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Schule Wissen Bildung
R ELIGION
Die eigene Religion kennen,
um die fremde zu verstehen
EIN PLÄDOYER FÜR DIE ERNEUERUNG DES RELIGIONSUNTERRICHTS
Seit dem 11. September 2001, dem Tag, an dem die Terroranschläge
in den USA die Welt verändert haben, wird verstärkt darüber diskutiert, wie entscheidend die Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen und kulturellen Tradition ist und wie notwendig die Kenntnis
fremder Religionen und Kulturen. Der Kölner Theologe Dr. Karl Graffmann zeigt auf, wie sich der Religionsunterricht an deutschen Schulen zu einem Forum aktiver Toleranz entwickeln könnte.
Mit Fundamentalismus lassen sich quer durch die heutigen Religionen
alle Phänomene beschreiben, aus denen ersichtlich wird, dass Menschen mit dem rasanten Tempo der Modernisierungs- und Globalisierungsprozesse nicht zurechtkommen. Das Resultat ist häufig, dass sich
solchermaßen Überforderte alten Wegen der „vorlogischen Gewissheiten“ zuwenden. Sie bevorzugen vereinfachte, meist rückwärts gewandte
Weltsichten mit einfachen – radikalen – Sinnorientierungen.
Im zentraleuropäischen Raum sind Entkirchlichung und Individualisierung Kennzeichen für den Rückgang der religiös bestimmten Milieus.
Konnten die Gesellschaften bis vor wenigen Jahren noch davon ausgehen, dass das Christentum eine Art europäisch akzeptierter religiöser Leitwährung war, so ist in Elternhaus und Schule heute ein Verlust religiöser Inhalte zu konstatieren.
Dr. Karl Graffmann
(61) war viele Jahre
Lehrer und Fachleiter für evangelische
Religion in Köln und
zuletzt Landeskirchenrat in der Abteilung Bildung und
Erziehung des Landeskirchenamtes
der Evangelischen
Kirche im Rheinland. Inzwischen ist
Graffmann Lehrbeauftragter an der
Universität Köln.
Das mit diesem Verlust Hand in Hand gehende Verschwinden religiöser Integrationselemente in der Lebensorientierung hat gravierende
Auswirkungen. Abgesehen von kleinen Diasporagebieten sind noch
über 70 Prozent der Deutschen kirchlich gebunden. In Ostdeutschland
gilt dies nur für 10 bis 12 Prozent der Bevölkerung. Religionsunterricht
(RU) steht in Deutschland und Europa angesichts erheblicher gesellschaftlicher Veränderungen und Verwerfungen damit im Spannungsfeld zwischen Fundamentalismus und
Hintergrund
Pluralismus und braucht demzufolge
eine neue Legitimation.
Religionsunterricht im Grundgesetz verankert
Das Grundgesetz sieht konfessionellen Religionsunter-
In Deutschland haben katholische oder
evangelische Schüler das Recht, sich
unmittelbar bei ihren Lehrinnen und
Lehrern über ihre Religion zu informieren. Daraus lässt sich ableiten, dass
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richt an allen Schulen außer den bekenntnisfreien vor
(Artikel 7. 3), wenn nicht (Artikel 141) im jeweiligen Bundesland vor dem 1. Januar 1949 eine andere Regelung
existierte. Dies war nur in Berlin und Bremen der Fall.
Klett ThemenDienst Schule • Wissen • Bildung / Nr. 10 (12/2001) / Alle Beiträge auch unter www.klett-themendienst.de
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auch Schüler nicht christlicher Religionsgemeinschaften einen
Anspruch auf ihren eigenen RU haben. Ein Hauptproblem bei der Einführung islamischen RU ist jedoch das Fehlen eines klaren Gegenübers
aufseiten der islamischen Glaubensgemeinschaften. Während die Diözesen und Landeskirchen, die jüdischen Gemeinden mit ihren Leitungen und Fachabteilungen den Kultusministerien als Partner zur Diskussion der Inhalte zur Verfügung stehen, konnten sich die Islamverbände
in Deutschland noch nicht auf eine gemeinsame Repräsentanz einigen.
Das neue Sonderheft „Begegnungen
mit dem Islam“ mit
den beiden Großkapiteln „Muslime
und ihr Glauben“
und „Drei Religionen im Vergleich“
liefert Hintergründe
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13,60 DM/6,95 Euro,
Ernst Klett Verlag).
Die Etablierung eines dem deutschen RU der Konfessionen und Kirchen
entsprechenden Organisationsrahmens, der den muttersprachlichen
Ergänzungsunterricht oder die Unterweisung in den Koranschulen
ablöst, ist unabdingbar. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass islamischer RU in deutscher Sprache und durch Lehrkräfte grundständiger
Ausbildung an den erziehungswissenschaftlichen Abteilungen der deutschen Hochschulen durchgeführt wird. Ziel ist der Abbau von toleranzhemmenden, trennenden Elementen der Kulturen, die Verringerung von
Distanzen sowie die Reduzierung gesellschaftlicher Diskrepanzen, kurz:
das Vermitteln von aktiver Toleranz in der Schule wie in der Gesellschaft.
Die Religionen müssen ins öffentliche Bewusstsein zurückkehren
Die aktuelle Aufmerksamkeit für religiöse Phänomene darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass schon seit mehr als zehn Jahren über die
Rückkehr der Religion in das öffentliche Bewusstsein nachgedacht wird.
Inzwischen ist die Diskussion um interreligiösen Dialog und interkulturelle Erziehung so weit gediehen, dass die Positionierung in einer identitätsstiftenden und identitätserhaltenden eigenen Konfession nicht als Hindernis, sondern als Voraussetzung für das Gespräch mit anderen Religionen (und auch den Glaubenslosen) erachtet wird. Das multikulturelle
Milieu in Zentraleuropa ist der Grund dafür, dass fast alle europäischen
Länder einen konfessionell verankerten RU bevorzugen. In den Ländern,
in denen konfessioneller RU angeboten wird, ist die Einrichtung eines
nicht konfessionellen Alternativfachs – Ethik oder Moral – die Regel.
Die Auswirkungen der Attentate in den USA und der nun erklärte Kampf
gegen eine religiös orientierte politische Gruppierung innerhalb der islamischen Weltgemeinschaft werden vielfach als endzeitliche Auseinandersetzung begriffen. Dabei ließ sich schon im JugoslawienAnsprechpartner
konflikt beobachten, dass das Bemühen um religiöse Motivation zur Begründung und Rechtfertigung von KriegshandDr. Ilas Körner-Wellershaus
lungen genauerem Nachdenken nicht standhält. Umso notErnst Klett Schulbuchverlag Leipzig
wendiger erweist sich die sorgfältige, fachlich abgesicherte
Programmleiter GesellschaftsInformation über die Ursprünge und Zusammenhänge der
wissenschaften
Religionen in den weltweiten, besonders aber den europäiBraunstraße 12
schen Bildungssystemen. Erst auf dieser Basis lässt sich die
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Diskussion um Weltethos, um Toleranzpakte und Ansätze
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zum interkulturellen Dialog vom Vorwurf der Naivität und
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bewährter, gelebter, aktiver Toleranz.
@klett-mail.de
Karl Graffmann
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