Strategisches Wählen im «neuen Kulturkampf» Analysen des Wahlforschungsprojekts Selects 2007 NZZ, 30.10.2010 Die Mehrheit des Stimmvolks neigt nicht zu Extremen. Wie aber erklärt sich die Polarisierung? Politologen nehmen an, dass auch moderate Wähler strategisch für ideologisierte Parteien stimmen - damit sich politisch überhaupt etwas bewegt. , Martin Senti, Bern Das schweizerische Parteiensystem ist im Wandel. Traditionelle Loyalitäten von Wählern gegenüber Parteien nehmen ab, Wahlkampagnen werden zentralisiert und professionalisiert, und zusehends scheint ein Identitätskonflikt zwischen Tradition und Moderne den klassischen Links-Rechts-Verteilkonflikt zu übertrumpfen. Von einem «neuen Kulturkampf» sprechen nun Politikwissenschafter, die am Freitag in Bern Analysen aus dem Wahlforschungsprojekt Selects 2007 vorgestellt haben. Eliten und Basis Wie schon nach den Wahlen 2003 wird der Forschungsverbund Selects (Swiss Electoral Studies) seine Ergebnisse in einem Sonderband der «Zeitschrift für Schweizerische Politikwissenschaft» veröffentlichen. In 10 englischsprachigen Beiträgen untersuchen insgesamt 17 Autoren auf Grundlage der Selects-Umfragen bei über 4000 Stimmberechtigten das Wahlverhalten sowie Zusammenhänge zwischen Wählern und Gewählten. Letzteres wurde dank einer ergänzenden Befragung von Kandidaten im Vorfeld der Wahlen 2007 möglich; gemäss dem SelectsProjektverantwortlichen Georg Lutz (FORS, Lausanne) beteiligten sich gut die Hälfte der Adressaten an dieser Zusatzerhebung. Ein erstes Ergebnis aus dem Vergleich der politischen Einstellungen von Kandidaten und Wählern: Die Eliten sind ideologisierter als ihre Wähler, sie neigen politisch zu extremeren Positionen. Die Verteilung im politischen Raum illustriert denn auch, dass sich die Wähler im Vergleich zu den Kandidaten parteiübergreifend eher im Zentrum befinden (vgl. Grafik links). Dieses Resultat lässt sich allerdings nach PolitikDimensionen differenzieren, wie Lutz erläuterte: Unter den Eliten der einzelnen Parteien polarisieren insgesamt stärker Fragen der Umverteilung, die Wählerschaft dagegen spaltet sich in ihrer Gesamtheit stärker entlang der «kulturellen» Achse also etwa bei Fragen der gesellschaftlichen Modernisierung oder der Öffnung bzw. Abschottung gegen aussen. Vergleicht man den ideologischen Abstand zwischen den Kandidaten und ihren Wählern, so zeigen sich die grössten Diskrepanzen erwartungsgemäss an den Polen (SVP, SP und Grüne). Bei den moderaten bürgerlichen Parteien fällt der Abstand geringer aus, bei der in der Mitte positionierten CVP tendiert er gegen null. Die Verteilung von Eliten und Wählerbasis im politischen Raum verdeutlicht in bemerkenswerter Weise die Befunde. So erweist sich etwa die Wählerschaft der SVP in Fragen der Umverteilung zwar weniger stark marktorientiert als diejenige der FDP, umgekehrt stellt sich aber die Elite der SVP in der Umfrage wesentlich wirtschaftsliberaler dar als diejenige der FDP. Wahl als Plebiszit Die Polarisierung des Parteiensystems lässt erahnen, dass die Wähler nicht zwingend diejenige Partei wählen, die ihnen ideologisch am nächsten steht. Die Politologen haben zur Erklärung dieses Phänomens die These des «strategischen Übersteuerns» zur Hand. Demgemäss suchen die Stimmbürger in ihrem Wahlentscheid bei den Parteien nicht in erster Linie die grösste Übereinstimmung mit eigenen Standpunkten, wie Lutz darlegte, vielmehr stellen sie strategische Überlegungen an, mit der Wahl welcher Partei sie die Politik am ehesten in eine von ihnen gewünschte Richtung bewegen können. Im Wissen um den Kompromisscharakter der helvetischen Tagespolitik würden somit gezielt Parteien mit extremeren Position gewählt, sagte Lutz - Wahlen werden so gewissermassen zum sachpolitischen Plebiszit. Gemäss Selects soll das strategische Wählen zwecks Überwindung konsensualen Stillstands gegenüber dem «ernsthaften», ideologischen Wählen sogar dominieren, vorab in grösseren Wahlkreisen. Schichten und Klassen Dass die sozioökonomische Herkunft für die Herausbildung politischer Überzeugungen und für Wahlentscheide wichtig bleibt, lässt sich aus den Selects-Analysen ebenfalls ablesen. Seit längerem schon weist die Wahlforschung darauf hin, dass Wähler aus der Arbeiterschaft nicht mehr die SP präferieren, obwohl sich diese primär für den sozialen Ausgleich engagiert. Stimmberechtigte aus dem Arbeitermilieu wählen heute vielmehr die SVP mit ihren (zumindest selektiv) harten wirtschaftsliberalen Standpunkten. Diesen paradoxen Befund erklären die Forscher mit der Dominanz der besagten neuen, «kulturellen» Konfliktlinie, welche eine «libertär-universalistische neue Linke» von einer «traditionalistischkommunitaristischen, populistischen Rechten» trenne. Abgesehen von den etwas eigenwilligen Begrifflichkeiten ergibt die Analyse der soziostrukturellen Zusammenhänge interessante Befunde (vgl. Grafik rechts): Die Linke steht in ihrer sachpolitischen Positionierung im mehrdimensionalen Raum Vertretern der lohnabhängigen Mittelklasse nahe - unter ihnen vor allem den sogenannt «sozio-kulturellen Spezialisten» -, die Rechte dagegen findet sich ideologisch in der Nähe von Gewerbetreibenden sowie von Produktions- und Dienstleistungsarbeitern. Die Verortung von Parteien und Berufsklassen im politischen Raum verdeutlicht die insgesamt markantere Polarisierung entlang des kulturellen Identitätsgrabens. Für den Wahlentscheid sei der Konflikt zwischen Tradition und Moderne heute entscheidender als der Verteilungskonflikt, sagte auch der Präsident der Selects-Kommission, Pascal Sciarini (Universität Genf), am Freitag vor den Medien: Kleingewerbler und Arbeiter stehen eher für Abschottung und Verteidigung nationaler Eigenheiten ein, Wähler aus der lohnabhängigen Mittelklasse eher für internationale Öffnung und Multikulturalismus. Die statistische Auswertung illustriert den Überhang bzw. die Untervertretung der gesellschaftlichen Schichten im Elektorat der einzelnen Parteien (vgl. Tabelle). Demgemäss sind Arbeiter und einfache Angestellte heute in der Sozialdemokratie in Relation zur gesamten SP-Wählerschaft bereits untervertreten - in der SVP dagegen sind sie übervertreten. Im linken Lager weisen SP und Grüne bezüglich Schichtzugehörigkeit ihrer Wähler ein ähnliches Profil auf - mit Ausnahme der Selbständigen, die bei der SP untervertreten sind. Die beiden Parteien liegen sich programmatisch nahe, was also macht den Wahlentscheid für die eine oder die andere Partei aus? Hierfür seien eher soziodemografische als ideologische Merkmale ausschlaggebend, sagte Sciarini. So korreliere innerhalb des linken Lagers zum Beispiel das Alter mit der SP-Wahl. Die Grünen mobilisieren gut bei jungen Wählern, vermögen aber ihr Potenzial bei Älteren nur sehr schlecht auszuschöpfen. Schöner wählen Dass sich die Wähler in ihrem individuellen Entscheid indes nicht nur von ideologischen und strategischen Fragen, von ihrer Herkunft oder ihrem Alter leiten lassen, zeigt der Beitrag «Schönheit und Wahlerfolg» im Selects-Band. Beim Streichen, Kumulieren und Panaschieren spielt offenbar auch die physische Attraktivität der Kandidaten und Kandidatinnen eine Rolle. Dieser Einfluss ist gemäss den SelectsForschern darauf zurückzuführen, dass attraktive Kandidierende in der Wählerschaft viel besser wahrgenommen würden.