v.
Bodelschwingh und Fabrikbesitzer.
In seiner Rede zur Eröffnung der Konferenz ließ Kaiser Wilhelm 11. keinen Zweifel
darüber aufkommen, worum es gehe, nämlich um: "Maßnahmen, die wir zu ergreifen
haben, um unsere heranwachsende Jugend den jetzigen Anforderungen, der
Weltstellung unseres Vaterlandes ... entsprechend heranzubilden."17
Für Wilhelm II. waren die bisherigen Leistungen der Schule ungenügend gewesen, das
politische Ziel war verfehlt worden: "Wenn die Schule das getan hätte, was von ihr
verlangt ist, ... so hätte sie von selber das Gefecht gegen die Sozialdemokratie
übernehmen müssen. Die Lehrerkollegien hätten alle miteinander die Sache fest
ergreifen und die heranwachsende Generation so instruieren müssen, daß diejenigen
jungen Leute, die Mir etwa gleichaltrig sind, also von etwa 30 Jahren, von selbst das
Material bilden würden, mit dem Ich im Staate arbeiten könnte, um der Bewegung
schneller Herr zu werden. Dies ist aber nicht der Fall gewesen. "18
Die Vorstellung des Kaisers von "jungen Leuten" als "Material" bleibt festzuhalten. Im
folgenden Zitat wird noch deutlicher, was für Menschen gebraucht werden:
"Bedenken Sie, was uns für ein Nachwuchs für die Landesverteidigung erwächst. Ich
suche nach Soldaten, wir wollen eine kräftige Generation haben, die auch als geistige
Führer und Beamte dem Vaterlande dienen."19
Auch Kultusminister v. Gossler, königlich preußischer Staatsminister, sprach in seiner
Einführung davon, "daß die veränderte Weltstellung Preußens und Deutschlands
unseren Blick erweitert und uns die Frage auf die Lippen geführt hatte, ob unsere
Erziehung noch genau in denselben Bahnen sich bewegen könne wie früher, wo
Deutschland mehr ein in sich gekehrtes, ein einsames Denkerleben führendes Volk
war. Jetzt, wo unsere Augen erweitert sind, wo unsere Blicke sich richten auf alle
Nationen, wo wir Kolonien vor unseren Augen haben: überall haben wir den Eindruck,
daß wir vielleicht den Zaun, der bisher unser Unterrichtswesen umschlossen hielt, in
dieser oder jener Weise durchbrechen müssen." 20.
Die Teilnehmer waren sich darüber einig, daß der Religion die Funktion einer
psychischen Panzerung für den Soldaten zukomme. Der Oberkonsistorialrat Uhlhorn,
Abt von Loccum, sprach dies mit den Worten aus: "Wir wollen darauf hinaus, unsere
jungen Leute zu einem wehrhaften Volke zu machen. Ich wünsche von Herzen, daß
unsere jungen Leute mit harten Muskeln und scharfen Augen hinausziehen, wenn es
den Kampf gilt; aber es gehört noch etwas Anderes dazu: ein festes Herz. Ja, es ist
ein köstlich Ding, daß das Herz fest werde, sagt der Apostel; das wird aber nur durch
die Religion, nicht durch dieses oder jenes Wissen erreicht. Nur die Religion macht das
Herz fest. Und wenn ich an die großen Kämpfe denke, die bevorstehen, da müssen die
Jungen Leute wissen: darinnen stehet die Liebe, daß er das Leben für die Brüder
gelassen hat und wir sollen unser Leben für die Brüder lassen; daß wir das Leben
nicht haben, um es möglichst lange zu konservieren, sondern um es zu opfern ftir die
Brüder." 21
17 Verhandlungen, S. 70
18 Ebda., S. 71
19 Ebda., S. 75
20 Ebda., S. 68
21 Ebda., S 578f.
Besonders die Vorschläge zum Tumunterricht betrafen sowohl die quantitative als auch
qualitative Erweiterung desselben. Laufübungen und Fußmärsche sollten größere
Berücksichtigung finden, da sie der allgemeinen Kräftigung und der Steigerung der
körperlichen Ausdauer dienten. Während der Fußmärsche sollten auch "die für die
militärische Ausbildung so überaus wichtigen Übungen im Schätzen von Entfernungen“
durchgeführt werden.22
Schon 1891 wurden neue Lehrpläne für höhere Schulen erstellt, die sich an den
Forderungen der Konferenz orientierten. Unterrichtsstunden für alte Sprachen wurden
gestrichen, Turnen, Geschichte und Deutsch verstärkt.
Kaisers-Geburtstag, Sedanfeiern, Feierstunden zum Gedenken an die Kriegshelden
von 1870171 sowie die Entlassungsfeiern mit Gesängen und Ansprachen schufen die
Atmosphäre, in der die neuen Bildungsziele verfolgt wurden. Abiturienten wurden mit
Themen für den deutschen Aufsatz geprüft, wie: "Auch der Krieg hat sein Gutes",
"Das Leben ist der Güter höchstes nicht", "Der Tod hat eine reinigende Kraft".23
Unter hauptsächlich gesundheitlichen Gesichtspunkten und zum Zwecke der
körperlichen Ertüchtigung, wurde 1891 der "Zentralausschuß zur Förderung der Volksund Jugendspiele" gegründet. Bis 1917 wurden in „Spielleiterkursen“ ehrenamtlich
15214 Spielleiter ausgebildet, meist Lehrerinnen und Lehrer.24 Den Jugendspielen,
Ballspielen wie FußbaIl, Handball und Kriegsspielen kam 1m Blick auf die
paramilitärische Erziehung ein ganzheitlicher, erlebnispädagogischer Wert zu: "Der
Spielplatz ist für die heranwachsende Jugend eine Bildungsstätte des Charakters, wie
keine andere. Was keine Mahnung und Moralpredigt erreicht, das bewirkt der Verkehr
mit den Genossen beim Spiel; hier muß sich der Eigensinnige fügen lernen, weil er
sonst ausgeschlossen würde; ... hier lernen alle Gehorsam und Unterordnung unter
das Gesetz, ... mit- und füreinander zu kämpfen, zu ringen, für eine gemeinsame
Sache einzutreten,(... das teuerste der Bande knüpfen, die Liebe zum Vaterland."25
Auf dem dritten Kongreß des Zentralausschusses 1899 in Königsberg referierte der
Quedlinburger Realschullehrer Hermann Lorenz als Hauptredner über die Frage:
"Welche Anforderungen stellt der Heeresdienst an die moralischen und körperlichen
Eigenschaften der Jünglinge, und wie kann die Jugenderziehung im Dienste der
nationalen Wehrkraft die Vorbedingungen dazu schaffen'?" Im Anschluß an den
Königsberger Kongreß wurde zur weiteren Bearbeitung dieser Frage der "Ausschuß zur
Förderung der Wehrkraft durch Erziehung" gebildet.
Lorenz entwarf in seinen Reflexionen zur Krisenlage in Europa eine wachsende
Kriegsbedrohung und die Möglichkeit eines nahen Volkskrieges, in dem jeder Mann als
Soldat gebraucht würde. Neben der mentalen Konditionierung zur "Gottesfurcht,
unbedingten Treue zum Kaiser und zum Landesfürsten, Vaterlandsliebe, nationalem
Ehrgef'ühl, Opferbereitschaft, dem Geist des Gehorsams und der Zucht", sei es
wicbtige Aufgabe der Wehrkrafterziehung, die körperliche Selbstüberwindung,
Ausdauer durch Marschieren und Wettkampfspiele zu trainieren.26
Durch die Programme, welche Lorenz und der Wehrkraftausschuß erarbeiteten und
22 Verhandlungen, S. 466 f.
23 U. Hermann, Nationalerziehung und Militarisierung. In: Ders., Pädagogisches Denken und
Anfänge der Reformpädagogik. In: Christa Berg (Hrsg.): Handbuch der deutschen
Bildungsgeschichte, Bd. IV., 1870 – 1918. München 1991, S. 154
24 Vgl. H. Siemering (Hrsg.), Die deutschen Jugendpflegeverbände, Berlin 1918, S. 22
25 Verhandlungen, S. 468
26 H. Lorenz, Wehrkraft und Jugenderziehung. Leipzig 1899, S. 13
dem Zentralausschuß vorstellten, wurde eine entscheidende Wende eingeleitet. Bis
dahin war die Vorstellung der Hebung der Volksgesundheit und der politischen
Disziplinierung in nationalem Umfang maßgeblich gewesen, besonders für die Jugend
im Alter zwischen Volksschule und Einberufung zum Heer, jetzt trat die Erziehung zum
bald kommenden Krieg ganz in den Vordergrund.
1904 legte der Wehrkraftausschuß einen Sammelband mit Vorträgen und Aufsätzen
vor, in dem Ziele und Inhalte der Wehrkrafterziehung ausführlich dargestellt wurden.
Zur Funktion des Lehrers heißt es darin: "Jeder Lehrer, dem das Wohl seines Volkes,
die Zukunft seines Vaterlandes am Herzen liegt, muß an seinem Teile mit allen Kräften
dahin wirken, daß dem Staate ein opfernmütiger, waffenstarker Nachwuchs für das
Heer zur Verfügung steht."27
Ein besonders zynisches Beispiel für militärisches Denken und pädagogische
Verantwortungslosigkeit liefert Colmar Freiherr v. d. Goltz (1843 - 1916) in seinem
Aufsatz "Das Volk in Waffen": ''Leicht trennt sich nur die Jugend vom Leben. Sie ist
noch nicht durch die tausend Fäden, die das bürgerliche Dasein um uns schlingt, an
diese Erde gefesselt. ... Die Sehnsucht nach Erlebnissen macht sie kriegslustig.
Ruhe und Genuß, das Streben des reiferen Alters, liegen ihr fern. Sie tritt mit Freude
und Sorglosigkeit in den Kampf, die beide zu der blutigen Arbeit notwendig sind." 28
Beispielhaft sind weiterhin die Äußerungen des Leipziger Studiendirektors Hermann
Raydt, der sich mit der Frage "Deutsche Frau und Wehrkraft" beschäftigt. Er vertritt
die Meinung, das es die Hauptaufgabe der Frauen sei, Krieger zu gebären:
"Breithüftige, kerngesunde, frohe Mütter, die ihre Kinder mit eigener Muttermilch stark
machen und zu kräftigen Jünglingen und Jungfrauen ausbilden, die braucht unser
Vaterland, das gegen die rings drohenden Feinde noch lange kampfgerüstet sein muß,
um sich zu erhalten in dem notwendigen Daseinskampfe."29
27 E. v. Schenkendorf/H. Lorenz, Wehrkraft durch Erziehung. Leipzig 1904, S. 2
28 C.v.d.Goltz, Das Volk in Waffen. In: Schenkendorf/Lorenz, a.a.O, S. 69 ff.
29 H.Raydt, Die deutsche Frau und die Wehrkraft. In: Schenkendorf/Lorenz, a.a.O., S. 258
Literatur
Christa Berg (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV., 1870 – 1918.
München 1991
Martin Gregor-Dellin (Hrsg.), Deutsche Schulzeit: Erinnerungen u. Erzählungen aus 3
Jahrhunderten. München 1979
Berno Jannis Lilge, Erziehung zum Krieg im Deutschen Kaiserreich 1890 – 1914. München
(Grin-Verlag), 2013.
H. Lorenz, Wehrkraft und Jugenderziehung. Leipzig 1899
Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Berlin 1931
A. Mathes (Hrsg.), Reden Kaiser Wilhem II., München 1976
H.O. Meisner (Hrsg.): Kaiser Friedrich III. Das Kriegstagebuch von 1870/71. Berlin und Leipzig
1926
E. v. Schenkendorf/H. Lorenz, Wehrkraft durch Erziehung. Leipzig 1904
Theodor Schieder, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat. Köln 1961
H. Siemering (Hrsg.), Die deutschen Jugendpflegeverbände, Berlin 1918
Preussen. Ministerium der Geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten.
Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts- und Medizinal- Angelegenheiten. Berlin
1891.
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