5 Gesundheit - Kooperation mit der Evolution

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5 Gesundheit
Ökologie und Gesundheit
von Fritjof Capra
Ökologie - von griechisch oikos („Haushalt”) - ist die Lehre vom Erdhaushalt. Genauer gesagt ist die
Ökologie die Lehre von den Beziehungen, durch die alle Lebewesen im Erdhaushalt miteinander
verknüpft sind. Ökologisches Denken ist daher vernetztes Denken. In der Naturwissenschaft bietet die
Theorie lebender Systeme für die Ökologie einen geeigneten neuen theoretischen Rahmen. Lebende
Systeme sind integrierte Ganzheiten, deren Eigenschaften sich nicht auf die kleinerer Teile reduzieren
lassen. Obwohl wir in jedem lebenden System Teile unterscheiden können, ist die Natur des Ganzen
immer etwas anderes als die bloße Summe seiner Teile. Beispiele für lebende Systeme gibt es in der
Natur in Hülle und Fülle. Jeder Organismus - Tier, Pflanze, Mikroorganismus, oder Mensch - ist ein
integriertes Ganzes und somit ein lebendes System. Teile von Organismen, z.B. Blätter oder Zellen,
sind wiederum lebende Systeme. Wo immer wir in der Natur auch hinsehen, finden wir lebende
Systeme in andere lebende Systemen eingebettet.
Dieselben Ganzheitsaspekte zeigen sich auch in Sozialsystemen - z.B. einer Familie oder einer
Lebensgemeinschaft - und ebenso in Ökosystemen, die sich aus einer Vielzahl von Organismen in
ständiger Wechselwirkung mit lebloser Materie zusammensetzen. Alle diese natürlichen Systeme sind
Ganzheiten, und die Systemtheorie zeigt uns, daß alle lebenden Systeme eine Anzahl von
Grundeigenschaften und Grundprinzipien gemeinsam haben.
Wechselseitige Abhängigkeit
Das erste und auffallendste Prinzip ist die wechselseitige Abhängigkeit oder Interdependenz. Ein
Ökosystem ist nicht einfach eine Ansammlung von verschiedenen Arten, sondern eine
Lebensgemeinschaft, und das heißt, daß alle Mitglieder dieser Gemeinschaft voneinander abhängen.
Sie sind in einem komplexen Netzwerk von Beziehungen, dem Lebensnetz, miteinander verknüpft. Sie
leiten ihre wesentlichen Eigenschaften, ja geradezu ihre Existenz, aus ihren Beziehungen und
Verknüpfungen zu anderen Dingen ab. Die wechselseitige Abhängigkeit aller Lebensprozesse ist das
Wesen aller ökologischen Beziehungen. Das Verhalten jedes lebenden Mitglieds im Ökosystem hängt
vom Verhalten vieler anderer Mitglieder ab. Der Erfolg der ganzen Gemeinschaft beruht auf dem
Erfolg ihrer individuellen Mitglieder, während der Erfolg jedes Mitglieds vom Erfolg der Gemeinschaft
als Ganzem abhängt.
Wegen der grundlegenden wechselseitigen Abhängigkeit aller Lebewesen kann es keine von der
Umwelt unabhängige Ebene der Gesundheit geben. Nach der Systemtheorie ergeben sich die
wesentlichen Merkmale eines lebenden Systems aus den Beziehungen zwischen seinen Teilen und
auch aus den Beziehungen des gesamten Systems zu anderen Systemen, d.h. zu seiner Umwelt.
Diese beiden Gruppen von Beziehungen markieren den Unterschied zwischen einem ganzheitlichen
und einem ökologischen Bild der Gesundheit. Aus ganzheitlicher Sicht werden alle Aspekte des
menschlichen Organismus als wechselseitig verknüpft und voneinander abhängig gesehen. Aus der
ökologischen Perspektive erkennt man dazu noch, daß der gesamte Organismus in ständiger
Wechselwirkung mit seiner natürlichen und sozialen Umwelt steht.
Begrenztheit der Rohstoffe
Das zweite Prinzip der Ökologie beruht auf der Begrenztheit der Rohstoffe und Ressourcen in einem
endlichen System Erde. Lebende Systeme sind offene Systeme, d.h. sie müssen einen ständigen
Austausch von Energie und Materie mit ihrer Umwelt aufrecht erhalten, um am Leben zu bleiben.
Jedes Mitglied der ökologischen Gemeinschaft hängt also in seinen Überlebenschancen von einer
Rohstoffbasis ab. Für uns Menschen sind die grundlegenden Ressourcen oder Grundbedürfnisse
nicht nur Nahrung, Kleidung und Obdach, sondern auch Ausbildung, soziale Gerechtigkeit,
persönliche Entwicklung, usw.
Die materiellen Rohstoffe sind jedoch in jedem Ökosystem und ebenso auf der Erde als Ganzes
begrenzt. In der Ökologie wird der Begriff der Tragfähigkeit (englisch: „carrying capacity”) dazu
benützt, um die durch die begrenzten Rohstoffe hervorgerufenen Begrenzungen eines Ökosystems zu
charakterisieren. Für jede Tier- und Pflanzenart definiert sich die Tragfähigkeit des Ökosystems durch
die maximale Anzahl von Individuen dieser Art, die vom Ökosystem auf Grund der vorhandenen
Rohstoffe auf unbegrenzte Zeit hin am Leben erhalten werden.
Die ökologische Vielfalt
Das systemische Denken zeigt, daß die Vielfalt in Ökosystemen und die Netzwerkstruktur des
Systems eng miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen: Die Stabilität eines
Ökosystems hängt wesentlich von der Komplexität und Vielfalt seiner Verknüpfungen ab. Ein
Ökosystem ist widerstandsfähig, weil es viele Arten mit einander überlappenden ökologischen
Funktionen enthält, die einander teilweise ersetzen können. Wenn eine bestimmte Spezies durch eine
ernsthafte Störung vernichtet wurde, sodaß ein Verbindungsglied im Netzwerk zerbrochen ist, ist eine
vielfältige Gemeinschaft dennoch in der Lage zu überleben und sich neu zu organisieren, weil andere
Verbindungsglieder im Netzwerk zumindest teilweise die Funktion der vernichteten Spezies
übernehmen können. Mit anderen Worten: Je komplexer das Netzwerk ist, desto komplexer ist das
Muster der wechselseitigen Verknüpfungen, und desto unverwüstlicher wird das gesamte System
sein.
Die biologischen Kreisläufe
Die Tatsache, daß das grundlegende Organisationsmuster eines Ökosystems ein Netzwerkmuster ist,
bedeutet, daß die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der ökologischen Gemeinschaft nicht-linear
sind und vielfache Kreisläufe enthalten. Diese zyklische Beschaffenheit ökologischer Prozesse
(Wasserkreislauf, Nahrungsmittelkreislauf) ist ein wichtiges Prinzip der Ökologie und findet sich in
allen selbstregulierenden lebenden Systemen.
In der Natur findet dieses ständige Recycling von Komponenten nicht nur in Ökosystemen als Ganzes
statt, sondern auch in jedem einzelnen Organismus. Ein lebender Organismus beschäftigt sich vor
allem mit Selbsterneuerung. Dieses Nebeneinander von Stabilität und Wandel ist eines der
Hauptmerkmale des Lebens. Durch das ständige Recycling seiner Komponenten kann ein
Organismus seine Funktionsweise in einer sich verändernden Umwelt bewahren. Er kann sich
anpassen, sich regeneriere, und sich selbst heilen. Das Altwerden ist durch die fortschreitende
Unfähigkeit zum Recycling gekennzeichnet, ein Merkmal, das nicht nur für die körperlichen
Komponenten, sondern auch für Ideen, Weltbilder und Werte gilt.
Der offene Fluß von Energie
Das fünfte ökologische Prinzip bezieht sich auf den Energiefluß in Ökosystemen. Ökosysteme
unterscheiden sich von individuellen Organismen dadurch, daß sie im Hinblick auf den Rohstofffluß
weitgehend (aber nicht völlig) geschlossene Systeme darstellen, während sie im Hinblick auf den
Energiefluß offen sind. Die primäre Quelle dieses Energieflusses ist die Sonne. Durch die
Photosynthese der Grünpflanzen wird die Sonnenenergie in chemische Energie umgewandelt und hält
so die ökologischen Kreisläufe in Gang. Anorganische Materie wird in organischen Substanzen
gebunden, während Sauerstoff an die Luft abgegeben wird. Die externe Energie von der Sonne liefert
also den Impuls für die dann selbstregulierenden Kreisläufe, die ständig durch das Ökosystem fließen.
Flexibilität und dynamisches Gleichgewicht
Das sechste ökologische Prinzip hat mit Flexibilität und Fluktuationen in Ökosystemen zu tun. Denn
die ökologischen Kreisläufe verwenden nicht nur die begrenzt zur Verfügung stehenden Rohstoffe
äußerst effizient durch ständiges Recycling, sondern sie bilden auch selbstregulierende
Rückkopplungsschleifen. Wenn Umweltsveränderungen ein Glied eines ökologischen Zyklus stören,
dann bringt die Rückkopplung (englisch: „feedback”) rund um den Kreislauf die Lage wieder ins
Gleichgewicht.
Die Tendenz, durch vielfältig verknüpfte Fluktuationen flexibel zu bleiben, ist ein Merkmal aller
lebenden Systeme. Was immer die Art der Flexibilität sein mag - körperlich, geistig sozial, technisch,
usw. - , sie ist für die Fähigkeit des Systems, sich Umweltveränderungen anzupassen, entscheidend.
Verlust an Flexibilität bedeutet Verlust an Gesundheit.
Partnerschaft und Kooperation
Partnerschaft ist ein weiteres wichtiges -siebtes - Prinzip der Ökologie, welches für individuelle
Gesundheit wie auch für die soziale Gesundheit der Gesellschaft von großer Bedeutung ist. Alle
Mitglieder einer ökologischen Gemeinschaft stehen in einem fein abgestimmten Zusammenspiel von
Wettbewerb und Zusammenarbeit, welches zahllose Partnerschaftsarrangements einschließt. Die
grundlegende wechselseitige Abhängigkeit von Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen und ihr
zyklischer Austausch von Energie und Material werden durch ein Muster weitgehender Kooperation
aufrechterhalten. Wegen der Begrenztheit der Ressourcen gibt es in jedem Ökosystem
Konkurrenzkämpfe auf allen Ebenen. Doch dieses Konkurrieren spielt sich innerhalb eines breiteren
Rahmens von Zusammenarbeit und Partnerschaft ab. Sogar Räuber-Beute Beziehungen, die für die
unmittelbare Beute vernichtend sind, nutzen im Allgemeinen beiden Arten. Partnerschaft - die
Tendenz, sich mit anderen zu verbinden, ineinander zu leben und mit einander zu kooperieren - ist
eine wesentliche Eigenschaft lebender Organismen.
Der Wertewandel von Wettbewerb und Beherrschung zur größeren Betonung von Kooperation,
Zusammenarbeit und Partnerschaft ist ein grundlegendes Merkmal des gegenwärtigen
Paradigmenwechsels und ist für das systemische Verstehen der Gesundheit äußerst wichtig.
Übertriebener Wettbewerb ist heute in der Familie, in den Schulen und im Berufsleben ein HauptStreßfaktor. Die Folgen sind oft Gewalttätigkeit, Alkoholismus, Verbrechen, Selbstmord, und viele
andere Symptome von Zuständen, die man als soziale Erkrankungen bezeichnen kann. Innerhalb des
ganzheitlich-ökologischen Ansatzes eines systemischen Verständnisses von Gesundheit ist auch die
Heilung - individuell, sozial oder ökologisch nur als partnerschaftlicher Prozeß denkbar.
Die Koevolution
Im achten Prinzip der Ökologie, der Koevolution, lassen sich die bislang genannten Grundprinzipien
als komplexes System darstellen. Wie schon im ersten Kapitel dieses Buches dargestellt, ist in einem
Ökosystem die Evolution nicht auf die Anpassung der Organismen an ihre Umwelt beschränkt, weil
diese Umwelt ja selber ein Gewebe von Lebewesen ist, die kreativ und anpassungsfähig sind.
Koevolution ist der passende Begriff dafür, daß sich in diesem Prozeß alles an alles lernend anpaßt.
Die Entfaltung des Lebens in Formen von steigender Komplexität verläuft als ein Zusammenspiel von
Kreativität und wechselseitiger Anpassung. Diese Koevolution ist ein ständiges kooperatives
Miteinander, eine ständige Unterhaltung, ein dynamisches Ganzes. Alle Lebensformen auf der Erde
sind durch diese Art von Koevolution während Milliarden von Jahren entstanden. Wenn wir imstande
sind, diese Prinzipien zu verstehen und dementsprechend zu leben, werden wir damit nicht nur das
weitere Überleben der Menschheit sichern, sondern auch die schöpferische Rolle des Menschen in
diesem komplexen Netzwerk neu entdecken können.
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