DAS GEBÄUDE – EINE ERFINDUNG DER WAHRNEHMUNG Ein Gebäude ist, wie es ist. Der Architekt erfindet es, die Bauarbeiter stellen es her - dann ist es „fertig“ - in seiner Endversion statisch. So scheint es auf den ersten Blick jedenfalls. Und doch beginnt gerade mit jedem Betrachter ein neuer, nicht-trivialer Prozess, der diesen aktiv miteinbezieht. So wie es entstand, möchte es auch verstanden werden: Die Wahrnehmung eines Gebäudes operiert allein mit unseren inneren Bildern, die aus der Erfahrung stammen. Das dynamische Verhältnis von Betrachter und Bauwerk ist daher ebenso an dessen Erzeugung beteiligt, wie der Architekt und der Kritiker. Der Wahrnehmungsprozess ist einem ständigen Wandel unterworfen „Da er zu dem - der Glaube, ein Gebäude sei so, wie man es sieht undannehmen, verändere daß sich nicht, so lange es nicht renoviert oder umgebaut wird, wäre naiv. Es ist nie vorgeformt zu denken, sondern wird in der Vorstellung des Betrachters zusammengesetzt, in seine Erfahrungswelt eingepasst und modifiziert diese gleichzeitig. Wie man als Beobachter bzw. Benutzer Objekte aktiv „herstellt“, spürt man deutlich, wenn man sie vor Ort „erlebt“, im Gegensatz zum Betrachten gefilterter Architekturabbildungen. Der Betrachter, nicht der Architekt bestimmt die Bedeutung eines Bauwerks.19 An der dynamischen Entwicklung sind Faktoren wie Zeit, Lesbarkeit und Funktion beteiligt. Wobei mit Zeit das physische und psychische Altern und die Erfahrungen der Benutzer gemeint ist. Zur Lesbarkeit gehören Begriffe wie Redundanz, Superzeichenbildung, Synästhesie, Mehrfachbedeutungen, Orientierung, Validität, etc.. Als Funktion wird primär der tatsächliche Nutzen bzw. die Erfüllung der Aufgaben und statischen Anforderungen bezeichnet. Als erweiterter Begriff, der sich ganz allgemein an der Qualität des Lebens des Benutzers orientiert und somit auch sinnliche, emotionale und intellektuelle Bedürfnisse umfasst, verschwimmen die Grenzen zu den ersten beiden. Es ist wichtig im Bezug auf das Verständnis von Architektur, dass diese drei Faktoren im Gebäude möglichst bewusst berücksichtigt beziehungsweise vielschichtig miteinander verwoben wurden. Jedes Objekt wirkt auf den „Erleber“ zurück und beeinflusst so dessen Erfahrungen. Fordert es ihn nur sehr wenig (bringt es nur sehr wenig Neues ein), dann vergibt der 164 Architekt die Chance, das Architekturverständnis weiter zu entwickeln, abgesehen davon, dass er den Betrachter langweilt. „Gute Architektur schafft anspruchsvolle Benutzer, indem sie diese voraussetzt.“20 Ähnlich wie beim Entwurf, der ein Vorgang im Architekten ist, beginnt sich hier das Gebäude immer mehr mit den internen Vorgängen des Benutzers zu verweben. Der Bau mit seinen spezifischen Raumausformungen und –folgen, seinen Oberflächen, Schallverhalten, Gerüchen, seiner Orientierung und Lichtführung bringt letztendlich die Empfindungen im Menschen zum Schwingen, die er als positiv oder negativ erkennt. Und dementsprechend beurteilt er die Eigenschaften auch als Qualität oder Nachteil. Bemerkt er gewisse Eigenschaften nicht, hat das Gebäude für ihn einfach Matisse, der weniger hier inQualitäten. der Halle hängt, nichts sagt, darf ich er wirklich blind ist, [...].“21 Die Entwicklung der individuellen ästhetischen Kompetenz ist ein vergleichbarer Vorgang und ist daher von den persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen abhängig. Die Welt ist so reichhaltig oder arm wie mein Sensorium (vgl. Maturana 1982). Dieses kann aber sukzessive ausgebaut werden, und damit ist z.B. der Kritiker als Vermittler am Aufbau des Gebäudes mitbeteiligt. Er macht auf bestimmte Aspekte aufmerksam und erweitertdaß auf diese Weise die Lesefähigkeit. „[...] und es genügt, Gantenbein sich immer wieder in die verkehrte Richtung stellt, um ihnen die Sehenswürdigkeiten nahezubringen. Einzelne empfinden ein solches Erbarmen mit ihm, daß sie, um Worte zu finden, die ihm eine Vorstellung geben von der Weihe des Ortes, selber zu sehen anfangen. Ihre Worte sind hilflos, aber ihre Augen werden lebendig;[...]“22 Die Bewertung eines Bauwerks ist vom subjektiven Qualitätsempfinden abhängig - es wird von Dorothea und Georg Franck23 von sechs Prinzipien abhängig gemacht: Motiviertheit, Dichte, Resonanz, Gleichgewicht, Einfachheit und glücklicher Koinzidenz. „Das Gebäude selber ist nie poetisch. Es mag lediglich über diese Qualitäten verfügen, die uns in besonderen Momenten etwas verstehen lassen, was wir zuvor noch nie so verstehen konnten.“24 165 Caplutta Sogn Benedetg, Peter Zumthor Sumvitg, CH Motiviert ist eine Form, wenn sie die Sinne und damit die1985-1988 Emotionen anspricht, die dann Erinnerungen auslösen. Es geht um das BewusstMachen von Bezügen, und zwar von funktionalen und emotionalen. Die Kapelle Sogn Benedetg z.B. steht erhaben und stabil am Hang über dem Ort. Die alte wurde durch eine Lawine zerstört - dass ein Bedürfnis nach Stabilität bestand, ist wahrscheinlich. Die einzigen kleinen Eisenkreuze, eines im Innenraum, eines auf dem Dach, der selbständige Glockenturm und die Eingangsstiege, die den Raum nicht berührt, verweisen alle auf einen abgehobenen Ort des Nachdenkens und der Stille, der ein sakraler sein kann. Eine simple, gerade Aussage zur aktuellen Glaubensdiskussion. Für den religiösen Menschen wird das Eisenkreuz durch seine interessensgesteuerte Wahrnehmung größer erscheinen, ein anderer wird es vielleicht übersehen und den Chorbereich nicht als klassisches christliches Element, sondern als geistige Umarmung empfinden. Dichte steht in engem Zusammenhang mit Komplexität, also mit der mehrschichtigen Motiviertheit einer Form, und bringt scheinbar unabhängige Elemente und Bedeutungsebenen in Verbindung. Durch Verdichtung entstehen poetische Qualitäten, die Vielschichtigkeit, Assoziationen und „Klangqualitäten“ freilegen. Die Kapelle orientiert sich durch die traditionelle Ausrichtung des Chors nach Osten. Der Eingang liegt im Westen, wodurch dieser gleichzeitig das Ende eines Weges markiert, der an alte Kirchenpfade erinnert. Die Konstruktion lässt Assoziationen zum Korpus eines Musikinstruments, zum Schiffbau sowie zu einem Baumblatt entstehen - drei Verbindungen, die bei den meisten Menschen angenehme Empfindungen hervorrufen. Es handelt sich dabei aber um keine 1:1 Anlehnung oder Symbolik, sondern es beziehen sich die einzelnen Elemente aufeinander, so dass sie eine Superzeichenbildung begünstigen. Welches Zeichen oder ob überhaupt eines gesehen wird, ist individuell und sagt (durch die Freiheit der Wahl) mehr über den Betrachter als über das Gebäude aus. Die Resonanz bezeichnet das Mitschwingen von Bedeutungsanalogien von nicht in Beziehung stehenden Elementen. Damit wird auf einen Art „synästhetischen Klang“ verwiesen. Die Metalllamellen im Fensterbereich 167 und der hohle, schwingende Boden unterstreichen die Vorstellung vom Musikinstrument. Dazu kommt noch das Gleichgewicht, das alle teils gegensätzlichen Empfindungen und Bedeutungen in einem spannungsreichen Verhältnis stabilisiert. In diesen Bereich gehört auch das Verhältnis von Altem und Neuem, die meistens zueinander antithetische Positionen einnehmen, wodurch gerade die Spannung entsteht. Der Eingang wird als separater Körper seitlich in den Raum geschoben. Von außen gesehen entsteht ein Guckloch, das von einer Säule „verstellt“ wird. Vom Innenraum aus, zieht einen die fernrohrartige Öffnung hinaus in die „Welt“. Dazwischen ist die schwere Türe, die dem Übergang von Außen und Innen Gewicht gibt. Die Einfachheit stellt den praktisch übergeordneten Bereich dar, der die vorher genannten Qualitäten zu einem „Ganzen“ verschmelzen lässt, und ist damit eigentlich alles andere als einfach. Es wird die Anstrengung nur nicht sichtbar, die zur funktionalen und ästhetischen Gesamtheit führte. Die Form der Kapelle erinnert an sakrale Zentralbauten der Region und an Geometrien vom Barock bis zur Moderne. Es wurden keine Zitate verwendet, sondern Merkmale und persönliche Erfahrungen auf eine allgemeine Form zurückgeführt. „Nur wenn Einfachheit mit Reichtum zusammengeht, kann sie nämlich als Qualität gelten.“25 Und um schließlich zu dieser unmöglich erscheinenden „reichen Einfachheit“ zu gelangen, muss man sich auf die glücklichen Koinzidenzen verlassen, die beim Entwurf besprochen werden. Wie man sieht, sind all diese Qualitäten einzig und allein von den subjektiven Wahrnehmungen abhängig und von bereits erlebten Räumen beeinflusst. „Wenn die Erfahrung nun aber die primäre Realität ist, dann sind die Gegenstände, wie sie als unabhängig von der Erfahrung gegeben zu denken sind, Konstrukte.“26 Und wenn die Objekte Konstrukte sind, ist der Prozess wieder autopoietisch und seine Bestandteile im Inneren des Benutzers zu 169 suchen. Was von „außen“ kommt, sind Deformationen, und in diesen Bereich der Deformationen gehört auch die Interaktion mit anderen Benutzern oder „Wahrnehmern“ (z.B. Kritikern), die letztlich die konsensuellen Bereiche schaffen. Ich möchte noch einmal zu den drei Begriffen Zeit, Lesbarkeit und Funktion zurückkommen. Die Zeit spielt zunächst einmal beim Altern des eingesetzten Materials eine Rolle. Bei der Kapelle zum Beispiel dunkelte das Holz im Inneren nach, die Holzschindeln der Außenfassade wurden im Norden silbergrau und im Süden schwärzlich gefärbt. Ebenso veränderten die Bronzefenster des Schulhauses in Paspels ihre Farbe und stehen mit dem rotbräunlichen Ton dem kühlen Beton gegenüber. Vegetation wie z.B. Freiraumgestaltung, Fassaden -, Dachbegrünung oder Moosanflug bei Betonbauteilen ergänzen die Bedeutung erst mit der Zeit, die sie für ihre Entwicklung brauchen. Auch in der Benutzung hinterlässt die Zeit ihre Spuren - fast jede Ausstellung verändert das Kunsthaus in Bregenz physisch, indem es dem ursprünglich perfekten Beton neue Löcher hinzufügt. An jedem Bau lassen sich für gewöhnlich die meistgegangenen Wege am Boden nachvollziehen, oder auch falsch geplante Türanschläge an der Wand, und so wird früher oder später jeder physische und funktionelle Bauschaden sichtbar. Man muss nur gut beobachten können und jedes Gebäude teilt einem seine Vor- und Nachteile von selbst mit. Neben der Zeit, die von außen auf das Gebäude wirkt, hat die persönliche Erfahrung auch großen Einfluss auf die Wahrnehmung. Die Summe aller vorhergehenden Erlebnisse machen erst das Erkennen der Mehrfachbedeutungen möglich. In diesen Bereich fallen auch die vorher erwähnten Kriterien von Motiviertheit, Dichte, Resonanz und Gleichgewicht. Jede persönliche Assoziation mit den Elementen kommt aus der eigenen Erfahrungswelt und versucht das Neue mit dieser in ein brauchbares Modell einzufügen. [Validität ] Die Kapelle steht standhaft im Hang, überblickt die Häuser und ruht wie ein gestrandetes Schiff über dem alten Ort. Gegenüber diesem stabilen, wehrhaften Bild erscheint der Innenraum umso zarter und feiner, und so stellt er das Ganze in einen größeren Zusammenhang, der irgendwie 170 empfunden wird, aber nicht erklärt werden kann. Es scheint, als würden die Eindrücke einem inneren Validitätsmodell gerecht werden. Durch eine dichte Verwebung von verschiedenen Bedeutungsebenen kann ein Bauwerk auch in eine gewisse Überzeitlichkeit treten. Das bedeutet, dass die Wirkung der Form sich mit der Zeit nicht aufhebt und man diese nicht als überholt, also „alt“ empfindet. Einem „gut geplanten“ Gebäude wird zu jeder Zeit seine Gültigkeit verliehen, weil die Bedeutungen so vielschichtig sind, dass sie sich nicht verbrauchen (vgl. Holz, werk, bauen + wohnen Nr.7/8 2002). „Was ist das Zeitlose [...], oder vielleicht das Überzeitliche, der unabgegoltene Gehalt, den wir aufnehmen und immer wieder aufs Neue ausdeuten?“27 Die Bedeutungsvarianten, die sich aus dem Wandel der Situationen ableiten, beziehen sich bei jeder neuen Interpretation auf die Grundbedeutung, wodurch sich diese prinzipiell nie auflöst. „Jeder gut gebaute Raum hat einen Gestus, durch den der sich bewegende Mensch in ein Sinn-System einbezogen wird; und jede dieser Gesten ist eine mögliche Welt-Perspektive - und damit in ihrer Singularität ein Allgemeines und eine überdauernde Bedeutung.“28 Die singuläre Situation steht zur „Welt“ in einer nachvollziehbaren Beziehung, bei der die „Welt“ für die allgemeine Geltung steht, die sich in jedem Einzelfall anders verwirklicht. Materialien werden in der Konstruktion eines „Einzelfalls“ eingesetzt wie die Wörter im Satz - nur aus dem Zusammenhang empfangen sie ihren momentanen Sinn. Alle Sätze zusammen formen die Aussage, die ein Gebäude trifft. Bei der Kapelle Sogn Benedetg wird als konstruktives und verkleidendes Material Holz verwendet. Die Frage nach dem Material ist prinzipiell unentscheidbar [ Prinzipiell Unentscheidbare Fragen ], der Rahmen, den die Tradition aber vorgibt, verlangt üblicherweise nach Stein, um den Kirchenbau von profanen Bauten zu unterscheiden. Zumthor legte das Problem auf eine andere Ebene - er korrigierte die Vorstellung vom Material, indem er die Distanz durch den Qualitätssprung im Holzbau erreichte. Die Kapelle stellt den Rahmen an sich in Frage - sie ist Architektur zweiter Ordnung. 172 Die Lesbarkeit eines Gebäudes steht in wechselseitiger Beziehung mit der Lesefähigkeit eines Betrachters. Sowie das Vertrauen in das Gelesene zunimmt, wenn ein Text mit den eigenen Erfahrungen übereinstimmt, wächst das Vertrauen in die Architektur, wenn sich die Aussage eines Gebäudes oder Raumes mit den eigenen Vorstellungen deckt. Es handelt sich dabei nicht wirklich um Sprache, sondern eher um ein Interagieren der Sinne mit dem Objekt. In diesem Sinne entspricht die formale Linguistik der Technologie und die Poetik einer Erweiterung der Bedeutung und der Funktion einer Aussage. Sprache repräsentiert bewusstes Wissen, der Raum dagegen spricht das Innere, die Intuition an. Das Erleben eines Raumes ist eng verbunden mit der synästhetischen Wahrnehmung, die extrem emotional und unbewusst abläuft. Ein widerspruchsfreies Zusammenspiel von haptischen und visuellen Wahrnehmungen und der internen Stimmung, wird als Qualität wahrgenommen. Dass zum Beispiel der Boden im Innenraum der Kapelle von den Wänden Abstand nimmt und in gewisser Weise schwebt, entspricht der inneren geistigen, abgehobenen Haltung des Gläubigen oder Ruhe-Suchenden. Auch die silbernen Wände, die metallisch kühl wirken, tatsächlich aber gestrichenes Holz sind, erinnern an christlichen Ikonenmalereien, an Unberührbarkeit und Ferne. Tritt die äußere Welt - also das Objekt - in Dialog mit unserer inneren, dann spricht man von Reflexion. Diese vollzieht sich in drei gleichzeitigen Momenten - der „setzenden“, der „äußeren“ und der „bestimmenden Reflexion“(vgl. Holz, werk, bauen + wohnen Nr.7/8 2002). Bei der „setzenden“ Reflexion wird bewusst eine Beziehung zwischen Beobachter und Objekt hergestellt. Die „äußere Reflexion“ stellt den Gegenstand in einen Interessenszusammenhang, und bei der „bestimmenden Reflexion“ wirkt er auf mich zurück und beeinflusst so die weiteren Wahrnehmungen. „Entscheidend ist, dass der Gegenstand nicht unmittelbar gegeben ist, wie er ist, sondern vermittelt durch unser Interesse, für das er etwas bedeutet. [...] Was immer er von sich zeigt, ist ein Moment seiner Wirklichkeit - und wenn dies ein allgemeines und Sinnzusammenhänge aufschließendes Moment im Verhältnis des Menschen zu den Dingen ist, dann offenbart sich darin ein Aspekt seines Wesens.“29 An dieser Stelle verweist der Begriff der Lesbarkeit wieder auf die Zeit zurück, da die Reflexion nur bedeutungsvoll bleibt, wenn sie sich 173 nicht verbraucht. Sie verbraucht sich nicht, wenn das Singuläre auf ein Allgemeines verweist. Bleibt das Singuläre singulär, fällt mit dem Verschwinden der zeitlichen Umstände auch die Bedeutung weg. Es wird zur leeren Hülle, wie ein Witz, über den man beim zweiten Erzählen nicht mehr lacht. Zur Lesbarkeit eines Gebäudes gehört daher, in jeder Zeit Bedeutungen zu finden. Dem Besucher wird auf diese Art Orientierung ermöglicht nämlich geistige, die oft viel zu sehr unterschätzt wird. Natürlich spielt die physische Orientierung auch eine große Rolle - eine nachvollziehbare Wegführung ebenso, wie das Verhältnis zum Ort und auch zu den Himmelsrichtungen. Orientierung bedeutet, die Zeichen so deuten zu können, dass man den eigenen Standort in Beziehung zu anderen Orten setzen kann. Es bedeutet, Wertigkeiten von Räumen lesen zu können, z.B. wichtige von unwichtigen unterscheiden zu können. Und es bedeutet letztendlich wieder, eine sinnliche Atmosphäre wahrnehmbar zu machen, die einen selbst im Raum spüren lässt (vgl. Fromm, Der Architekt Nr.1/2 2002) - das vorher erwähnte Übereinstimmen der „Welt“ mit dem „inneren Wissen“. Schulhaus Paspels, Valerio Olgiati Paspels, CH Beim Schulhaus in Paspels von Valerio Olgiati stellt z.B. der Gangbereich 1996-1998 einen Hauptorientierungspunkt dar. Er liegt wie ein verzerrtes Kreuz im Gebäude und reicht bis an alle Außenwände. Dadurch bekommt er Belichtung von den vier Seiten und stellt eine permanente Verbindung zu den jeweiligen Tages- und Jahreszeiten her. Der nordöstliche Teil der Zwischenzone wurde so ausgeweitet, dass ein großes, breites Fenster die Wiese und den Hang inszeniert. Im Südosten wird der Blick durch Verjüngung des Ganges auf die Felswände des Domleschg fokussiert, die anderen beiden Fenster blicken auf den Ort bzw. das alte Schulhaus. Die sechs Klassenzimmer und zwei Besprechungszimmer sind jeweils an den vier Ecken platziert und besitzen alle verschiedene Ausblicke und Grundrisse. Die scheinbar einfache Lösung entpuppt sich wieder als höchst komplex - lauter Gegensätze stehen miteinander im Gleichgewicht. Kein Raum gleicht dem anderen, obwohl die beiden Obergeschosse den selben 174 Grundriss besitzen - fast - denn das 2.OG ist gegenüber dem 1.OG verdreht, wodurch sich die differenzierten Raumsituationen ergeben. Den perfekten Details und den millimetergenauen Ausführungen stehen unexakte Winkel und Farbunterschiede der einzelnen BronzeFensterrahmen gegenüber. Im Gegensatz zum kühlen, hallenden, dunklen Gang sind die Klassenräume in warmer, heller, nach schweizerischen Wäldern duftenden Lärche ausgekleidet. Dass Assoziationen zu alten Bauernstuben wach werden, ist natürlich kein Zufall. Auch Olgiati kennt das Zusammenspiel von Ort und Welt - er ist gebbürtiger Graubündner, lebte und arbeitete aber auch in Los Angeles. Kennt man die Kälte in alpinen Gebieten, so wird man die „Stube“ als einzigen warmen Raum des Bauernhofs zu schätzen wissen. Bedeutungen sind extrem vom persönlichen Kontext, von der Kultur abhängig. Nur wer auch andere Umgebungen (geistige wie räumliche) erlebt hat, hat die nötige Distanz, um Merkmale von den sie erzeugenden Prozessen zu trennen - unter diesem Aspekt ist Olgiatis Vorgehensweise zu betrachten. Die Gegensätze, mit denen operiert wird, stellen keine Inkonsequenz im Entwurf dar, sondern entsprechen dem inneren Konflikt des Gehirns, den es zur Klärung von Gedanken braucht. Vielleicht machen auch gerade sie es möglich, dass ein Gebäude seine Spannung behält. Aus ersten Wahrnehmungen lassen sich Superzeichen bilden, die auf etwas Erlebtes deuten, sich jedoch selbst wieder auflösen, sobald neue Hinweise auftauchen und sich zu anderen Bedeutungen umstrukturieren. Die Zufälligkeit der Verteilung der Fenster in der Fassade erweist sich im Inneren als logische Folge der Verdrehung des Grundrisses. Erst die Dunkelheit und Kargheit des Erdgeschosses bringt die Aussichten der Obergeschosse zum Strahlen. Und das eigentlich gewöhnliche Pultdach erscheint durch Parallelverschieben der Hangsteigung als Flachdach und macht so das Objekt zum verzogenen Quader. Diese kleinen Eingriffe manipulieren unsere Wahrnehmung - sie über- und unterfordern nicht, sie fordern heraus und faszinieren [ Redundanz ]. Wenn sich Verweise erfüllen, „wenn wir in der Lage sind, eine räumliche oder architektonische Gestalt zu erkennen, stellt sich Orientierung ein. Orientierung wiederum schafft das Gefühl des Aufgehobenseins in einem Ordnungssystem, das die Koordination von Handlungen im Raum erleichtert und damit 177 die gewünschten interpersonellen Beziehungen zwischen handelnden Personen zwanglos und unbewusst fördert.“30 Die Funktion umfasst, wie bereits früher erwähnt, zuerst einmal die Erfüllung der gestellten Aufgaben und statischen Erfordernisse. Schutzbauten für Römische Funde, Peter Zumthor Chur, CH Die Anforderungen an z.B. die Schutzbauten in Chur sind relativ einfach 1985-1986 zu formulieren. Es sollte der historische Ort vor Witterungseinflüssen geschützt werden und trotzdem die Atmosphäre und freie Zugänglichkeit bewahrt bleiben. Diese Funktion muss aber auch geistig vermittelt werden. Zumthor entwarf praktisch den Umriss einer gedachten Rekonstruktion. Die zwei im Fundamentbereich erhaltenen Gebäude und ein Eckfragment werden von einem Gerüst aus Holzlamellen überdacht und umschlossen. Der freien Zugänglichkeit begegnete er mit zwei großen vorspringenden Fenstern - eine Anlehnung an die vorgesetzten römischen Eingänge -, die den Besucher jederzeit mittels straßenseitiger Lichtschalter das Innere beleuchten lassen und so Einblick gestatten. Durch die Lamellen dringt in den Körper Licht, Luft und Lärm. Zusammen mit der Stahlbrücke, die alle drei Teile verbindet und von der man die Räume überblickt bzw. zu ihnen hinuntergeht, ergibt sich eine eigenartig fremde und gleichzeitig vertraute Beobachterperspektive. Man befindet sich in einer abstrakten Rekonstruktion historischer Räume und doch in der Gegenwart mit allen alltäglichen Empfindungen und Wahrnehmungen. Es ist ein umgekehrter Käfig, der das zu Beschützende einsperrt. Nach außen zeigen sich die Lamellen so fragil und vergänglich wie das, was sie schützen sollen. Die innenliegende Holzpfostenkonstruktion und die gewaltigen Stahlkörper, die die Decke durchbrechen und das Licht ins Innere konzentrieren, stehen für Stabilität und Dauerhaftigkeit. Und auch die Farbe der Holzlamellen unterstreicht diese Innen-Außen- Beziehung - außen hat sie die Witterung grau gefärbt, innen blieb sie davon verschont. Dass der außenliegende Eingangskörper die Erde nicht berührt und dadurch betont, dass es sich trotz alltäglicher Materialien und Form nicht um einen gewöhnlichen Bau handelt, kann man eindeutig als (poetische) Funktion betrachten. 178 Alle die beschriebenen Begriffe stellen Rückkoppelungsmechanismen oder Kommunikationsmittel dar, die für das Verständnis von Architektur grundlegend sind. Je mehr Verweise man entdeckt, je besser die Sinne geschult sind, desto komplexere Botschaften kann man aufnehmen. [ Informationsästhetik + Redundanz] An dieser Stelle möchte ich noch einmal das Zitat - „Gute Architektur schafft anspruchsvolle Benutzer, indem sie diese voraussetzt.“31 wiederholen und weiterdenken - Anspruchsvolle Benutzer ermöglichen gute Architektur, indem sie diese erkennen. Es ist sehr schwierig, die poetischen Qualitäten eines Gebäudes zu beschreiben ohne dabei ins Symbolische abzugleiten. Unser Verstehen ist holistisch angelegt - wir erkennen nicht nur mit dem ganzen Körper, sondern auch intuitiv, so dass Worte den Bedeutungen nicht gerecht werden können und elementare Empfindungen gar nicht bewusst werden [ Synästhesie ]. Trotzdem werde ich als Zusammenfassung noch einmal versuchen, die erwähnten Kriterien an einem Beispiel „durchzudenken“. Wohnungen für Betagte, Peter Zumthor Masans, CH Ein langgezogener Quader steht quer zu einem leichten Hang in einem 1989-1993 hofartigen Gefüge mit anderen Wohnheimen. Zusammen mit der Linde und der Flurmauer erinnert die Stellung der Gebäude an dörfliche Strukturen - diese Konstellation bildet die Eingangssituation. Die einfache Form des Quaders ist der ruhige Rahmen für eine extrem vielschichtige und durchdachte architektonische Lösung. Der Grundriss ist mehrfach motiviert - die Orientierung ergibt sich aus dem hangabgewandten Privat- und dem hofseitigen Gemeinschaftsbereich. Der Laubengang mit seinen großzügigen Fensterflächen lässt die Lage des Hauses zu seiner Umgebung klar erkennen. Außerdem ermöglicht er die Lesbarkeit des inneren Aufbaus - der große, offene Raum wird rhythmisiert durch die hineinragenden Sanitär- und Küchenboxen. Sie sind auch für die Dynamisierung des Innenraums zuständig und markieren durch ihre Stellung zueinander einen persönlichen Eingangsbereich. Zusätzlich schiebt sich ein verandaartiger Körper in jede Wohnung, der im Gegenzug im Wohnzimmer einen Erkerbereich 180 überlässt. Durch diese mehrschichtig motivierte Lösung ergibt sich die Dichte des Raumes. Wie in der Schule in Paspels tauchen auch hier im Inneren der Wohnungen Assoziationen zu Bündner Stuben auf. Diese Wirkung unterstreichen die bekannten Elemente der sichtbaren tragenden Mauern und die hohl klingenden Holzböden. Ebenso treten die haptischen Qualitäten des im Innen- und Außenbereich verwendeten porösen Tuffsteins in Resonanz zu den in der Ferne sichtbaren Gebirgsketten und gehen damit synästhetische Beziehungen ein. Und schließlich stehen die Gegensätze in einem Gleichgewicht zueinander - dem kühlen Sichtbeton und Stein wird das warme Holz im Inneren entgegengesetzt, der großen, einfachen Form steht der komplexe Raum mit den Nischen gegenüber, konträr zum hangabgewandten Blick vom Privatbereich in die Ferne zeigt sich der gemeinschaftliche, breite Laubengang mit einer sozial orientierten Innensicht zu den umgebenden Gebäuden. Alle diese Merkmale zusammen erzählen von einem ruhigen, zurückgezogenen Altern, motiviert durch die Region, aus der die Bewohner kommen. Die Elemente werden ihnen bekannt sein - vielleicht nicht auf den ersten Blick, aber sie sind aus der Nutzung zu verstehen, und so wird ein Gefühl des Zu-Hause-Seins hervorgerufen, das vielleicht die wichtigste Funktion eines Wohnheims darstellt. Indem die Bewohner für die Verweise ein Zeichen finden, wird einerseits die Identifikation ermöglicht und andererseits für weitere Qualitäten sensibilisiert. Es sind bestimmte Anknüpfungspunkte, die gegeben sein müssen, damit Assoziationsstrukturen aufgebaut werden können. Dadurch, dass im Gebäude regionale Elemente auf eine allgemeine Form zurückführt wurden (z.B. ist das Küchenfenster, das auf den Laubengang und damit das soziale Leben blickt, eine Anlehnung an die Küche als Zentrum des familiären Lebens) und Probleme des Alterns wie Einsamkeit und Selbständigkeit thematisiert wurden, wird es seine Bedeutung in der Zeit vermutlich nicht verlieren. Und selbst wer all diese Hinweise nicht deuten kann, wird erkennen, dass z.B. durch die Tatsache, dass das Schlafzimmer mit dem Wohnzimmer zu einem großzügigen Raum wird durch Verschwinden der Türen in der Kastenwand, die erwarteten Funktionen bei weitem übertroffen 182 werden - primäre Nutzungsstrukturen werden aufgebrochen und die Wahlmöglichkeiten vermehrt. Eines muss zum Schluss noch betont werden - es sind nicht nur die großen Gesten und Konzepte, die die unvergesslichen Empfindungen auslösen, sondern vielmehr das kleinste Detail, das durch Präzision den großen Gedanken unterstützt und übers Unterbewusstsein dicht verknüpft. Ich möchte hier an Zumthors Gedanken anlehnen, dass erst in der Präzision die Entstehung des Vagen und Offenen möglich wird (vgl. Zumthor 1999). Es ist der Handlauf am Eingang der Kapelle, der sich unsichtbar aber fühlbar in der Mitte verdickt, um die Hand zu erfreuen; es ist das Licht, das durch Metalllamellen moduliert ins Kapelleninnere fällt; es sind die schmalen Fugen, die jeden Bauteil der Schule in respektvollem Abstand zueinander halten und die vollkommene Oberfläche des Betons, der die Sonnenstrahlen reflektiert; im Wohnheim verraten die Fensterdetails Perfektion im Handwerk und damit Menschennähe; und bei den Schutzbauten ist es vielleicht der Klang der Stahltür, der an Kellertüren erinnert, der das Verborgene, Verschüttete suggeriert. Fehlen diese kleinen Qualitäten in einem Bauwerk, dann wird das Gefühl des Ganzen nie entstehen, weil unsere Sinne durch und durch synästhetisch angelegt sind! „Es geht nicht um einen Katalog neuer Formen, sondern um das Gehör für einen neuen Ton.“32 © Forenbacher, Marlies. Das Wahrnehmen wahrnehmen. Nicht-Triviale Maschinen in den Alpen. Diplomarbeit, Technische Universität Graz: 2004. 185 Berger/ Luckmann 1966, S.174. Ebda. S.44f. 3 Ebda S.114ff. 4 Gnaiger, Architektur Aktuell Nr.233/234 1999, S.83. 5 Ebda. S.89. 6 Berger/ Luckmann 1966, S.112. 7 Gnaiger, Architektur Aktuell Nr.233/234 1999, S.85. 8 Berger/ Luckmann 1966, S.142. 9 Gnaiger, Architektur Aktuell Nr.233/234 1999, S.85. 10 Berger/ Luckmann 1966, S.64. 11 Conzett, Baumeister Nr.9 2000, S.70. 12 Ebda. S.70. 13 de Weck, „Alles Geordnet, Total Radikal“, in: GEOspecial Nr.2 2002, S.28ff. 14 Gernhardt/ Bernstein/ Waechter, in: Watzlawick/ Krieg (Hg.) 1991, S.139. 15 Hubeli, „Austauschbare Bilder“. http://www.welt.de/daten/2002/07/23. 16 Boga 1977, S.13. 17 Originalzitat: “For me, an appropriate architecture is one that adjusts to normality, one that seeks to respect the needs of its time: an architecture that embraces everything, from the social and economic aspects through to the aesthetic issues.”, Caminada, 2G Nr. 14 2000, S.139. 18 Killmeyer, GEOspecial, Nr.2 2002, S.86. 19 in Anlehnung an von Foersters Zitat „Der Hörer, nicht der Sprecher bestimmt die Bedeutung einer Aussage.“, „2 x 2 = grün“. Audio CD 1, Titel 2. 20 Franck/ Franck, Der Architekt Nr.1/2 2002, S.47. 21 Frisch 1964, S.203. 22 Ebda. S. 200f. 23 Franck/ Franck, Der Architekt Nr.1/2 2002, S.42ff. 24 Zumthor 1999, S.18. 25 Franck/ Franck, Der Architekt Nr.1/2 2002, S.44. 26 Ebda. S.44. 27 Holz, werk, bauen + wohnen Nr.7/8 2002, S.11. 28 Ebda. S.14. 29 Ebda. S.14. 30 Fromm, Der Architekt Nr.1/2 2002, S.40 f. 31 Franck/ Franck, Der Architekt Nr.1/2 2002, S.47. 32 Franck/ Franck, Der Architekt Nr.1/2 2002, S.47. 33 Zumthor, DETAIL Nr.1 2001, S.20. 34 Conzett, http://www.nzz-x.ch/folio/archiv/2001/06/articles/interview.html. 35 Zumthor 1999, S.14. 36 Ebda. S.57. 37 von Foerster, „2 x 2 = grün“. Audio CD 2 Titel 2. 38 Zumthor 1999, S.57. 39 Zumthor 1999, S.38. 40 Zumthor, DETAIL Nr.1 2001, S.21. Zumthor 1999, S.43. Ebda. S. 8. 43 Zumthor, Daidalos Nr.68 1998, S.93. 44 Ebda. S.93. 45 Zumthor, DETAIL Nr.1 2001, S.23. 46 Ebda. S.30. 47 Ebda. S.36. 48 Ebda. S. 58. 49 Ebda. S.10. 50 Ebda. S.18. 51 Ebda. S.30. 52 Ebda. S.17. 53 Zumthor, in: Grönlund 1997, S.11. 54 Ebda. S.36. 55 Ebda. S.10. 56 Achleitner, Architektur Aktuell Nr. 202 1997, S.78. 57 Ebda. S.78. 58 Zumthor 1999, S.57. 59 Ebda. S.25. 60 Conzett, Baumeister Nr. 9 2000, S.71. 61 Conzett, Zuschnitt Nr.2, 2001, S. 20ff. 62 Conzett, Baumeister Nr. 9 2000, S.71. 63 Franck/ Franck, Der Architekt Nr.1/2 2002, S.47. 64 Ebda. S.44. 65 Maturana 1991, S.190. 66 Zumthor 1999, S.60. 67 Meili, Archithese Nr.1 2003, S.6. 68 von Foerster, in: Lynn 1986, S.2. 1 41 2 42 218 219