4: Nationalerziehung im Kaiserreich Diese "friedlichen" Jahre des 2. Reiches und ihr Einfluss auf die Nationalerziehung sind Hauptgegenstand unserer Betrachtung. In dieser Zeit wurde das kleindeutsche Reich durch Preußen geprägt und zur kontinentalen Militärmacht. Was gesamteuropäisch eine neue Machtkonstellation bedeutete, bedeutete innenpolitisch die Entwicklung eines nationalstaatlichen Bewußtseins, dessen Folgen sich 1914 zeigten1. Für Bismarck war die Bildung des Nationalstaates ohnehin nur Instrument, um den preußischen Staatsgedanken nach innen und außen durchzusetzen2. Noch am 3. Sept. 1870 im Hauptquartier Doncherie konnte der damalige Kronprinz Friedrich Wilhelm in einem Gespräch mit Bismarck nur bedingte Zustimmung zu der Reichsgründung feststellen: „Bei der Unterredung mit ihm ... kam zutage, daß er den Plan hegte, das Elsaß nicht wieder herauszugeben, ..., dasselbe vielmehr unter deutscher Verwaltung für den Bund oder das Reich zu behalten. Die Errichtung des Reichs selbst wurde nur in allgemeinen Umrissen angedeutet“.3 Diese Durchsetzung schaffte zahlreiche Gegner: 1. Die Besiegten der Ereignisse zwischen 1866 und 1871, insbesondere folgende Parteiungen: die Welfen, die Bayrischen Patrioten4, anfangs Schleswig-Holstein, die Kurhessen, vertreten durch die Hessische Rechtspartei, die Altbraunschweigische Partei, die deutsch- mecklenburgische Rechtspartei, die Sachsen - allesamt konnten sich wohl mit dem Reich, nicht aber mit Preußen abfinden. 1 Vgl. Th. Schieder, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat. Köln1961. S. 7 2 Vgl. ebda., S 22., 3 H.O. Meisner (Hrsg.): Kaiser Friedrich III. Das Kriegstagebuch von 1870/71. Berlin und Leipzig 1926, S. 103 4 Anmerkung zur Haltung Bayerns bei der Reichsgründung Nicht nur , daß der bayrische Ministerrat sich bereits am 9. Sept. nach der Schlacht von Sedan für einen raschen Friedensschluß mit Frankreich einsetzte und Annexionenablehnte (vgl. Ücker, S. 65), noch am 11. Jan. 71 empfahl der vorberatende Ausschuß des bayr. Landtages mit 12 gegen 3 Stimmen dem Hohen Hause, das ganze Versailler Vertragswerk abzulehnen und neue Verhandlungen zu fordern. Die darauf folgende Redeschlacht im Plenum des bayrischen Lantages dauerte 10 Tage! Prophetenhaft erscheinen nachträglich Beiträge von Abgeordneten der patriotischen Partei, die damals im Zeichen der militärischen und wirtschaftlichen Macht des Bismarckreiches als "Querulanten-und engstirniges Partikularistentum" abgetan und in Vergessenheit gebracht wurden. Der Abgeordnete Dr. Ruland sagte damals: 'Diese Verträge sind nicht anderes, als die Grundlage einer absolutistisch- militärischen Hegemonie." Dr. Greil wünschte, "es möge diesem Prinzip der Nationalität von unserer Seite so sehr als möglich entgegengetreten werden. Dadurch erwerben wir uns ein Verdienst nicht nur um Bayern, sondern um Deutschland, um die ganze zivilisierte Welt." Dr.Kraetzer :' Die Annahme der Verträge führt sicher zum Einheitsstaat. Wohin führt die Gründung eines solchen Staates? Zu Kriegen, zur Bekämpfung anderer Staaten! ... Dr. Pfahler kritisierte die preuBische Politik seit Friedrich II. und warnte:'Drer rastlose Zerstörer des Reiches kann nie und nimmer der Neubegründerdes Reiches sein! Nicht das Deutsche Reich'sondern zwei Drittel Deutschlands unter dem preußischen Hut, das ist es, was die Verträge anstreben, und nicht einmal das Kaisertum, das auf einer sittlichen Idee ruhte, sondern den Cäsarismus." Und als letzter Redner sah Dr. Josef Edmund Jörg voraus: "Dieses Volk ist für den Frieden geboren, es ist den Frieden gewohnt, und es wird unendlich bitter fühlen, was es heißt, das dienende Glied eines großen Militärnationstaates zu sein."(S. 69 f.) Doch am 21. Jan. 1871 wurde das Versailler Vertragswerk mit 102 gegen 48 Stimmen, zwei Stimmen mehr als die erforderliche Zweidrittelmehrheit, angenommen. 2. Die Sozialisten mit internationalistischer Ausrichtung, allerdings ab 1890, latent nationalistisch. 3. Fremdnationale, nichtdeutsche Gruppen, die aus dem Nationalitätenprinzip heraus Widerstand leisteten: Die Nordschleswiger, die Einwohner der preußischen Ostprovinzen und die Elsaß-Lothringer. Außerdem, entrüstet über den Verlust Österreichs, der Katholizismus. Diesen mächtigen Gegner wollte Bismarck als ersten auf die Knie zwingen, was ihm bekanntlich mißlang.5 Selbst die konservative preußische Partei konnte sich erst ab 1876 zu einer bedingten Anerkennung des Nationalstaates entschließen6 Erst ab 1878 mit dem Rechtsruck bei den Wahlen kann von einer Anerkennung der Bismarckschen Politik durch die Parteien der Rechten gesprochen werden. Bis dahin war der Reichskanzler in ausgesprochenem Maße an die Nationalliberalen gebunden, die faktisch Regierungspartei war. Das Jahrzehnt der nationalliberalen Vorherrschaft von 1867 bis 1878 stand deshalb im Zeichen des Kompromisses. Er läßt sich auf die Formel bringen, daß die Nationalliberalen den Kanzler in der Außenpolitik unangefochten walten ließen und dafür in der Innenpolitik einen beträchtlichen Spielraum erhielten, verbürgt durch eine liberale Personalpolitik für wichtige Positionen (Fenske, S. 18) Mit den Wahlen von 1878 kam es dann auch zur innenpolitischen Wende, insbesondere in der Wirtschaftspolitk (Schutzzollpolitik), damit verbunden aber auch ein Abbau der Spannungen zur katholischen Kirche. (Ende des Kulturkampfes) und eine Entmachtung der Nationalliberalen Partei, die von nun an selbst immer konservativer wurde (Vgl. Fenske, S. 23) Der deutsche Liberalismus war nun endgültig geschlagen. Auch die folgenden Wahlen brachten Mitte-Rechts-Mehrheiten. Offensichtlich war es in den ersten zehn Jahren nach Bestehen des Reiches gelungen, den deutschen Wähler mit den kleindeutschen Staat preußischer Prägung zu versöhnen. Nachdem es den Nationalliberalen anfänglich gelungen war, die liberale Staatsidee in zahlreiche Gesetzeswerken einzubringen (Vgl. Fenske, S. 19), führten ab 1878 die nun folgenden konservativen Mehrheiten zu einen Zementierung des Konstitutionalismus in Deutschland und zu einem Abweichen von den verfassungspolitischen Entwicklungen anderer Staaten Westeuropas. Schieder sieht für die Zeit nach der Reichsgründung eine Wechselwirkung a) der Ausbildung eines kleindeutschen Nationalgefühls, b) des Verschwindens des alten Großdeutschentums nach 1866 und 1871 und c) der Entstehung einer Bewegung des Übergangs vom Nationalstaat zum nationalen Imperialismus. in den 80er und 90er Jahren, die neuartige, aggressive und dynamische Gedanken des Imperialismus und des Prestigedenkens unter Vermischung völkisch-nationaler und imperialistischer Ziele zu einem bestimmenden Faktor des Reiches machte.7 Symbole dieser allgemeinen Entwicklung können gesehen werden in dem Ringen um Reichsflagge, Nationalhymne, Denkmäler und in den Nationalfeiertagen. Zwar wurde die Symbolkraft geschwächt, weil das dynastische Prinzip und die Traditionen des Hegemonialstaates Preußen einer allgemeinen Anerkennung entgegenstanden. So gab es keine offizielle Nationalhymne und keine einheitliche Reichsflagge. Auch die Auswahl der nationalen Denkmäler spiegelte die Unsicherheit 5 Vgl. Schieder, a.a.O., S. 11 - 17 6 Vgl. ebda., S. 12 7 Vgl. Schieder, a.a.O., S. 40 ff. in der nationalen Frage wider.8 An der Institutionalisierung und Verbreitung solcher Symbole, an der Anerkennung im Volke, lassen sich Entwicklungen studieren. Auch ist ihnen die erzieherische Wirkung nicht absprechen! Besonders deutlich wird das am ersten Nationalfeiertag, den sich das neugegründete Reich schuf: dem Sedantag. Wir werden sehen, dass dieser Feiertag gerade in den Schulen eine wichtige Rolle spielte. Auf dem Gebiete der Kultur hatte sich mit der Reichsgründung die geistigen Gehalte des deutschen Idealismus erschöpft . Die humanistisch-ästethische Kultur konnte nicht bewahrt werden. Die größten kulturellen, deutschsprachigen Leistungen mussten außerhalb des reichsdeutschen Raums festgestellt werden, so z.B. Keller, Meyer, Bruckner, Grillparzer, R. Wagner u.a.m.. Fontane als Dichter der Preußen nahm eine eigentümliche Stellung zwischen den Fronten ein (Fenske, S. 29) Auf wissenschaftlichem Gebiete kam es zu einem Zusammengehen von Staat und Wissenschaft. Ab 1878 wurden' die Gefahren einer allgemeinen Tendenz zur Nationalisierung deutlich: ein bisher nicht dagewesener wissenschaftlicher Chauvinismus wurde beobachtet: Preußen übernahm die Führung in der Wissenschaftspolitik - Schieder konstatiert einen Rückgang des deutschen Nationalcharakters als Gefahrenquelle: den deutschen Chauvinismus.9 Die Schulverhältnisse änderten sich. Die deutschen Schulverhältnisse waren ein getreues Spiegelbild der deutschen Zustände. Besonders verhängnisvoll war die Reproduzierung des preußischen Untertanengeistes auf das Erziehungssystem. „Spät und umso totaler zog der Nationalismus in die Klassenzimmer ein. ... Es ist doch bemerkenswert, daß andere Völker mit ihren Schulen – und ihren Pädagogen – nicht annähernd so viel Ärger gehabt haben wie wir. Den Beweis liefert die deutsche Literatur. Die Fülle des einschlägigen Stoffes ... gibt Aufschluß über die Geschichte des deutschen Erziehungswesens und über die Beschleunigung, mit der es sich in ein Sackgasse verrannte 10. „Was die Schriftsteller unseres Jahrhunderts über Schule und Lehrer geschrieben haben, scheint zum großen Teil von Haß diktiert, von unüberwindbarer Abscheu – eine erschreckende Bilanz. ... Nach allen zeitgenössischen Zeugnissen geben sie .. ein gutes Bild des preußisch-deutschen Obrigkeitsdenkens im Erziehungssystem.“ Die Lehrer waren nach Auskunft der Biographen „Chauvinisten“, „skurrille Narren“, „arme Geistesgestörte“, „pathologische Sadisten“ oder gar alles zusammen.11 Bis in die Zeit zwischen 1875 und 1890 noch häufig Schulhumoreske, Episode der Autobiographie oder des Entwicklungsromans, erobert sich das Schulthema mit Beginn des Naturalismus und Aufkommen der Tiefenpsychologie (Arno Holz, Johannes Schlaf, Papa Hamlet 1889) die Literatur, zeigt die Leiden der Schüler, von denen etwa ab 1902 in den Romanen und Erzählungen immer mehr in den Tod gehen, so unerträglich war der Schulbetrieb geworden. Der stumpfsinnige Drill in der Schule führte zu einem Zustand innerhalb der Klasse, der Kameradschaft auschloß und Feinseligkeit erzeugte 12 8 Vgl. 9 Vgl. 10 Vgl. 11 Vgl. 12 Vgl. ebda., S. 72 ff. ebda. Martin Gregor-Dellin, Deutsche Schulzeit, S. 11 f. ebda. , S. 16 f. ebda. Der hier skizzierte grundlegende Wandel auf dem Gebiet der Schule begann sich Ende der siebziger Jahre in Deutschland zu vollziehen. In ihm löst eine jüngere Generation die der Reichsgründung ab, die noch selbstverständlich getragen war von der Tradition und den Anschauungen des Neuhumanismus und der deutschen Klassik. Es ist jenes Neupreußentum, das die weitere Entwicklung bestimmt, das, befangen in dem Glauben, das Reich sei nur durch Blut und Eisen geschaffen, die reine Macht überbewertet und verabsolutiert, meisterhaft dargestellt von Thomas Mann in den Buddenbrooks: “Dieser Direktor Wulicke war ein furchtbarer Mann. Er war der Nachfolger des jovialen und menschenfreundlichen alten Herrn, [...] der bald nach dem Jahre einundsiebzig gestorben war. Damals war Doktor Wulicke, bislang Professor an einem preußischen Gymnasium, berufen worden, und mit ihm war ein anderer, ein neuer Geist in der Alten Schule eingezogen. Wo ehemals die klassische Bildung als ein heiterer Selbstzweck gegolten hatte, den man mit Ruhe, Muße und fröhlichem Idealismus verfolgte, da waren nun die Begriffe Autorität, Pflicht, Macht, Dienst, Karriere zu höchster Würde gelangt, und der ‘kategorische Imperativ unseres Philosophen Kant’ war das Banner, das Direktor Wulicke in jeder Festrede bedrohlich entfaltete. Die Schule war ein Staat im Staate geworden, in dem preußische Dienststrammheit so gewaltig herrschte, dass nicht allein die Lehrer, sondern auch die Schüler sich als Beamte empfanden, die um nichts als ihr Avancement und darum besorgt waren, bei den Machthabern gut angeschrieben zu stehen ...” 13 Die industrielle und ökonomische Entwicklung des Reiches in den 80'er Jahren, die zunehmende Verstädterung, der wachsende Einfluß der Sozialdemokratie schufen Fakten, denen sich auch das konservative Militär nicht entziehen konnte. Einerseits war die Zahl der diensttauglichen Rekruten auf grund der schlechten gesundheitlichen Bedingungen gesunken, andererseits gab es nach dem gescheiterten Sozialistengesetz keine Möglichkeit, die Armee vor dem Einfluß der Sozialdemokratie freizuhalten.14 Die imperialistischen Vorstellungen, die mit Kaiser Wilhelm II. offizielle Politik wurden, waren aber nur durch ein noch stärkeres Militär durchzusetzen. Am 16.6.1888, einen Tag nach seinem Regierungsantritt, hielt der neue Kaiser Wilhelm II eine Rede an das Kunstpersonal der Königlichen Schauspiele und bezeichnete Schule und Theater als seine Waffen15 Bereits am 1.5.1889 gab es einen Erlaß von ihm, der Grundlage für die Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts auf der Berliner Schulkonferenz vom 4. - 17.Dezember 1890 werden sollte: Darin hieß es: „Schon seit längerer Zeit hat mich der Gedanke beschäftigt, die Schule in ihren einzelnen Abstufungen nutzbar zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenzuwirken. In erster Linie wird die Schule durch Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum Vaterlande die Grundlage für eine gesunde Auffassung auch der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu legen haben.“ 16 Vom Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal- Angelegenheiten wurden vom 4. bis zum 17. Dezember 1890 Teilnehmer aus verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Bereichen zu "Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts" nach Berlin eingeladen. In Reaktion auf die Ordre Wilhelms II. vom 1.5.1889, in der 13 Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Berlin 1931, S. 694 14 Von den gemusterten Wehrpflichtigen waren 1888 61,6 %, 1889 56,6 % als tauglich befunden. Vgl. Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts- und MedizinalAngelegenheiten. Berlin 1891, S. 440 15 Vgl. A. Mathes (Hrsg), Reden Kaiser Wilhelm II, München 1976, S. 64 f. 16 Erlaß Kaiser Wilhelm II vom 1.5.1889. In: Verhandlungen. S. 3-5 dieser das Staatsministerium auffordert, "bestimmte Vorschläge zu machen", erörterten 43 Personen den neuen politischen Kurs. Dazu gehörten 7 Professoren und Oberlehrer, 13 Gymnasialdirektoren, Ministerialkomissare, Offiziere des Kriegsministeriums, der Hofprediger, der Abt zu Loccum, Pastor v. Bodelschwingh und Fabrikbesitzer. In seiner Rede zur Eröffnung der Konferenz ließ Kaiser Wilhelm 11. keinen Zweifel darüber aufkommen, worum es gehe, nämlich um: "Maßnahmen, die wir zu ergreifen haben, um unsere heranwachsende Jugend den jetzigen Anforderungen, der Weltstellung unseres Vaterlandes ... entsprechend heranzubilden."17 Für Wilhelm II. waren die bisherigen Leistungen der Schule ungenügend gewesen, das politische Ziel war verfehlt worden: "Wenn die Schule das getan hätte, was von ihr verlangt ist, ... so hätte sie von selber das Gefecht gegen die Sozialdemokratie übernehmen müssen. Die Lehrerkollegien hätten alle miteinander die Sache fest ergreifen und die heranwachsende Generation so instruieren müssen, daß diejenigen jungen Leute, die Mir etwa gleichaltrig sind, also von etwa 30 Jahren, von selbst das Material bilden würden, mit dem Ich im Staate arbeiten könnte, um der Bewegung schneller Herr zu werden. Dies ist aber nicht der Fall gewesen. "18 Die Vorstellung des Kaisers von "jungen Leuten" als "Material" bleibt festzuhalten. Im folgenden Zitat wird noch deutlicher, was für Menschen gebraucht werden: "Bedenken Sie, was uns für ein Nachwuchs für die Landesverteidigung erwächst. Ich suche nach Soldaten, wir wollen eine kräftige Generation haben, die auch als geistige Führer und Beamte dem Vaterlande dienen."19 Auch Kultusminister v. Gossler, königlich preußischer Staatsminister, sprach in seiner Einführung davon, "daß die veränderte Weltstellung Preußens und Deutschlands unseren Blick erweitert und uns die Frage auf die Lippen geführt hatte, ob unsere Erziehung noch genau in denselben Bahnen sich bewegen könne wie früher, wo Deutschland mehr ein in sich gekehrtes, ein einsames Denkerleben führendes Volk war. Jetzt, wo unsere Augen erweitert sind, wo unsere Blicke sich richten auf alle Nationen, wo wir Kolonien vor unseren Augen haben: überall haben wir den Eindruck, daß wir vielleicht den Zaun, der bisher unser Unterrichtswesen umschlossen hielt, in dieser oder jener Weise durchbrechen müssen." 20. Die Teilnehmer waren sich darüber einig, daß der Religion die Funktion einer psychischen Panzerung für den Soldaten zukomme. Der Oberkonsistorialrat Uhlhorn, Abt von Loccum, sprach dies mit den Worten aus: "Wir wollen darauf hinaus, unsere jungen Leute zu einem wehrhaften Volke zu machen. Ich wünsche von Herzen, daß unsere jungen Leute mit harten Muskeln und scharfen Augen hinausziehen, wenn es den Kampf gilt; aber es gehört noch etwas Anderes dazu: ein festes Herz. Ja, es ist ein köstlich Ding, daß das Herz fest werde, sagt der Apostel; das wird aber nur durch die Religion, nicht durch dieses oder jenes Wissen erreicht. Nur die Religion macht das Herz fest. Und wenn ich an die großen Kämpfe denke, die bevorstehen, da müssen die Jungen Leute wissen: darinnen stehet die Liebe, daß er das Leben für die Brüder gelassen hat und wir sollen unser Leben für die Brüder lassen; daß wir das Leben nicht haben, um es möglichst lange zu konservieren, sondern um es zu opfern ftir die Brüder." 21 17 Verhandlungen, S. 70 18 Ebda., S. 71 19 Ebda., S. 75 20 Ebda., S. 68 21 Ebda., S 578f. Besonders die Vorschläge zum Tumunterricht betrafen sowohl die quantitative als auch qualitative Erweiterung desselben. Laufübungen und Fußmärsche sollten größere Berücksichtigung finden, da sie der allgemeinen Kräftigung und der Steigerung der körperlichen Ausdauer dienten. Während der Fußmärsche sollten auch "die für die militärische Ausbildung so überaus wichtigen Übungen im Schätzen von Entfernungen“ durchgeführt werden.22 Schon 1891 wurden neue Lehrpläne für höhere Schulen erstellt, die sich an den Forderungen der Konferenz orientierten. Unterrichtsstunden für alte Sprachen wurden gestrichen, Turnen, Geschichte und Deutsch verstärkt. Kaisers-Geburtstag, Sedanfeiern, Feierstunden zum Gedenken an die Kriegshelden von 1870171 sowie die Entlassungsfeiern mit Gesängen und Ansprachen schufen die Atmosphäre, in der die neuen Bildungsziele verfolgt wurden. Abiturienten wurden mit Themen für den deutschen Aufsatz geprüft, wie: "Auch der Krieg hat sein Gutes", "Das Leben ist der Güter höchstes nicht", "Der Tod hat eine reinigende Kraft".23 Unter hauptsächlich gesundheitlichen Gesichtspunkten und zum Zwecke der körperlichen Ertüchtigung, wurde 1891 der "Zentralausschuß zur Förderung der Volksund Jugendspiele" gegründet. Bis 1917 wurden in „Spielleiterkursen“ ehrenamtlich 15214 Spielleiter ausgebildet, meist Lehrerinnen und Lehrer.24 Den Jugendspielen, Ballspielen wie FußbaIl, Handball und Kriegsspielen kam 1m Blick auf die paramilitärische Erziehung ein ganzheitlicher, erlebnispädagogischer Wert zu: "Der Spielplatz ist für die heranwachsende Jugend eine Bildungsstätte des Charakters, wie keine andere. Was keine Mahnung und Moralpredigt erreicht, das bewirkt der Verkehr mit den Genossen beim Spiel; hier muß sich der Eigensinnige fügen lernen, weil er sonst ausgeschlossen würde; ... hier lernen alle Gehorsam und Unterordnung unter das Gesetz, ... mit- und füreinander zu kämpfen, zu ringen, für eine gemeinsame Sache einzutreten,(... das teuerste der Bande knüpfen, die Liebe zum Vaterland."25 Auf dem dritten Kongreß des Zentralausschusses 1899 in Königsberg referierte der Quedlinburger Realschullehrer Hermann Lorenz als Hauptredner über die Frage: "Welche Anforderungen stellt der Heeresdienst an die moralischen und körperlichen Eigenschaften der Jünglinge, und wie kann die Jugenderziehung im Dienste der nationalen Wehrkraft die Vorbedingungen dazu schaffen'?" Im Anschluß an den Königsberger Kongreß wurde zur weiteren Bearbeitung dieser Frage der "Ausschuß zur Förderung der Wehrkraft durch Erziehung" gebildet. Lorenz entwarf in seinen Reflexionen zur Krisenlage in Europa eine wachsende Kriegsbedrohung und die Möglichkeit eines nahen Volkskrieges, in dem jeder Mann als Soldat gebraucht würde. Neben der mentalen Konditionierung zur "Gottesfurcht, unbedingten Treue zum Kaiser und zum Landesfürsten, Vaterlandsliebe, nationalem Ehrgef'ühl, Opferbereitschaft, dem Geist des Gehorsams und der Zucht", sei es wicbtige Aufgabe der Wehrkrafterziehung, die körperliche Selbstüberwindung, Ausdauer durch Marschieren und Wettkampfspiele zu trainieren.26 Durch die Programme, welche Lorenz und der Wehrkraftausschuß erarbeiteten und 22 Verhandlungen, S. 466 f. 23 U. Hermann, Nationalerziehung und Militarisierung. In: Ders., Pädagogisches Denken und Anfänge der Reformpädagogik. In: Christa Berg (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV., 1870 – 1918. München 1991, S. 154 24 Vgl. H. Siemering (Hrsg.), Die deutschen Jugendpflegeverbände, Berlin 1918, S. 22 25 Verhandlungen, S. 468 26 H. Lorenz, Wehrkraft und Jugenderziehung. Leipzig 1899, S. 13 dem Zentralausschuß vorstellten, wurde eine entscheidende Wende eingeleitet. Bis dahin war die Vorstellung der Hebung der Volksgesundheit und der politischen Disziplinierung in nationalem Umfang maßgeblich gewesen, besonders für die Jugend im Alter zwischen Volksschule und Einberufung zum Heer, jetzt trat die Erziehung zum bald kommenden Krieg ganz in den Vordergrund. 1904 legte der Wehrkraftausschuß einen Sammelband mit Vorträgen und Aufsätzen vor, in dem Ziele und Inhalte der Wehrkrafterziehung ausführlich dargestellt wurden. Zur Funktion des Lehrers heißt es darin: "Jeder Lehrer, dem das Wohl seines Volkes, die Zukunft seines Vaterlandes am Herzen liegt, muß an seinem Teile mit allen Kräften dahin wirken, daß dem Staate ein opfernmütiger, waffenstarker Nachwuchs für das Heer zur Verfügung steht."27 Ein besonders zynisches Beispiel für militärisches Denken und pädagogische Verantwortungslosigkeit liefert Colmar Freiherr v. d. Goltz (1843 - 1916) in seinem Aufsatz "Das Volk in Waffen": ''Leicht trennt sich nur die Jugend vom Leben. Sie ist noch nicht durch die tausend Fäden, die das bürgerliche Dasein um uns schlingt, an diese Erde gefesselt. ... Die Sehnsucht nach Erlebnissen macht sie kriegslustig. Ruhe und Genuß, das Streben des reiferen Alters, liegen ihr fern. Sie tritt mit Freude und Sorglosigkeit in den Kampf, die beide zu der blutigen Arbeit notwendig sind." 28 Beispielhaft sind weiterhin die Äußerungen des Leipziger Studiendirektors Hermann Raydt, der sich mit der Frage "Deutsche Frau und Wehrkraft" beschäftigt. Er vertritt die Meinung, das es die Hauptaufgabe der Frauen sei, Krieger zu gebären: "Breithüftige, kerngesunde, frohe Mütter, die ihre Kinder mit eigener Muttermilch stark machen und zu kräftigen Jünglingen und Jungfrauen ausbilden, die braucht unser Vaterland, das gegen die rings drohenden Feinde noch lange kampfgerüstet sein muß, um sich zu erhalten in dem notwendigen Daseinskampfe."29 27 E. v. Schenkendorf/H. Lorenz, Wehrkraft durch Erziehung. Leipzig 1904, S. 2 28 C.v.d.Goltz, Das Volk in Waffen. In: Schenkendorf/Lorenz, a.a.O, S. 69 ff. 29 H.Raydt, Die deutsche Frau und die Wehrkraft. In: Schenkendorf/Lorenz, a.a.O., S. 258 Literatur Christa Berg (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV., 1870 – 1918. München 1991 Martin Gregor-Dellin (Hrsg.), Deutsche Schulzeit: Erinnerungen u. Erzählungen aus 3 Jahrhunderten. München 1979 Berno Jannis Lilge, Erziehung zum Krieg im Deutschen Kaiserreich 1890 – 1914. München (Grin-Verlag), 2013. H. Lorenz, Wehrkraft und Jugenderziehung. Leipzig 1899 Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Berlin 1931 A. Mathes (Hrsg.), Reden Kaiser Wilhem II., München 1976 H.O. Meisner (Hrsg.): Kaiser Friedrich III. Das Kriegstagebuch von 1870/71. Berlin und Leipzig 1926 E. v. Schenkendorf/H. Lorenz, Wehrkraft durch Erziehung. Leipzig 1904 Theodor Schieder, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat. Köln 1961 H. Siemering (Hrsg.), Die deutschen Jugendpflegeverbände, Berlin 1918 Preussen. Ministerium der Geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten. Verhandlungen über Fragen des höheren Unterrichts- und Medizinal- Angelegenheiten. Berlin 1891.