region als konstrukt

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REGION ALS KONSTRUKT
Weiterentwicklung des Individuums verhindern.
Eine Region besteht aus seinen Individuen - aus einzelnen Orten,
den Gebäuden, die den Ort bilden und den Menschen, die die Häuser
bewohnen. Es sind keine Kennzeichen, es sind die besonderen
Beziehungen, die eine Einheit erzeugen. In Graubünden ist es womöglich
die Kommunikationsbereitschaft, die dazu führte, dass eine bestimmte
Baukultur entstehen konnte, indem sie nicht verhindert wurde.
Die Entwicklung der neuen Bündner Architektur wurzelt wahrscheinlich
bei Rudolf Olgiati und Bruno Giacometti (dem Bruder des Bildhauers
Alberto). Ähnlich der aktuellen Anti-Globalisierungsbewegung wollten
damals beide der Anonymität der Moderne mit einem regional orientiertem
Bauen begegnen. Das heißt, man bezog sich auf die Moderne und stellte
damit die Verbindung zu einer „externen Welt“ her, gleichzeitig war man
sich aber bewusst, dass Probleme nicht allgemein, sondern nur unter den
gegebenen Bedingungen gelöst werden können, weil die Verwirklichung
einer Idee immer von der Struktur in dem Moment abhängt.
Die verlief nämlich prinzipiell anders - das „Bündner Haus“, als statisches
und unveränderliches Modell, gab es nicht, wie Olgiati dokumentierte.
Erstens waren die Bautypen von Tal zu Tal verschieden, zweitens
haben sie sich ständig verändert. Die verschiedenen Einflüsse und
Traditionen wurden auf nicht-triviale Weise im Prozess verarbeitet.
So hat sich z.B. das Fehlen eines rechten Winkels wesentlich klarer
als Merkmal des Engadinerhauses herauskristallisiert, als eine
bestimmte Fassadengestaltung. Das Zusammenspiel von Topographie,
Erschließung, Sicht zum Brunnen und zum Besitz haben einen
rechten Winkel nie entstehen lassen. Die Fassade ist Summe der
Nutzungsfunktionen - Sockel und Küche in Stein, Stube in Blockbau,
die Scheune aus Rundhölzern. Dementsprechend haben sie in Material,
Größe und Lage differenziert. Und als Folge davon mussten sie sich
auch ändern, als zum Beispiel die Scheune verschwand.
Das Individuum wurde also nicht der Spezies untergeordnet, sondern
generierte sie erst. Man vergleiche hier die Statik von Definitionen mit
der Statik von „Stil“. So wie der Stuhl sich über seine Funktion, seinen
Gebrauch („wenn man darauf sitzen kann“) definiert und seine Form sich
ständig ändern kann (er muss nicht zwingend ein Möbelstück mit vier
Beinen sein), so ändert sich regionale Baukultur mit seiner Funktion. Das
Festhalten an einem Stil ist nur Ausdruck eines Bedürfnisses nach einer
statischen Ordnung, die es nicht gibt. Das ist das Problem der Neuerung
- es ist für einen systeminternen Betrachter sehr schwer bis unmöglich,
sich eine Welt außerhalb oder verschieden von der vorzustellen, die er
sich aufgebaut hat (vgl. Berger, Luckmann, 1966).
Olgiati suchte nach der dynamischen Stabilität der Dinge, statt sich
auf starre Definitionen einzulassen. Was hätte es auch heute für einen
Sinn, kleine Fensteröffnungen zur formalen Regel zu machen, wenn sie
ursprünglich durch den hohen Fensterglaspreis und kalte Winter bedingt
waren. Heute haben wir wärmetechnisch komplett neue Voraussetzungen
und Licht und Sonne wurden durch einen veränderten Lebenswandel
wichtiger - die Modifikation des Schemas wurde notwendig.
Rudolf Olgiati wurde 1910 in Chur geboren, studierte Architektur in
Zürich und zog nach Flims, einem bekannten Wintersportort mitten in
Graubünden, wo er auch die meisten Arbeiten ausführte. Ähnlich wie
Zumthor kam er nicht aus dem Ort, wo er arbeitete und den Großteil
seines Lebens verbrachte.
Olgiati, der bedeutende internationale Auszeichnungen für seine
alpine Architektur bekam, kritisierte die Moderne dafür, traditionelle
Bauweisen zu verdrängen, um die neue Architektur zu etablieren. Diese
„Deformation“ der internationalen Moderne glich die Schweiz so aus,
dass sich ein Heimat- und Landistil in mehreren Varianten bemerkbar
machte. Auf der einen Seite waren diese Bezeichnungen positiv besetzt,
da damit der Widerstand gegen die Verstädterung der Landschaft und die
Industrialisierung des Lebensraumes, den Historismus und die Moderne
gemeint war. Andererseits war es eine regressive, konservierende
Bewegung, die sich in einer volkstümlichen Architektur niederschlug, die
„typische Ausdrucksformen“ festzulegen versuchte.
Und daraus entstanden Architekten wie Olgiati und Giacometti, die
wiederum diesem Phänomen entgegenwirkten. Sie meinten, die
sogenannten „typischen Stilmerkmale“ wären ähnlich dogmatisch
wie die Moderne. Sie würden eine Spezies formen und damit die
142
Die tatsächliche Ausformung eines Baus ist jedoch nicht nur nach
funktionellen und ökonomischen Gesichtspunkten ausgerichtet, sondern
auch nach traditionellen.
143
So zeigte sich germanischer Einfluss bei der Verwendung von Holz
oder bei der zerstreuten Siedelungsform und der romanische in der
Steinarchitektur, sowie einer dichten Siedlungsstruktur. Im Norden
entwickelte sich daher die Holzarchitektur, im Süden wurde der
Steinbau bestimmend. Ich würde diese Beibehaltung aber weniger als
Geschichtsbewusstsein bezeichnen, sondern als einfacheren Weg.
Nachdem z.B. die Germanen diese Bauweise relativ gut entwickelt
hatten, war es einfacher, Techniken von ihnen zu übernehmen, als
alles selbst zu erfinden, und dort wo Veränderungen sinnvoll waren,
passierten sie sowieso.
Heute noch finden sich zentrale Prinzipien in Rudolf und Valerio Olgiatis,
Bearth und Deplazes’ und vielleicht auch Zumthors Entwürfen. Es
handelt sich dabei um folgende Gemeinsamkeiten: Das Engadinerhaus
zeigt sich als Steinmasse, also nicht in einzelnen Wandflächen,
sondern als gesamtes Volumen. Diese Wirkung unterstützen die schräg
eingeschnittenen Festerleibungen, das geringe Dachgefälle und der
schmale Dachvorsprung, um rein der obere Abschluss des Volumens
zu sein, oder das Fehlen einer Fassadengliederung, um die Fassade
nicht zu zerteilen und damit den Körper in seiner Gesamterscheinung zu
stören.
Rudolf Olgiati meint, „daß Architektur durch die Sinne, nicht durch den
Intellekt wahrgenommen wird.“16 So wie nicht-triviale Maschinen, die
auch nur synthetisch determiniert, bzw. beobachtet werden können, nicht
aber analysiert. Dass er ein fantastischer „Synthetisierer“ war, zeigt seine
Architektur. Die umgrenzenden Mauerschalen schützen die Bewohner
im Inneren, die Volumina bleiben erkennbar. Durchgänge sind als
Wölbungen beziehungsweise Bögen ausgeformt, um die Mauerschale
nicht zu brechen und das Gebäude im Boden, im Ort zu verankern.
Die Fenster sind meist annähernd quadratisch, um ja nicht die Schale
zu zerschneiden, wie es Schlitze tun würden. Außerdem sind sie nicht
regelmäßig angeordnet, um die Auflösung der Einheit in vertikale Säulen
und horizontale Bänder zu verhindern. Entsprechend dem Engadinerhaus
wird jede Öffnung getrennt, seiner Funktion entsprechend behandelt,
und - auch ein wesentliches Merkmal aller weiterer Beispiele - seine
Architektur ist von Gegensätzen geprägt.
Harte, dunkle Dachflächen stehen im Kontrast zu den weißen Prismen,
oder ruhige Flächen zu konzentrierten Öffnungen - alles mit dem Ziel
145
der Entspannung, Befreiung, Lösung - so Olgiati. Das Bedürfnis des
Menschen nach gegensätzlichen Wahrnehmungen, dürfte in seiner
eigenen Dualität liegen.
Rudolf Olgiati hat damit scheinbar von den fertigen Gebäuden zurück
zu den Bildern gefunden, also wie von den Sätzen wieder zu den
Erfahrungen. Und er hat auch neue Sätze, oder fast eine Art neue
Sprache entwickelt. Den Grundbau dieser Sprache akzeptiert er und
baut daraus neue Bedeutungen.
Gelbes Haus, Valerio Olgiati
Flims,
CH
Ähnliches lässt sich am Gelben Haus in Flims verfolgen,
das sein
1995-1999
Sohn Valerio Olgiati nach seinem Tod umbaute. Es ist das älteste
Haus von Flims - aus den 1870er Jahren, das Rudolf Olgiati vor dem
Abriss schützen wollte, aber nie eine Genehmigung für den Umbau
bekam. In seinem Nachlass verfügte er, seine regional ausgerichtete
kulturhistorische Sammlung der Gemeinde zu vermachen, wenn das
Haus in seinem Sinne zu einem kulturellen Zentrum umgebaut und weiß
gestrichen würde. Das passierte dann auch durch seinen Sohn, der
ebenfalls in Zürich studiert hatte.
An diesem Gebäude lässt sich direkt verfolgen, wie die Bestandteile
einer Architektur durch neue Bedingungen differenzierte Interaktionen
entwickeln mussten und sich selbst neu definierten.
Die Grundmauern blieben stehen, aber man schlug den Putz von den
Fassaden, bis nur mehr die rohen Mauerschalen übrig blieben. Diese
wurden dann weiß gekalkt, wodurch sie Konstruktion, Risse, Wunden
und Eingriffe erst recht freilegten. Olgiati entfernte auch Balkon, Giebel,
Dach und Sprossenfenster– es blieb nur mehr das Grundgerüst, das in
ein neues Satzgefüge eingepasst werden musste, um seine gewandelte
Bedeutung zu bekommen.
Die Fensterlaibungen der fast quadratischen Öffnungen wurden betoniert,
das sehr flache Dach aus weiß gestrichenen Schieferplatten auf die
betonierte Attika ohne Vorsprung gelegt. Es entstand der Eindruck eines
blendend weißen Kubus, den Olgiati im Altbau „gefunden“ hat.
Aber es ist nur scheinbar ein Würfel, so wie auch die Fenster nur
beinahe quadratisch sind - der Grundriss ist trapezförmig, die Fenster
146
sind etwas höher als breit und die Dachkante ist geneigt. Die Wirkung
des „ausgehöhlten Hauses“ verstärkte er, indem er die Innenmauern
mit einer vorgesetzten Holzkonstruktion um zehn Zentimeter nach innen
verlegte und die Fenster bündig anordnete. Das ganze Gebäude ist von
„unperfekten“ Proportionen gekennzeichnet.
Die Holzbalkendecken werden von einer exzentrisch angeordneten
Stütze und der First von einer vertikal geknickten, ebenso exzentrischen
Stütze getragen. Alles ist radikal weiß gestrichen, ganz dem Nachlass
folgend, nur die Holzböden sind unbehandelt.
Eigentlich ist der ganze Bau von extremer Radikalität geprägt, die ihn
damit auch in einen größeren schweizerischen Kontext bringt. Die Fenster
sind perfekt bündig, das Weiß schneeweiß, Fußleisten fehlen natürlich,
Sockelbereich gibt es auch keinen, neue Bauteile sind aus Sichtbeton,
die Mauern noch dicker als von Natur aus und alle Materialien so pur wie
möglich eingesetzt.
Das Verhältnis Alt-Neu wurde nicht nur in der eigenen Geschichte des
Gebäudes neu hergestellt, sondern auch im örtlichen Umfeld. Das raue
Mauerwerk verweist auf die Felsen im Hintergrund, und zusammen
mit dem historistischen und dem Blockbau-Nachbarn bildet es eine
einzigartige Einheit - alles (wie üblich bei neuer Bündner Architektur)
genauestens reflektiert - und zwar in der umfassenden Bedeutung dieses
Wortes (siehe Abb.) - so dass man an Zufälle kaum mehr glauben kann.
Das Gelbe Haus stellt für sich ein autopoietisches System dar. War es
zuerst eine Einheit, deren Zusammenhalt durch seine Bestandteile erzeugt
wurde und damit auch diese in ihrer Bedeutung bestimmte, so wechselte
mit den neuen Beziehungen, die die Bestandteile ermöglichten, deren
Wahrnehmung. Man kann das System in einem größeren Kontext auch
als allopoietisch, also von außen verursacht sehen. Die Deformationen,
die das Gebäude von außen erfuhr, wie neue Funktionsanforderungen,
Umwelteinflüsse, die den Verfall begünstigten, neue Anschauungen etc.
musste es in inneren Prozessen, in denen der Architekt zum Bestandteil
wurde, möglichst effektiv ausgleichen. Diese Gesamtveränderung des
Gebäudesystems wirkte dialektisch zurück auf sein Umfeld und war
damit an einem Wandel des Metasystems Ort beteiligt.
Es ist unwahrscheinlich, dass mehr als 30 Bauten von Rudolf Olgiati
und ein markantes Gebäude wie das Gelbe Haus (es heißt noch immer
149
so), das noch dazu an einem bedeutenden Platz der Durchzugsstraße
ins Vorderrheintal, steht, keinen nachhaltigen Einfluss auf die zukünftige
Architekturentwicklung haben soll. Besonders, da das strahlend weiße
Haus genug öffentliche Diskussionen provoziert hat. Man könnte die
Beschmierung der Rückseite („Nur ein gebildeter Idiot baut einen
Betonklotz in die Gegend“) ja fast so auslegen, dass das Gebäude in
eine direkt verbale Kommunikation tritt.
Es wird nicht nur bemerkt, es löst auch Reaktionen aus.
Dass das System aber nicht regressiv in diesem Dialog reagiert,
zeigt die Auswahl des Wettbewerbentwurfs von Valerio Olgiati für ein
neues Restaurant am Caumasee, einem türkisblauen Gebirgssee bei
Flims. Es ist ebenso radikal, ebenso poetisch, ebenso pur und schärft
wiedereinmal die Sinne - für den Wandel der Natur und der Jahreszeiten
im Zusammenspiel mit der Architektur. Aber das tut es natürlich ganz
anders - nur die Vorgangsweise ist ähnlich, die Verwirklichung muss eine
radikal neue sein.
Da in der Schweiz das Volk entscheidet, muss man in Flims von einer
fundamentalen Bereitschaft ausgehen, Architektur als lebenden und
nicht konservierenden Teil der Gesellschaft zu akzeptieren und sogar zu
fördern.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal zurück in die Zeit gehen, als
Olgiati und Giacometti bekannt wurden - es war auch die Zeit, als Peter
Zumthor als Architekt der kantonalen Denkmalpflege seine Tätigkeit in
Graubünden aufnahm. Seine ersten Entwürfe, wie ein Café-Ausbau
in Vella, zeugen von Olgiatis Einfluss. Er knüpft damit erstens an die
Geschichte an, zweitens - was noch viel wichtiger ist - startet er mit
seiner Tätigkeit eine völlig neue. Dadurch, dass er für die Siedlungsin
ventarisierung und Bauberatung der Dörfer zuständig war, legte er die
Grundlagen für die heutigen Bedingungen, auf denen nicht nur er seinen
Erfolg später aufbauen konnte, sondern auch seine jüngeren Kollegen.
Und diese Verflechtungen reichen sogar noch weiter - die meisten der
heute in Graubünden bauenden Architekten haben in seinem Büro
„gelernt“. Es ist also nicht verwunderlich, dass Bearth und Deplazes’
Bauten Elemente Zumthors phänomenologischer Denkweise mit dem
von Olgiati dokumentierten Engadinerhaus vereinen.
150
Schulhaus Vella, Valentin Bearth + Andrea Deplazes
CH
Zum Beispiel bei ihrer Schule in Vella - eine Gemeinde im ValVella,
Lumnezia,
1994-1997
dem Tal des Lichts, das für seine außerordentlich hohe Anzahl an
Sonnentagen (auch im Winter) bekannt ist.
Es handelt sich dabei um einen Um- und Ausbau eines Schulhauses
aus den 1950er Jahren. Erblickt man zum ersten Mal den Komplex, wirkt
er durch seine strikte, einfache und glatte Form fremd und abweisend.
Bei näherer Betrachtung fängt aber jede Detaillösung an, sich mit seiner
Umgebung zu verweben.
Statt den Ort von einem großen Volumen dominieren zu lassen,
entschied man sich dafür, die Funktionen auf vier einzelne Gebäude
aufzuteilen. Auf diese Weise ordnen sie sich den umgebenden Volumina
unter, integrieren den Bestand und inszenieren gezielte Ausblicke aufs
Tal.
Die strahlend weiß gestrichenen, trichterförmigen Fensterlaibungen,
die sich markant von der erdiggrauen Fassade abheben, stehen nicht
nur formal in Zusammenhang mit der Plastizität des Engadinerhauses,
sondern vor allem mit der Ausnützung der Sonnentage. Die
Abschrägungen der großformatigen Fensteröffnungen nach Süden
verlängern die Einstrahldauer und nützen im Winter zusammen mit den
umgekehrt aufgehängten Lamellenstores, die die Strahlen auf die Decke
umlenken, die passive Sonnenenergie.
Dieses innovative Energiekonzept, das sich auf das simple Prinzip
der Kombination von effektiver, außenliegender Wärmedämmung mit
möglichst viel unverkleideter Masse im Inneren gründet, erspart eine
Heizung. Gleichzeitig vereinigt es das traditionelle Sinnbild einer Decke
- nämlich die Rippendecke der Bündner Stube - mit dem Baustoff Beton
und erfüllt dadurch drei Funktionen - die Speicherfläche wird verdoppelt,
die dazwischenliegenden Neonröhren bekommen einen Blendschutz
und durch ihr asymmetrisches Profil kann auch der Nachhall geregelt
werden.
Jede Entscheidung ist mehrfach motiviert - unter diesem Aspekt muss
auch die Sachlichkeit, mit der der Bau nach außen auftritt und die so oft
Schweizer Architektur nachgesagt wird, betrachtet werden. Letztendlich
ist es die konsequente Rückführung regionaler Merkmale auf deren
Ursprung - die Erhaltung eines kompakten Volumens, das durch die
Fenstereinschnitte, den nicht vorhandenen Dachvorsprung, Material und
153
Farbe unterstützt wird.
Und da Bauen im Bündnerland Leidenschaft bedeutet, muss noch
auf die feinen Extras verwiesen werden - die scheinbar geschlossene
Hoffassade kann durch Flügeltüren die dahinterliegende Bühne in ein
Freilufttheater verwandeln. Dasselbe macht das ganze Gebäude, indem
es durch seine zurückhaltende Perfektion das Alpenpanorama zum
Schauspiel macht.
In der Beschränkung auf das Wesentliche besteht die eigentliche Poesie
des Gebäudes.
Die Verbindung zu und durch Zumthor ist immer wieder spürbar. In Vella
wurde z.B. Valser Gneis als Bodenbelag verwendet - eine ökonomische
Entscheidung, weil es der Restposten der Therme Vals war, gleichzeitig
zeugt es aber vom Respekt Zumthors Können gegenüber.
Auch Jürg Conzett entstammt Zumthors Büro. Er stellt eine zusätzliche
Ebene des Bündner Netzwerks dar - das Ingenieurbüro Conzett,
Bronzini + Gartmann ist an der Tragwerksplanung von einem Großteil
der Bauvorhaben der letzten Jahre beteiligt. So hat Conzett z.B. an der
Strickbauweise in Vrin und Duvin mit Gion Caminada mitgewirkt.
Gesamtprojekt Vrin, Gion Caminada
Vrin, CH
Vrin gehört zu den am Besten erhaltenen und noch bewohnten Orten der
1991-...
Alpen, da er einfach zu arm war, um sich weiterzuentwickeln. Das Dorf
blieb vom Tourismus und der Moderne verschont.
Auf einer Höhe von 1.445 Meter liegt Vrin am Ende einer engen,
25 Kilometer langen Zufahrt an einer schmalen Hangterrasse. Die
Landwirtschaft ist nach wie vor die vorherrschende Beschäftigung,
und das Ortsbild wird daher von Bauernhöfen dominiert. Ein Drittel der
Bevölkerung arbeitet aber außerhalb Vrins.
Aufgrund der Abwanderung, die mit dem Bauernsterben einsetzte,
kämpfte der Ort wie alle Bergbauerndörfer ums Überleben. Mit nur mehr
260 Einwohnern unterschritt er weit die kritische Grenze. Durch das
Zusammenspiel von glücklichen äußeren Umständen und zielführender,
innerer Kommunikationsbereitschaft kann er aber heute mehr Geburten
als Todesfälle verbuchen und wurde damit zum Ausflugsziel zahlreicher
154
Agrarspezialisten, Soziologen und Architekten.
Oberhalb von Vrin befindet sich ein natürlicher Skulpturengarten, die
Greina, der durch die Errichtung eines Staudamms in den 1980er Jahren
zerstört worden wäre. Das konnte verhindert werden, dem Dorf, das
durch den Verkauf reich geworden wäre, muss der Bund dafür jährlich
Entschädigungen zahlen. Die ökonomische Autonomie, die Vrin dadurch
erreichte, nahm es zum Anlass, eine Strategie zu entwickeln, den Ort zu
retten.
Das Zusammenwirken aller (Politiker, Wirtschafter, Bauern, Architekt)
führte und führt zum Ziel, obwohl die Lage noch nicht völlig stabilisiert
ist.
Auf politischer Ebene legte man zunächst fest, Land billig an Bauwillige
abzugeben, die sich im Gegenzug dazu verpflichten müssen, es 25
Jahre lang nicht zu verkaufen. Zusammen mit dem Ausbau der Schule
führte das zum Zuzug junger Familien.
Mit Hilfe eines Schweizer Agrarspezialisten wurde ein wirtschaftliches
System des Direktmarketing ausgearbeitet. Das Vieh wird seitdem nicht
mehr zu schlechten Preisen ins Tal verkauft, sondern direkt vor Ort zum
Qualitätsprodukt Bündner Fleisch verarbeitet. Die Rinder werden in Vrin
geschlachtet, das Fleisch gekühlt, getrocknet und selbst vermarktet. Auf
diese Weise bleibt die Arbeit und die Wertschöpfung im Ort, was dazu
führte, dass es auch den Bauern ideell und materiell nicht wegzog.
Die Veränderung der Lebensbedingungen bewirkte auch religiöse
Verschiebungen. Der Dialog zwischen säkularem und profanen Bereich
wird immer bedeutender - eine Totenstube wurde gebaut.
Die Architektur entstand im Schnittpunkt dieser geistigen und materiellen
Ressourcen - es ging also nicht um Vorzeigebauten, sondern um die
Entwicklung im Alltäglichen, im ganz Gewöhnlichen.
Gion Caminada, „der Architekt“ des Dorfes und selbst Bauernsohn,
begann eine Schreinerlehre im Ort, schloss die Kunstgewerbeschule ab
und studierte danach Architektur als Nachdiplom auf der ETH Zürich, wo
er heute als Professor lehrt.
Die Totenstube ist ein von ihm initiiertes Projekt, das die Kluft zwischen
alten Traditionen und modernem Wohnen überbrücken soll. Wurde früher
der Tote drei Tage im Haus aufgebahrt und von allen verabschiedet, so
ist dafür in den heutigen Wohnungen weder der Wille noch der Platz
157
vorhanden. Das Sterben wurde abstrakt und damit vor allem jüngere
Generationen diesem Prozess entfremdet. Die Totenstube bringt den
Toten aus dem privaten in einen öffentlichen Bereich. Es ermöglicht
auf ähnliche Weise eine Verabschiedung, bei der der Tote noch Teil
der Gesellschaft ist. Den Rest des Jahres ist das Gebäude für Lebende
gedacht - ähnlich dem Ritual des Fensteröffnens nach der Trauerzeit, um
das Leben wieder herein zu lassen.
Ganz bewusst steht es direkt neben der Kirche, aber doch außerhalb der
Friedhofsmauern.
Dass Caminada als Architekt vor allem die Erhaltung und
Weiterentwicklung Vrins verfolgt, beweist er, indem er für Einwohner
bewusst Spezialpreise macht und auch die Beschaffung der Kredite
besorgte. Der Schulum- und -ausbau ist eine weitere Maßnahme
- sie ermöglicht, dass die Kinder nicht in die Stadt müssen und stellt
eine wesentliche Freizeitbeschäftigung der Jugendlichen dar. In einer
Hanglange wie dieser könnte nirgends außer auf einem befestigten
Sportplatz Fußball gespielt werden.
Gleichzeitig wurde eine Strategie ausgearbeitet, auf die neuen
landwirtschaftlichen Bedingungen zu reagieren und planlose Zersiedelung
zu verhindern. Ausbauten sollten im Sinne einer Wiedervereinigung
von Haus, Stall und Gemüsegarten erfolgen. Neubauten und
Erweiterungen passieren am unmittelbaren Ortsrand, und anstatt großer
landwirtschaftlicher Anlagen werden Abfolgen mehrerer kleiner Ställe
geplant.
Der Architekt als gesellschaftlicher Motor, der im Spannungsfeld von
ökonomischen und ideellen Interessen arbeitet. Zum Beispiel das
Schlachthaus.
Für den Sockel- bzw. Erdgeschossbereich wurden die scheinbar
unbrauchbaren Steine der unmittelbaren Umgebung verwendet, für
das Obergeschoss Holz, das auch billig, abgabenfrei und reichlich in
nächster Nähe vorhanden ist. Beide Materialien prägen das Ortsbild und
integrieren dadurch das Gebäude, das sich am Ortsrand befindet. Das
Material ist es auch, das die Bevölkerung einbezieht. Es wird durch das
Wissen um den Gebrauch gewählt und doch frei von jeder überlieferten
Bedeutung verwendet.
158
Für die neuen Ställe hat Caminada seit 1996 ein eigenes „StrickbauSystem“ entwickelt, basierend auf dem Prinzip der horizontalen
Schichtung der traditionellen Blockbauweise. Es besteht aus dem
Grundelement eines aus Holzbalken gefertigten Rahmens von 1,25 m
auf bis zu 12 m. Diese werden übereinander geschichtet, an der Ecken
verbunden, innen mit Spanplatten, die auch als Aussteifung dienen, und
außen mit den üblichen rohen Brettern verkleidet.
Die Bauern können Material und Konstruktion verstehen, die Handwerker
damit umgehen, und die Arbeit bleibt im Ort. Die Motivation ist hoch Schreiner und Schlosser sind bemüht, möglichst alles selber zu machen.
Und ein zusätzlicher Nutzen für den Architekten ergibt sich wie von
selbst durch die Einbindung der ortsansässigen Arbeiter - der Bau wird
schneller akzeptiert, sogar bei denen, die nicht direkt daran beteiligt
„Für mich ist Architektur dann angemessen, wenn sie zur
sind.
Normalität wird, wenn sie versucht, die Bedürfnisse ihrer
Zeit zu respektieren: eine Architektur, die alles umfasst,
von sozialen und ökonomischen Aspekten bis zu ästhetischen
Fragen.“17
Es ist der konkrete Ort mit seinen Bedingungen, der die Kriterien
für die Qualität von Architektur vorgibt. Vrin z.B. verträgt nicht viele
Veränderungen. Es geht um den Schutz einer Kulturlandschaft, die an
lokalen Traditionen orientiert ist und gleichzeitig den Anforderungen der
heutigen Zeit gerecht werden muss, also frei von Sentimentalität ist. Ein
Neubau soll sich als solcher zeigen, trotzdem aber mit seinem Umfeld
eine Einheit formen.
Diese Einheit wird immer wieder unter dem Begriff des Ortsbilds
zusammengefasst. Es handelt sich dabei aber nicht um eine
objektivierbare Tatsache, sondern stellt unter der interessensgesteuerten
Wahrnehmung ein ständiges Konstrukt dar. Der Städter sucht die
Ausblicke auf die Natur, die Weite und Ruhe, der Bauer Intimität, Nähe
„Wenn der neue Stall funktioniert, hat der
und Geschlossenheit.
Bauer auch nichts gegen Ästhetik.“18
Zwei Schulbauten, Gion Caminada + Conradin Clavuot
Duvin + St.Peter, CH
Ähnlich wie in Vrin legte bei zwei weiteren Schulneubauten der Ort die
1994-1995 + 1994-1998
Ausgangsbedingungen fest. Beide Projekte entwickelten den Blockbau
weiter, beide blieben unspektakulär, aber qualitativ anspruchsvoll, und
beide gehen wieder auf eine Zusammenarbeit mit Conzett zurück.
160
In Duvin hat Caminada durch eine eigens entwickelte Holz-BetonVerbunddecke die Spannweiten des Strickbaus mit neun Metern
ausgereizt. Dadurch konnte er neue Anforderungen wie große
Fensteröffnungen in einer Konstruktion verwenden, die sich aus der
Tradition entwickelte, ohne sie nachzuahmen. Daher vereint die Schule
sich auch wie selbstverständlich mit dem benachbarten Gemeindehaus
in Fachwerkbauweise und der Steinkirche zu einer neuen Einheit.
Das Schulhaus in St. Peter von Conradin Clavuot fügt sich in ein ähnlich
sensibles Gefüge ein. Das Gebäude erscheint wie die Abstraktion
eines Blockhauses, dessen Reinheit durch die Perfektion der Details
unterstrichen wird. Durch den geringen Aufwand in Material und
Konstruktion (beides integrierte wieder die lokalen Ressourcen) konnte
die schmale Budgetierung, die ebenso eine Gemeinsamkeit der neuen
Bauten in Graubünden ist, eingehalten werden.
Wenn Architektur autopoietisch organisiert ist und sich selbst durch seine
Beziehungen herstellt, dann führte auch das dichte persönliche Netzwerk
in Graubünden zur Entwicklung der Qualität. Obwohl es der größte
Kanton der Schweiz ist, konnte man eine Kommunikation aufbauen, die
so effektiv war oder ist, dass es möglich wurde, eine langfristige Wirkung
allgemein und die Erneuerung der Dorfkultur speziell zu bewirken.
Immerhin kennt man sich entweder aus Zumthors „Werkstätte“, über
Olgiati, den gemeinsamen Statiker Conzett, hat zusammen in Zürich
studiert oder lehrt heute miteinander an der Accademia di Architettura di
Mendrisio.
Dass sich daraus ein System der Kooperation statt der Konkurrenz
entwickelte (zumindest scheint es aus der Außenperspektive so), war
zwar nicht zwingend, offensichtlich aber zielführend.
Region wird zum Konstrukt der Individuen, zur Erfindung seiner
Subjekte.
© Forenbacher, Marlies. Das Wahrnehmen wahrnehmen. Nicht-Triviale
Maschinen in den Alpen.
Diplomarbeit, Technische Universität Graz: 2004.
163
Berger/ Luckmann 1966, S.174.
Ebda. S.44f.
3
Ebda S.114ff.
4
Gnaiger, Architektur Aktuell Nr.233/234 1999, S.83.
5
Ebda. S.89.
6
Berger/ Luckmann 1966, S.112.
7
Gnaiger, Architektur Aktuell Nr.233/234 1999, S.85.
8
Berger/ Luckmann 1966, S.142.
9
Gnaiger, Architektur Aktuell Nr.233/234 1999, S.85.
10
Berger/ Luckmann 1966, S.64.
11
Conzett, Baumeister Nr.9 2000, S.70.
12
Ebda. S.70.
13
de Weck, „Alles Geordnet, Total Radikal“, in: GEOspecial Nr.2 2002, S.28ff.
14
Gernhardt/ Bernstein/ Waechter, in: Watzlawick/ Krieg (Hg.) 1991, S.139.
15
Hubeli, „Austauschbare Bilder“. http://www.welt.de/daten/2002/07/23.
16
Boga 1977, S.13.
17
Originalzitat: “For me, an appropriate architecture is one that adjusts to normality,
one that seeks to respect the needs of its time: an architecture that embraces
everything, from the social and economic aspects through to the aesthetic issues.”,
Caminada, 2G Nr. 14 2000, S.139.
18
Killmeyer, GEOspecial, Nr.2 2002, S.86.
19
in Anlehnung an von Foersters Zitat „Der Hörer, nicht der Sprecher bestimmt die
Bedeutung einer Aussage.“, „2 x 2 = grün“. Audio CD 1, Titel 2.
20
Franck/ Franck, Der Architekt Nr.1/2 2002, S.47.
21
Frisch 1964, S.203.
22
Ebda. S. 200f.
23
Franck/ Franck, Der Architekt Nr.1/2 2002, S.42ff.
24
Zumthor 1999, S.18.
25
Franck/ Franck, Der Architekt Nr.1/2 2002, S.44.
26
Ebda. S.44.
27
Holz, werk, bauen + wohnen Nr.7/8 2002, S.11.
28
Ebda. S.14.
29
Ebda. S.14.
30
Fromm, Der Architekt Nr.1/2 2002, S.40 f.
31
Franck/ Franck, Der Architekt Nr.1/2 2002, S.47.
32
Franck/ Franck, Der Architekt Nr.1/2 2002, S.47.
33
Zumthor, DETAIL Nr.1 2001, S.20.
34
Conzett, http://www.nzz-x.ch/folio/archiv/2001/06/articles/interview.html.
35
Zumthor 1999, S.14.
36
Ebda. S.57.
37
von Foerster, „2 x 2 = grün“. Audio CD 2 Titel 2.
38
Zumthor 1999, S.57.
39
Zumthor 1999, S.38.
40
Zumthor, DETAIL Nr.1 2001, S.21.
Zumthor 1999, S.43.
Ebda. S. 8.
43
Zumthor, Daidalos Nr.68 1998, S.93.
44
Ebda. S.93.
45
Zumthor, DETAIL Nr.1 2001, S.23.
46
Ebda. S.30.
47
Ebda. S.36.
48
Ebda. S. 58.
49
Ebda. S.10.
50
Ebda. S.18.
51
Ebda. S.30.
52
Ebda. S.17.
53
Zumthor, in: Grönlund 1997, S.11.
54
Ebda. S.36.
55
Ebda. S.10.
56
Achleitner, Architektur Aktuell Nr. 202 1997, S.78.
57
Ebda. S.78.
58
Zumthor 1999, S.57.
59
Ebda. S.25.
60
Conzett, Baumeister Nr. 9 2000, S.71.
61
Conzett, Zuschnitt Nr.2, 2001, S. 20ff.
62
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