VORDIPLOM zum Thema: „Langfristige Folgen einer Scheidung auf die Partner- und Eltern-Kind-Beziehungen erwachsener Scheidungskinder, insbesondere der Versorgerkinder“ von Christiane Tänzler (Matr.: 640823) Fachbereich Sozialwesen Fachhochschule Jena Betreut von Prof. Dr. phil. habil. Regina Krczizek Jena, den 21.Juli 2004 "Langfristige Folgen einer Scheidung auf die Partner- und Eltern-Kind-Beziehungen erwachsener Scheidungskinder, insbesondere der Versorgerkinder" 1. Einleitung 1 2. Wie Kinder die Scheidung erleben 3 2.1 Ausgelöste Emotionen bei den Kindern 3 2.2 Die verlorene Triangulierungsfunktion 5 3. Die Bedürfnisse der Kinder in der Krise 6 3.1 Das entstandene Vakuum 7 3.2 Wie ein Kind zur Versorgerperson wird 9 3.3 Versorgerkinder zwischen Last und Chance 10 4. Erwachsenwerden ist schwieriger 12 4.1 Versorgerkinder als Erwachsene 13 4.2 Wenn niemand da ist, der ein Beispiel geben könnte 14 5. Adoleszenz - Scheidungskinder sind anders 15 5.1 Partnerschaften der Versorgerkinder 17 5.2 Scheidungskinder als Eltern 5.3. Fazit 6. Literatur 2 1. Einleitung Die Liebesideen unserer Zeit haben eine andere Funktion, als jene des vergangenen Jahrhunderts. „Wir haben einfach sonst nicht mehr viel, woran wir glauben können. Die Liebe ist zu einer Ersatzreligion geworden.“ [Schmid-Fahrner 1997, S.40] Die Liebe ist das, was unserem Leben Sinn und Transzendenz gibt, und dennoch den Charakter des Phantastischen hat. Diese These stellt Christine Schmid-Fahrner in ihrem Buch „Spielregeln der Liebe“ auf. Sie enthüllt, daß immer größere Erwartungen an eine Partnerschaft geknüpft werden. Liebe, Ehe und Sexualität sollen befriedigend, in der Verbindung zweier Menschen, gelebt werden können. Und das in einer Zeit, wo jedem einzelnen erwachsenen Mitglied unserer Gesellschaft, berufliche Höchstleistungen und enorme Flexibilität abverlangt werden! In einer kritischen Auseinandersetzung mit den Liebesideologien (Jellouschek, 1988) der industriellen postmodernen Gesellschaft, kommt Schmid-Fahrner zu dem Schluss, dass diesen verschiedenen Ideologien eine Leitideologie über Liebe und Ehe zugrunde liegt, „…die besagt, dass das Glück in der Paarbeziehung der Inbegriff des persönlichen Glücks überhaupt sei. Vergleichsweise wird der Wert der Freundschaft, der gelungenen Eltern-KindBeziehung oder der Zugehörigkeit zu einer Gruppe wesentlich geringer gehandelt.“ [SchmidFahrner 1997, S.41] Womit ziemlich deutlich wird, warum es in unserer westlich geprägten Welt sehr häufig zu Scheidungen kommt. Einerseits sind die Bedingungen für Partnerschaften, Ehen und Familien nicht gerade förderlich, man denke nur an die vielen Familien, in denen Doppelbelastungen bestehen, beispielsweise durch Pendeln zum fernen Arbeitsplatz oder den psychischen und finanziellen Druck, verursacht durch anhaltende Arbeitslosigkeit. Andererseits sind die Erwartungen an die Partnerschaft unrealistisch hoch. Ein einziger Partner soll dauerhaft Versorger, Geliebter und Freund zugleich sein, ohne dass die Verliebtheit vergeht. Außerdem wird meist völlig ignoriert, dass sowohl die Paarbeziehung, als auch die Familie in verschiedenen Phasen abläuft, die spezifische Herausforderungen beinhalten. [vgl. Schmid-Fahrner 1997, S.41-43] Diese kurze Einführung zeigt deutlich, wie Erwachsene tendenziell zu Liebe, Partnerschaft und Ehe stehen. Sie erklärt auch, warum Paarbeziehungen nicht von großer Dauer sind und warum eine Scheidung oder Trennung offenbar eine gelungene Alternative darstellt, das persönliche (Beziehungs-) Glück doch noch woanders zu suchen und vielleicht 3 zu finden. Sicherlich fällt jede Trennung und Scheidung den beteiligten Partnern nicht leicht. Erwachsene sind aber in der Lage, sich für oder gegen Veränderungen im Familienverbund zu entscheiden. Und die Kinder? Können sie mit entscheiden? Werden sie etwa gefragt, wenn Mama und Papa gerade beschließen, die bis dahin bestehende Familie, zu zerstören? Nein natürlich nicht. Kinder sind Kinder. Und die werden meist nicht gefragt. „Knapp die Hälfte (48,8 %) der im Jahr 2000 geschiedenen Ehen hatten zum Zeitpunkt der Scheidung minderjährige Kinder. Der Anteil der Eltern mit minderjährigen Kindern an allen Scheidungspaaren hat sich in den letzten fünf Jahren verringert, insbesondere in den neuen Bundesländern. 1995 hatten dort noch 70,7 Prozent aller geschiedenen Ehen Kinder unter 18 Jahren, im Jahr 2000 nur 58,3 Prozent.“ [Engstler 2003, S.83] Auch wenn die hier zu verzeichnende Tendenz positiv scheint, bleibt zu bemerken, dass viele junge Paare mit Kindern gar nicht erst heiraten, das heißt auch: bei der Trennung in keiner amtlichen Statistik auftauchen. Nichtsdestotrotz sind sehr viele Kinder von den Scheidungen (es sind gleichzeitig auch immer Trennungen gemeint) ihrer Eltern betroffen. Ich bezweifle, dass sich die Mütter und Väter vorstellen können, was ihre Entscheidung für die Kinder bedeutet. Mein Anliegen ist es, herauszufinden, was nach der Scheidung mit den Mitgliedern einer Familie passiert. Welche Empfindungen dominieren bei den Kindern, wenn ein Elternteil die Familie plötzlich verlässt? Reichen den Kindern rationale Erklärungen aus, um das entstandene Chaos zu begreifen? Was verändert sich im Erleben vertrauter Beziehungen für die betroffenen Kinder? Darüber hinaus finde ich besonders wichtig: Gibt es Langzeitfolgen der Scheidung für die Kinder? Und wenn, wie äußern sie sich? Hat die elterliche Scheidung besondere Auswirkungen auf die eigenen Partnerschaften der erwachsenen Scheidungskinder? Wie bewältigen sie diese? Gibt es auch positive Auswirkungen der elterlichen Scheidung auf die Scheidungskinder? Welchen Einfluß haben die gemachten Erfahrungen auf die Persönlichkeitsbildung? In dieser Arbeit möchte ich versuchen, all diese Fragen zu beantworten. Erstaunlicherweise habe ich mehrere Studien zum Thema gefunden. Ich hatte angenommen, daß weniger wissenschaftliches Interesse an „Scheidungskindern“ besteht. Nicht zuletzt, weil in unserer Gesellschaft und unseren Medien das Phänomen Scheidung als „Sache der Erwachsenen“ gehandelt wird, und die Auswirkungen für die betroffenen Kinder und „erwachsenen Scheidungskinder“ kaum thematisiert werden. 4 2. Wie Kinder die Scheidung erleben Eine Scheidung oder Trennung ist bei vielen Eltern mit der Hoffnung verbunden, dass es den Kindern nicht all zu viel ausmacht. Geplagt von Schuldgefühlen, öffnen liebende Eltern mit dieser Hoffnung die Türen für Verleugnungs- und Verdrängungsmechanismen. Oft sind sie deshalb nicht in der Lage, das Leid und die Angst ihrer Kinder wahrzunehmen. Sind jedoch Vater und Mutter nicht bereit, sich mit der “Schwere dieser Irritation ihrer Lebensumstände“ [Figdor 2003, S. 20] zu konfrontieren, werden wahrscheinlich auch die Kinder diesem Umgang mit der Situation folgen. Kinder spüren, was die Eltern von ihnen erwarten und versuchen, dem zu entsprechen. Gewissermaßen machen sie sich zum Therapeuten des einoder anderen Elternteils, indem sie ihren Schmerz, den sie selbst ohnehin nicht wahrnehmen wollen, verbergen. Besonders ausgeprägt ist dieses Phänomen bei den so genannten Versorgerkindern, auf die ich im Verlauf der Arbeit noch genauer zu sprechen komme. [vgl. Figdor 2003, S. 20/21] 2.1 Ausgelöste Emotionen bei den Kindern Ganz sicher kann man sagen, dass für alle Kinder, die zu beiden Elternteilen eine Liebesbeziehung aufbauen konnten, die Trennung der Eltern eine überaus schmerzvolle Erfahrung ist, auch wenn die elterliche Verbindung möglicherweise mit Streitigkeiten und massiven Konflikten behaftet war. „Denn die Konfrontation mit der Trennung der Eltern bzw. dem Weggang eines Elternteils ruft bei den Kindern spontan eine ganze Reihe von Ängsten, Gefühlen und Gedanken hervor.“ [Figdor 2003, S. 21] Die wichtigsten möchte ich hier nennen: Da ist zum einen die Angst, den Elternteil, der fortgeht (hier im Folgenden der Einfachheit halber „Vater“ genannt, was statistisch gesehen auch häufiger der verlassende Elternteil ist) nicht mehr sehen zu können und somit für immer zu verlieren. Es geht hier um den wichtigsten oder zweitwichtigsten Menschen, den ein Kind liebt. Doch es geht nicht nur um die reale Gefahr, den Vater nicht mehr sehen zu können, sondern vielmehr um das eigentliche Verständnis von Liebesbeziehungen. Einige Kinder konnten sich bis zum Zeitpunkt der Trennung den Glauben an die „ewige Liebe“ erhalten. Wenn Mama und Papa sich nun trennen, weil sie sich „nicht mehr lieb haben“ (oftmals von Eltern als 5 Erklärung an die Kinder verwandt), was ist dann mit der Liebe zwischen mir, dem Kind und der Mama oder dem Papa? Kinder können Liebesbeziehungen nicht differenzieren. Sie sehen durch die Trennung der Eltern jede andere Liebesbeziehung bedroht. Wenn die Liebe zwischen beiden Eltern einfach so aufhören kann, kann sie das nicht auch bei mir und ihnen? Verlassen sie mich vielleicht auch eines Tages? Kinder beginnen deshalb zu fürchten, irgendwann ganz allein zurückgelassen zu werden. Ein weiterer traumatischer Effekt, der bei vielen Kindern eintritt, ist ein teilweiser Identitätsverlust. Figdor zitiert in diesem Zusammenhang einen elfjährigen Jungen nach knapp zweijähriger Psychotherapie: „Und dann hab ich gar nicht mehr gewusst, wer ich eigentlich noch bin!“ [Figdor 2003, S. 22] Von geliebten Menschen, integrieren wir einige Stücke in uns, in Form von bewundernswerten Eigenschaften, Verhaltensweisen oder ähnlichem. Diese Identifikation bewirkt, dass der geliebte Mensch gefühlsmäßig ein Teil unserer Selbst wird. Verlässt uns ein geliebter Mensch, verlieren wir gleichsam einen Teil von uns selbst. Wer Trennungen erlebt hat wird nicht bestreiten, dass man sich emotional amputiert fühlt, wenn der andere plötzlich fehlt. Bei Kindern ist diese Auswirkung noch dramatischer, weil sie sich im Zuge ihrer Persönlichkeitsentwicklung auf wahrgenommene Aspekte ihrer Eltern beziehen und sich auf diesem Weg mit ihnen identifizieren. Weitere durch die Scheidung ausgelöste Gefühle sind beispielsweise Aggressionen. In den Kindern sammelt sich Wut, weil sie sich verraten und verlassen fühlen. Weil sie sich in ihren Wünschen nicht respektiert fühlen oder als Reaktion gegen die aufgekommenen Ängste. Teilweise richtet sich die Wut und der Hass der Kinder gegen einen Elternteil, den sie als Schuldigen an der Trennung erachten, oder auf beide Eltern, oder abwechselnd einmal auf Mutter oder Vater. Eine Besonders große Rolle misst Figdor der Tatsache bei, dass die meisten Kinder sich selbst die ganze Schuld an der Trennung oder wenigstens einen Teil der Schuld, sich selbst geben. Der Grund dafür liegt in der egozentrischen Erlebnisweise der Kinder (bis ca.7 Jahre). Sie nehmen sich als Mittelpunkt der Welt wahr und können sich deshalb nicht vorstellen, dass irgendetwas losgelöst von ihrem Tun geschieht. Verstärkt wird diese Empfindung, etwas mit der Scheidung zu tun zu haben, durch das Auftreten einiger Kinder als Vermittler. Diese Kinder versuchen, die Eltern zu versöhnen. Scheitern ihre Bemühungen, beginnen sie zu glauben, sie hätten nicht genug getan. Schuldgefühle lassen sich besonders schwer aushalten. Sie werden „abgewehrt“ – das heißt: durch andere Gedanken und Gefühle ersetzt. Das können depressive Verstimmungen sein, oder wir schieben das Schuldgefühl weg und ersetzen es durch Vorwürfe. Nicht nur Wut, 6 Enttäuschung und Ängste sind Ursachen der kindlichen Aggression nach Scheidungen, sondern teilweise auch Schuldgefühle. [vgl. Figdor 2003, S. 21-24] Figdor stellt zu dieser Thematik fest: „Jedes einigermaßen psychisch gesunde und normale Kind muß auf die Scheidung reagieren, selbst wenn sich nach außen hin keine Reaktion erkennen lässt.“ [Figdor 2003, S. 24] 2.2 Die verlorene Triangulierungsfunktion Bevor ich genauer auf die Triangulierungsfunktion eingehe, möchte ich vorher noch einen Fakt erwähnen, der einmal mehr die Komplexität der Geschehnisse im Familiensystem verdeutlicht. Figdor stellt eindeutig fest, dass die ehelichen Probleme häufig erst mit der Geburt des Kindes begonnen haben, zum Beispiel durch die Eifersucht des Vaters auf das neugeborene Kind, das unter Umständen längerfristig den Vater und Ehemann bei der Frau in die zweite Reihe rutschen lässt. Die Probleme, die dadurch zwischen Vater und Mutter bestehen, bleiben nicht ohne Folgen für das Kind, das durch die Konflikte der Eltern natürlich mitbelastet wird. Die Reaktionen der Kinder in oder nach der Scheidung sind also oftmals erst der Gipfel jahrelanger emotionaler Belastungen und nicht nur eine Folge der unmittelbaren Trennungs- oder Scheidungssituation und ihren Umständen. Sicherlich gäbe es noch viele wichtige Dinge hinzuzufügen, doch der Rahmen der Arbeit ermöglicht nur, einige wichtige Erkenntnisse zusammenzutragen, die dem Verständnis gegenüber Scheidungskindern dienen. Ein sehr bedeutender Aspekt in einer Familienkonstellation, in der das Kind Mutter und Vater hat, ist die Triangulierungsfunktion. Hinter diesem Begriff verbirgt sich die große Entlastungsfunktion, die in Dreiecksbeziehungen jedem Beteiligten zukommt. Steht das Kind beispielsweise im Konflikt zur Mutter, ist gerade wütend auf sie, kann es in seiner Vorstellung auf die Beziehung zum Vater ausweichen. Es hat gedanklich oder tatsächlich die Möglichkeit, aus der beklemmenden Streitsituation mit der Mutter auszutreten, sich innerlich dem anwesenden oder nicht anwesenden Vater zuzuwenden und – wenn sich seine Wut und Abneigung gegen die Mutter gelegt haben - entspannt innerund äußerlich wieder zur Mutter zurückzukehren. Das Kind ist nicht auf die Zuneigung und Harmonie des einen Elternteils angewiesen, weil es einen „Ausweichpartner“ hat. Es braucht keine Angst zu haben, dass niemand mehr da ist, auch wenn es sich gerade mit einem Elternteil zerstritten hat. [vgl. Figdor 2003, S. 30-32] 7 Anders ergeht es Kindern, die nur noch einen Elternteil haben. Sie sind (plötzlich) emotional auf diese eine Bezugsperson angewiesen, können sich mit ihrer ganzen Liebe – aber auch mit ihrer ganzen Enttäuschung und Wut – nur noch auf einen Menschen beziehen. „Daher macht (…) jeder Konflikt entsetzlich angst, weil man nicht ausweichen kann, weil man nur diesen einen Partner hat.“ [Figdor 2003, S. 32] Dass genau dieses Phänomen ein großes Gefahrenpotential für die Kinder aus Scheidungsfamilien birgt, sich vom verbliebenen Elternteil emotional total abhängig zu machen und dadurch die eigenen Befindlichkeiten und Bedürfnisse hinten anzustellen, wird im Leben der Versorgerkinder besonders deutlich. Ich möchte noch erwähnen, dass es durchaus auch in bestehenden Familien eine gestörte Triangulierungsfunktion geben kann. Nämlich dann, wenn dem Kind ein einfaches und entlastendes Ausweichen deshalb nicht möglich ist, weil die Eltern verfeindet sind und das Ausweichen eigentlich einem „Wechsel des Lagers“ gleichkommt. [vgl. Figdor 2003, S. 33] 3. Die Bedürfnisse der Kinder in der Krise „Für Erwachsene bedeutet die Scheidung das Ende einer Welt; für kleine Kinder, deren Lebensmittelpunkt die Familie ist, bedeutet sie das Ende der Welt.“ [Hetherington & Kelly 2003, S. 154] Diese Aussage bringt auf den Punkt, was viele Erwachsene nicht begreifen können: Für Kinder und Jugendliche ist die elterliche Scheidung eine mächtige Erschütterung, die ihr gesamtes Leben durcheinander wirbelt. Kleine Kinder können nicht rational begreifen, warum alles so geschieht, wie es geschieht, werden aber von einer Fülle heftiger (fremder) Gefühle überschwemmt. Jugendliche hingegen, beginnen gerade in der Pubertät, ihre eigenen Vorstellungen von Liebe, Vertrauen, Bindung und Partnerschaft zu entwickeln. Zerbricht in dieser Zeit die Ehe der Eltern, ist es schwer, noch zu wissen, was man glauben kann. Die schwere Verunsicherung lässt Scheidungskinder oftmals eine Reihe von Symptomen entwickeln, wie zum Beispiel: Schlaflosigkeit, Nervosität, Hyperaktivität, Anhänglichkeit, Selbständigkeitsverlust, Bettnässen, Wutanfälle, Magersucht, Trotz und Weinerlichkeit. Zusammenfassend kann man sagen, dass ihnen für einige Zeit das Leben im Allgemeinen schwerer fällt; bis sie sich mit der neuen Lebenssituation arrangieren 8 können. Eltern, Lehrer, Erzieher und andere wichtige Bezugspersonen sind hier gefordert, mit Verständnis und Geduld auf die Probleme des Kindes zu reagieren. Figdor meint, besonders von Bedeutung ist es, dem Kind liebevoll und immer wieder zu versichern, das Mutter und Vater es dennoch immer lieb haben werden. Denn, wie im Kapitel 2 beschrieben, sind kleinere Kinder nicht im Stande, zwischen Beziehungen zu differenzieren. Was bedeutet, dass sie um jede ihrer eigenen Liebesbeziehungen auch fürchten müssen, wenn die Eltern auseinander gehen. Weiterhin vertritt er die Ansicht, Eltern sollten „Gespräche forcieren, und zwar immer dann, wenn die Gefühlslage des Kindes einen Bezug zum Scheidungserlebnis verrät.“ [Figdor 2003, S. 25] Im Gegensatz dazu schreiben Largo und Czernin, das Kind nähme bei einer Scheidung oder Trennung am wenigsten Schaden, wenn die Bedürfnisbefriedigung, die der wegfallende Elternteil geleistet hat, von einer anderen Bezugsperson ersetzt werden kann. Die Länge der Zeit, die eine Person mit einem Kind verbringt und ihm Fürsorge, Nähe und Zuwendung zuteil werden lässt, ist nach ihrer Auffassung stärkstes Barometer dafür, wie vertraut und geborgen sich ein Kind fühlt. Dabei gehen die Autoren von einer „angeborenen Bereitschaft“ des Kindes aus, „sich bedingungslos an Personen zu binden, die ihm vertraut werden.“ [Largo & Czernin 2003, S. 52] Sicherlich sind beide Handlungsmuster vereint, eine gute Hilfe, um ängstlichen und verstörten Scheidungskindern wieder etwas Halt in ihrem durcheinander geratenen inneren und äußeren Leben zu geben. Die emotionalen Befindlichkeiten der Kinder sind jedoch leider nicht das einzige, was durch eine Scheidung problematische Ausmaße annimmt. 3.1 Das entstandene Vakuum Emotionale Veränderungen sind eine große Herausforderung, die Scheidungskinder, aber auch ihre Eltern zu überstehen haben. Dazu kommt noch eine Reihe von Problemen, die mit der Auflösung der Familie einhergehen. Hetherington und Kelly beschreiben in diesem Zusammenhang „praktische Lebensprobleme“ als die „schwerwiegendsten Stressbelastungen.“ [Hetherington & Kelly 2003, S. 70] Zwei Haushalte sind beispielsweise teurer als einer, was die finanzielle Situation beider geschiedener Ehepartner deutlich verschlechtert. (Wobei Frauen tendenziell benachteiligter aus einer Ehe gehen.) 9 Hinzu kommt, dass eine Person jetzt die Arbeit im Haushalt verrichtet, die sich vorher zwei geteilt haben. Die Folge sind Geldsorgen und Desorganisationen im täglichen Leben. So verschiebt sich die Ordnung und Verlässlichkeit warmer Mahlzeiten, regelmäßiger Schlafens- oder Spielzeiten zu einem chaotischen Alltag, der Kinder und Eltern zusätzlich stresst. Eine weitere, sehr wichtige Begleiterscheinung von Trennung und Scheidung ist die Veränderung des sozialen Umfelds. Gemeinsam befreundete Ehepaare ziehen sich häufig zurück, um nicht Partei ergreifen zu müssen. Die Interessen geschiedener Ehepartner verändern sich. Sie orientieren sich an den Möglichkeiten, die das SingleLeben eröffnet, was einem Verlust der Interessengleichheit mit anderen befreundeten Paaren gleichkommt. Unterstützung bekommen die meisten Frauen während und nach der Scheidung von ihren Schwestern, der Mutter oder Freundinnen. Alleinlebende Männer hingegen, erfahren weniger Unterstützung in der Trennungszeit und klagen über Einsamkeitsgefühle. [vgl. Hetherington & Kelly 2003, S. 69-80] Das, was verlassenen und verlassenden Partnern am meisten zusetzt, sind meiner Meinung nach, das angeschlagene Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen. Nach einer gescheiterten Ehe entstehen Schuldgefühle, vor dem Partner und den Kindern versagt zu haben. Findet sich nach längerer Zeit kein neuer Partner, glauben Frauen und Männer gleichermaßen, unattraktiv und nicht mehr liebenswert zu sein. Ich habe das dritte Kapitel mit den Bedürfnissen der Kinder in der Krise begonnen. Daraus ging hervor, dass Mütter und Väter eigentlich mehr Zuwendung, Geduld und Liebe für ihre Kinder aufbringen müssten, als vor der Krise. Doch angesichts ihrer eigenen existenziellen Probleme, die sie massiv schwächen ist es utopisch, zu glauben, sie könnten nach der Scheidung mehr für ihre Kinder leisten, als zuvor. [vgl. Figdor 2003, S. 26-27] Diesen Punkt (3.1) habe ich „Das entstandene Vakuum“ genannt. Die Bezeichnung „Vakuum“ verwendet Judith S. Wallerstein in ihrer Langzeitstudie „Scheidungsfolgen – Die Kinder tragen die Last“. Wie nach einem schweren Unglück, etwa einem Flugzeugabsturz oder dem Tod eines nahe stehenden Menschen, entsteht nach einer Scheidung, eine Art luftleerer Raum. Das erlebte innere und äußere Chaos ist schwer bedrückend - es verursacht bei den betroffenen Kindern eine starke Orientierungs- und Haltlosigkeit, die sehr beängstigt. Vielen Müttern und Vätern geht es ähnlich, wie ihren Kindern. Der große Unterschied liegt darin, dass sie allein verantwortlich sind, eine andere, passende Lebensstruktur für die neue Familie aufzubauen. Dem zurückgelassenen Partner, 10 der weiterhin mit den Kindern lebt, erscheinen die Belastungen der neuen Lebenssituation in manchem Fall unüberwindlich. In Interviews sprechen Alleinerziehende von Verzweiflung und Überforderung: Wie soll ich das schaffen? Wie könnte mein neues Leben aussehen? Wer bin ich eigentlich noch? Die Zeit der Krise ist von diesen Fragen dominiert. Was geschieht, wenn Alleinerziehende Hilfe und Unterstützung brauchen, die ihnen kein Erwachsener geben kann – oder will? 3.2 Wie ein Kind zur Versorgerperson wird Der zurückgelassene Elternteil, der mit den Kindern lebt, ist häufig die Mutter. (Hier auch im Allgemeinen als solche bezeichnet, obwohl es natürlich auch verlassene Väter gibt.) Unter den genannten Vielfachbelastungen, die eine Ehescheidung mit sich bringt, ist die Mutter (aber auch der verlassende Vater) weniger ansprechbar und kompetent. Wallerstein spricht von der „reduzierten Elternperson“. Ein weiterer Aspekt ist die Position des Kindes, die Figdor beschreibt: „Das heißt, subjektiv hat das Kind nicht nur seinen Vater (oder zumindest einen Teil desselben) verloren, sondern auch ein Stück seiner „Mutter“: ein Stück der verwöhnenden, empathischen Mutter, also jener Aspekte des mütterlichen „Bildes“, die für die Gefühle der Geborgenheit und des Geliebtseins von Bedeutung sind.“ [Figdor 2003, S. 26] Ich habe schon erwähnt, dass sich das soziale Umfeld der Scheidungsfamilie drastisch verändert. Die geschiedenen Partner fühlen sich, aus verschiedenen Gründen, von ihren Freunden entfremdet und isoliert. Eine mögliche Missbilligung der Scheidung durch die Verwandtschaft kann innerfamiliär ebenso entfremdend wirken. Was die Situation der geschiedenen Partner erschwert. Völlig auf sich selbst zurückgeworfen, fühlen sie sich alleingelassen und suchen bei ihren Kindern Rat und Hilfe. Schließlich sind die Kinder in solchen Fällen oftmals die letzten loyalen Vertrauten, die den getrennten Elternteilen noch bleiben. [vgl. Wallerstein & Lewis 2002, S. 46-47] Versorgerkinder werden diese Kinder genannt. Deshalb, weil sie in der Krise für ihre Eltern „die letzte Hoffnung“ darstellen. Sie vermitteln ihnen dass Gefühl, nicht mehr allein zu sein und nehmen ein mütterliches Verhalten an. Temporär ist das auch in „normalen“ Familien zu beobachten – doch im Falle der Versorgerkinder wird dieses Verhalten zur Norm. [vgl. Wallerstein & Lewis 2002, S. 46] Ich hatte schon einmal erwähnt, dass (Scheidungs-) Kinder besonders sensibilisiert sind; für die Stimmungen und 11 Erwartungen ihrer Eltern einen besonderen Sinn haben. Doch wenn die Mutter deprimiert und traurig ist, oder gar in Tränen ausbricht, kann das ein Kind aushalten? (Wo es ohnehin Ängste, Schuldgefühle und Trauer, ausgelöst durch die Scheidung, aushalten muß!) Nein. Es tröstet, pflegt und hilft, wo es nur kann. Welche Chancen und Risiken ein solcher Bund, zwischen einem Elternteil und einem Kind birgt, möchte ich im Folgenden erläutern. 3.3 Versorgerkinder zwischen Last und Chance „Eine Zehnjährige (…) stand regelmäßig gegen Mitternacht auf, um mit ihrer an Schlaflosigkeit leidenden Mutter fernzusehen und Bier zu trinken. Statt in die Schule zu gehen, blieb sie häufig zuhause, um sicher zu sein, dass ihre Mutter nicht in die Depression fallen und sich etwas antun oder das Auto nehmen würde, wenn sie getrunken hatte. Ein Vater erzählte mir, seine zwölfjährige Tochter habe seine Anzüge für ihn gepackt, ihm bei der Suche nach einer Wohnung geholfen und für ihn eingekauft. Sie rief ihn jeden Abend an, um zu hören, ob er gut nach Hause gekommen war, und ihm zuzureden, er solle das Rauchen aufgeben.“ [Wallerstein & Lewis 2002, S. 43-44] Diese zwei Beispiele schildern eindrucksvoll, wie sehr sich das tägliche Verhalten eines Versorgerkindes von einem „normalen“ Kind unterscheiden kann. Besonders häufig übernehmen Mädchen die Rolle der „sorgenden Mutter“(Parentifizierung), aber auch Jungen sind betroffen, wie Wallerstein beschreibt. Versorgerkinder erfüllen gerade die gewünschte Funktion, um die Eltern am Laufen zu halten. Sie beraten, pflegen, kochen, putzen, kümmern sich um die jüngeren Geschwister und erledigen die Dinge, die liegen geblieben sind, weil Mutter oder Vater zu erschöpft oder durcheinander sind. Auf diesem Wege büßen sie schnell ihre Freunde ein und vernachlässigen ihre Pflichten in der Schule. Die größte Last aber, ist der Verlust ihres kindlichen Selbstverständnisses – Versorgerkinder verlieren die Leichtigkeit ihres Kindseins, weil sie sich mit Erwachsenen-Problemen herumschlagen. [Wallerstein & Lewis 2002, S. 43-44] Dies tun sie aus Mitgefühl oder Mitleid, oder weil sie die Situation der Eltern selbst nicht ertragen können. Durch die übernommene Verantwortung erlangen die Kinder das Vertrauen der Eltern. Das erfüllt sie mit Stolz und gibt ihnen das Gefühl, den eigenen Eltern das Leben „gerettet“ zu haben. Die Gefahr dabei besteht darin, dass auch – oder gerade die 12 Versorgerkinder auch Ängste und Sorgen haben. Wenn sie aber ihre Eltern betreuen, wer unterstützt sie? Wer tröstet, beruhigt und ermutigt diese „zu klein geratenen Erwachsenen“? [Kästner 1990, S. 96] Die große Gefahr besteht darin, dass ein Kind sich unter Umständen an der Depression oder Niedergeschlagenheit der Eltern die Schuld gibt. Aus diesem Grund „muss“ es reagieren und bürdet sich so die Rolle des Versorgers auf. Dauert aber diese verkehrte Abhängigkeit zu lange an, verrennt sich das Kind möglicherweise in das Gefühl, allein für die „Rettung“ des unglücklichen Elternteils verantwortlich zu sein. „Wenn es einmal eigenen Wünschen und Bedürfnissen nachgibt, fühlt es sich schuldig und nichtsnutzig.“ [Wallerstein & Lewis 2002, S. 45] Hetherington und Kelly ergänzen, dass Kinder häufig furchtsam und ablehnend auf die Konfrontation mit Erwachsenenproblemen reagieren und dass die Hilfesuche der Eltern noch eine tiefere Gefahr birgt: „Kinder, die sich für Probleme verantwortlich fühlen, die sie nicht lösen können, beginnen ein Gefühl der Hilflosigkeit zu entwickeln. (…) Als unsere Kinder fünfzehn waren, mussten wir erkennen, dass diese Art Hilflosigkeit häufig in Depressionen und ein geringes Selbstwertgefühl umschlug.“ [Hetherington & Kelly 2003, S. 185] Neben den genannten Risiken, birgt das Dasein als Versorgerkind aber auch große Chancen für die betroffenen Kinder. Sie können an der verdrehten Beziehung wachsen, weil sie verantwortungsbewusster und unabhängiger werden. Sie füllen das entstandene Vakuum aus, gestalten die Lebenssituation nach der elterlichen Scheidung aktiv mit – und sind stolz darauf. Wenn die Erwachsenen die Hilfe und Unterstützung bekommen, die sie brauchen, und die Kinder an Selbstvertrauen und Reife zunehmen, profitiert manchmal die gesamte Familie von der neuen Rolle des Kindes. Die moralische Sensibilität und Mitmenschlichkeit, die Versorgerkinder unter diesen Umständen entwickeln, können ihnen in späteren Beziehungen – aber auch bei der Berufswahl eine große Hilfe sein. Voraussetzung ist, dass die Eltern wieder in ihre alte Kompetenz zurückfinden, sonst bleibt das Kind für lange Zeit der Helfer und Unterstützer, was seine Persönlichkeit nachhaltig prägt. „Eine Versorgerfunktion, die in der Befriedigung der Bedürfnisse einer anderen Person so weit geht, dass ihr die eigenen Wünsche zum Opfer fallen, ist eine schlechte Vorbereitung auf die Aufgabe, in der Sphäre der späteren „erwachsenen“ Beziehungen einmal eine glückliche Wahl zu treffen.“ [Wallerstein & Lewis 2002, S. 48]; [vgl. Wallerstein & Lewis 2002, S. 47-48] 13 4. Erwachsenwerden ist schwieriger Nach dem Ende der elterlichen Scheidung empfinden Kinder die Welt als sehr unsicher und gefährlich – da man sich ja nicht einmal bei den engsten, vertraulichen Beziehungen sicher sein kann, dass sie zuverlässig sind und nicht zerbrechen. Folglich wird von keiner Beziehung mehr Haltbarkeit erwartet. Außenstehende nehmen oftmals an, dass nach der Scheidungskrise wieder Normalität und Stabilität in das Familienleben einkehrt. Dass man davon nicht im Entferntesten ausgehen kann, zeigt das Beispiel von Karen. Sie „war zwanzig, als sie (…) ärgerlich erzählte:“ Seit ihrer Scheidung bin ich für meine beiden Eltern verantwortlich. Mein Vater ist schon ein beklagenswert `armer` Mann geworden, der immer eine Frau braucht, die sich um ihn kümmert. Ich bin die Rettung, wenn seine Freundinnen ihn verlassen. Und meine Mutter hat sich auch noch nicht wieder gefangen und ist immer mit dem falschen Mann liiert. Ich musste mich die ganze Zeit um sie beide und zugleich auch um meinen Bruder und meine Schwester kümmern.““ [Wallerstein & Lewis 2002, S. 60] In vielen Fällen erholen sich die Eltern jahrelang nicht von der Scheidung UND: wie das Beispiel auch zeigt, erfahren Scheidungskinder oft mehrmals Verluste, weil die Mutter oder der Vater in mehreren nacheinander folgenden Beziehungen wieder scheitern und auch die Kinder immer wieder Vertrauenspersonen verlieren. Von 131 Kindern der Studie von Wallerstein, erlebten gerade mal sieben eine stabile Zweitehe beider Eltern, mit Einbindung in die jeweiligen Stieffamilien. Zwei Drittel der Kinder wuchsen mit mehreren Scheidungen und Wiederverheiratungen eines oder beider Elternteile auf. Der Bruder Karens (Bsp. oben) „sagte als Dreißigjähriger: „Was ist eine Ehe? Nichts als ein Stück Papier und ein Stück Metall. Wenn man jemanden liebt, dann bricht einem das Herz.““ [Wallerstein & Lewis 2002, S. 61] Scheidungskinder entwickeln eine große Skepsis gegenüber Liebesbeziehungen. Sie fürchten in den Jahren des Heranwachsens, die gleichen Fehler zu machen, wie ihre Eltern und deren Geschichte zu wiederholen. Die Hoffnung, es selbst besser zu machen, ist ohnehin gering. Doch mit Beginn des jungen Erwachsenenalters nimmt diese Angst „ein überwältigendes Ausmaß an“, [Wallerstein & Lewis 2002, S. 63], vor allem dann, wenn einer oder gar beide Eltern nicht in der Lage waren, wieder eine dauerhafte Beziehung einzugehen. „Die ersten Episoden eigener Verliebtheit lassen die Hoffnungen der Scheidungskinder, geliebt zu werden, bis in den Himmel wachsen – zugleich aber auch ihre Furcht, verletzt und zurückgewiesen zu werden. Das Alleinsein wiederum weckt Erinnerungen an einsame Jahre in der 14 Nachscheidungsfamilie und kommt ihnen vor wie das gefürchtete Im-Stich-GelassenWerden. Sie sind gefangen zwischen dem Wunsch nach Liebe und der Angst vor einem Verlust.“ [Wallerstein & Lewis 2002, S. 63]; [vgl. Wallerstein & Lewis 2002, S. 59-63] 4.1. Versorgerkinder als Erwachsene Das Erwachsenwerden der Scheidungskinder ist schwieriger und dauert länger, als bei Jugendlichen aus intakten Familien. Das liegt daran, dass die ersten Liebesbeziehungen von Unsicherheit geprägt sind und weil die Eltern selten brauchbare Vorbildfunktionen erfüllen, die den Einstieg ins Erwachsenenleben erleichtern. Bevor ich genauer auf diese Fakten zu sprechen komme, möchte ich speziell der Versorgerfunktion meine Aufmerksamkeit widmen. Was geschieht, wenn ein Kind, dessen Lebensinhalt es war, immer für ein oder mehrere Familienmitglieder zu sorgen, erwachsen wird und nun selbst über sein Leben entscheidet? Die Position des Retters trägt dem Versorgerkind Stolz und Anerkennung ein, die seinen Selbstwert erhöht und den vorhandenen Schuldgefühlen entgegenwirkt. Im Fall von Karen ermöglichten berufliche Erfolge, auf die Rolle der Versorgerin zu verzichten. Obgleich sich Eltern und Geschwister an ihr Engagement gewöhnt hatten und vermutlich nicht gern darauf verzichteten. Wallerstein erfasste auch in ihren Interviews, dass Berater und Mentoren der erwachsenen Scheidungskinder, wie etwa die Großeltern oder ein lieb gewonnener Arbeitgeber, großen Respekt und Anerkennung genießen, oder gar Bewunderung. Außerdem zeichnen sich Scheidungskinder dadurch aus, besondere Dankbarkeit für treue, zuverlässige Partner zu empfinden. Trotz Einbußen in den kindlichen Aktivitäten und Freuden (auch in der frühen Adoleszenz) profitieren die meisten von ihrem Altruismus und ihrem Verantwortungsbewusstsein. In ihren Erfahrungen begründet sich eine hohe Moralität, die sie prädestiniert, Beziehungen mit Liebe und Zuwendung anzuziehen. Natürlich finden nicht alle Versorgerkinder sofort den Weg aus ihrer Rolle und den dahinter stehenden Mustern. Es besteht die Gefahr, dass für sie Partner dann anziehend wirken, wenn sie vermeintlich hilflos sind und den Anschein erwecken, umsorgt werden zu müssen. Dort liegt ein Grund für das spätere Erwachsenwerden der Scheidungs- und Versorgerkinder: Ihre zentrale Aufgabe ist es, nicht auf ihre unbefriedigten Bedürfnisse 15 fixiert zu bleiben oder zu lernen, diese Rolle abzulegen und sich räumlich wie emotional von den Eltern zu trennen. [vgl. Wallerstein & Lewis 2002, S. 68-69 u. S. 97-99] 4.2 Wenn niemand da ist, der ein Beispiel geben könnte Scheidungskinder haben es in punkto Rollenvorbilder besonders schwer, weil nicht etwa unbeinflußbare Schicksalsschläge, wie etwa ein Unfall oder der Tod eines der Ehepartner zur Beendigung der Beziehung führte, sondern es ist eine Folge des elterlichen Versagens. Die Eltern waren nicht in der Lage, als Partner ihre Beziehung so zu erfüllen, dass die Ehe überdauerte. Trotz aller Bemühungen, musste das Paar kapitulieren. Da nun Scheidungskinder nicht erfahren konnten, wie man Beziehungen am laufen hält, sondern ein- oder mehrfach erlebten, wie Partnerschaften zerbrechen, fehlt ihnen die nötige Orientierung. Sie können sich oft nicht vorstellen, dass Beziehungen haltbar und glücklich sein können. Daher rechnen sie mit einem unvermeidlichen Fehlschlag. (Zitat in Punkt 4.) Konflikte sind Scheidungskindern oft unheimlich. Sie haben weniger Bilder von Versöhnungen im Gedächtnis, als vielmehr eskalierende Streitigkeiten oder solche, die niemals bereinigt wurden. Kann ein Ehepaar seine Auseinandersetzungen nicht beilegen, schwelen sie bis zur Unerträglichkeit unter dem Teppich, was dann ein Zerwürfnis in Form von Trennung oder Scheidung nach sich zieht. Geraten Scheidungskinder in (manchmal belanglose) Meinungsverschiedenheiten, sehen sie häufig gleich die ganze Beziehung in Gefahr, weil Erinnerungen an das konfliktreiche Ende der elterlichen Ehe sie erschrecken und längst vergessene Ängste auslösen. Dies betrifft Konflikte im Privat- gleichermaßen wie im Berufsleben. Einige Scheidungskinder ziehen sich dann zurück oder laufen einfach weg, ohne überhaupt den Versuch der Einigung unternommen zu haben. Ein Konflikt kann immer der Anfang vom Ende sein, denkt sich ein Scheidungskind und reagiert panisch. Hier fehlt ihm das Vorbild, wie man Streitigkeiten konstruktiv lösen kann. [vgl. Wallerstein & Lewis 2002, S. 66 u. S. 86] Ähnlich verhält es sich mit dem inneren Bild einer Beziehung. Kinder aus stabilen, aber unglücklichen Ehen haben die Möglichkeit, die Schablone der Beziehung ihrer Eltern als Grundlage zu verwenden. Auf dieser konnten sie dann in der eigenen Beziehung Veränderungen oder Verbesserungen erwirken. Scheidungskinder verfügen nicht oder selten über innere Bilder einer funktionierenden Beziehung, deshalb fällt ihnen der Ausgleich zwischen den eigenen und den Bedürfnissen des Partners, zum Beispiel, 16 schwerer. Sie haben auch die Höhen und Tiefen einer intakten Partnerschaft selten erlebt oder verinnerlicht, was dazu führt, dass ihr Unmut und ihr fehlendes Vertrauen in ein „gutes Ende“, sie schneller aufgeben lässt. [vgl. Wallerstein & Lewis 2002, S. 104 u. S. 107] Hetherington und Kelly bringen diese Fakten zwar gezielt auf den Punkt, meiner Meinung nach erreichen ihre wissenschaftlichen Formulierungen aber nicht die Tiefe, die der emotionalen Problematik innewohnt: „Scheidungskinder lassen sich oft nur halbherzig auf eine Ehe ein, verfügen über weniger Beziehungsfähigkeiten und zeigen in manchen Fällen eine genetische Prädisposition zu destabilisierenden Verhaltensweisen wie asozialem Verhalten, Impulsivität und Depression.“ [Hetherington & Kelly 2003, S.337] Scheidungskinder brauchen sicherlich länger, um ihren Lebensweg zu finden, begründet in den fehlenden inneren Bildern, die als Leitfaden einen sicheren und stabilen Weg zeigen könnten. Dennoch überwiegt die Anzahl derer, die (durchschnittlich später als junge Erwachsene aus intakten Familien) ein befriedigendes Berufs-, Beziehungs- und Familienleben vorzuweisen haben. Zu diesem Ergebnis kommen Wallerstein und Hetherington gleichermaßen. [vgl. Hetherington & Kelly 2003, S. 337, sowie Wallerstein & Lewis 2002, S. 111] 5. Adoleszenz – Scheidungskinder sind anders Die durch die elterliche Scheidung hervorgerufenen Emotionen, denen Scheidungskinder als Kinder ausgesetzt waren, begleiten sie häufig bis ins Erwachsenenalter, oder tauchen nach Jahren erst wieder auf. Beispielsweise das Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein der erwachsenen Scheidungskinder ist weniger stabil, genauer gesagt, sehr viel abhängiger von äußeren Bestätigungen, als bei „normalen“ jungen Erwachsenen. Des Weiteren haben die meisten Scheidungskinder Probleme mit ihrer Geschlechtsidentität. Dies liegt begründet in schweren narzisstischen Kränkungen die das Kind erfährt, wenn der eine Elternteil weggeht. Er begeht sozusagen Verrat an der Liebesbeziehung zu dem Kind. Daraus entwickeln sich hoch ambivalente Bilder vom eigenen Geschlecht, sowie vom geschlechtsspezifischen Selbstbild von Männern und Frauen. Die Gegensätze zeigen sich in betont weiblichen oder maskulinen Frauen, die entweder sehr dominant oder sehr unterwürfig in ihren Beziehungen auftreten. Bei männlichen Scheidungskindern in der Adoleszenz wirkt es sich ähnlich aus. Beide Geschlechter neigen dazu, das andere Geschlecht zu verherrlichen oder abzuwerten, feste 17 Bindungen anzustreben oder lieber unabhängig zu bleiben. Diese Polaritäten kombinieren sich in jedem Scheidungskind anders und sind hier nur unvollständig erwähnt worden. [vgl. Figdor 2003, S. 78-81] Judith Wallerstein schreibt, dass Kinder aus intakt gebliebenen Ehen trotz Ängsten sehr optimistisch und ziemlich selbstsicher sagen konnten, wie sie es in der Liebe angehen wollten. „Von den erwachsenen Scheidungskindern äußerte sich niemand in dieser Weise. Die Erinnerungen und inneren Bilder (…) waren ganz im Gegenteil armselig oder erschreckend, denn sie lieferten nichts, was geeignet gewesen wäre, die Ängste der Betroffenen zum Schweigen zu bringen. Vielmehr waren diese einstigen Scheidungskinder ihren Ängsten wehrlos ausgesetzt.“ [Wallerstein & Lewis 2002, S. 66] Gerade, wenn alles perfekt zu sein scheint und das Leben reibungslos verläuft, umschleicht Scheidungskinder die Angst vor einem Umglück, das sie wie aus heiterem Himmel treffen könnte – eben so wie die elterliche Trennung und Scheidung sie in der Kindheit unvorbereitet traf. Wallerstein formuliert es in ihrer Einführung auf Seite 31 so: „Wenn das momentane Lebensglück die Aussichten eines Menschen vergrößert, einen Verlust zu erleiden – wie gefährlich muß es dann sein, sich ganz einfach glücklich zu fühlen!“ Unglücklicherweise berichten die meisten der erwachsenen Scheidungskinder, dass sie diese Angst auch nach 20 Jahren nie ganz verlässt. Aber sie lernen, mit dieser Angst umzugehen. [Wallerstein & Lewis 2002, S. 67] Ich hatte schon einmal erwähnt, dass Scheidungskinder länger brauchen um erwachsen zu werden, und begonnen, die Gründe dafür zu erläutern. Ein bedeutender Aspekt dabei ist das fehlende Vorbild der Eltern. Heranwachsende Scheidungskinder können nicht, wie ihre Altersgenossen, nach einem Schema F ihre Vorstellungen von Zielen und Wünschen für ihr bevorstehendes Leben formulieren. Es gilt zuerst, die Vergangenheit abzustreifen, die Verletzungen zu erkennen und zu heilen, damit endlich Platz geschaffen werden kann, für Modellvorstellungen, wie das eigene Leben gestaltet werden kann. Scheidungskinder müssen sich auf fast allen Ebenen des Lebens ohne hilfreiche innere Bilder und ohne Eltern als Vorbilder orientieren, weil diese nicht unbedingt tauglich sind. (Deshalb genießen Mentoren, Berater und Vertraute so viel Anerkennung.) Scheidungskinder werden also viel später erwachsen, weil sie enorm viel in der Adoleszenz leisten müssen. Erschwerend kommt hinzu, dass sie stärker an ihre Eltern gebunden sind (was sicherlich mit der Parentifizierung zu tun hat, die auf intensivem Vertrauen beruht) und deshalb der Prozess der Ablösung schwerer fällt, was 18 paradoxerweise dazu führt, eher diesen Prozess zu durchlaufen, als die jungen Erwachsenen aus intakten Familien. [vgl. Wallerstein & Lewis 2002, S. 68] Erwachsenwerden erscheint Scheidungskindern erschreckend. Die Gefahr des Scheiterns ist groß, so sind sie gegenüber dem anderen Geschlecht ängstlicher und angespannter. Sie gehen Beziehungen zögerlicher ein und tun sich schwer damit, ihnen Zeit zu lassen, sich zu entwickeln. „Verletzlich, unsicher und schrecklich allein, dazu unter biologischem ebenso wie unter sozialem Druck, stürzen diese jungen Männer und Frauen sich in ein Schattenspiel des eigentlichen Lebens – in Sex ohne Liebe, Leidenschaft ohne Engagement, Zusammensein ohne Zukunft.“ [Wallerstein & Lewis 2002, S. 69] 5.1 Partnerschaften der Versorgerkinder Die langfristigen Auswirkungen der elterlichen Scheidung betreffen fast alle Lebensbereiche, weil sie sich tief in die Persönlichkeit des Scheidungskindes einarbeiten. Deshalb werden in diesem Kapitel einige Wiederholungen auftauchen – allerdings diesmal im konkreten Kontext der Partnerbeziehungen. Wie sich beispielsweise die fehlende Vorbildfunktion der Eltern auswirkt, möchte ich hier noch einmal zusammenfassen. Die Eltern, als sich liebendes Paar geht dem Scheidungskind als inneres Bild gänzlich verloren. Geht es nun um die eigene Partnerwahl ist dort ein Loch, wo das zentrale Bild einer intakten Ehe sein sollte. So geschehen die ersten eigenen Partnerschaften ohne einen inneren Plan, ohne familiengeschichtlichen Hintergrund und ohne irgendwelche Führung, die hilft, den richtigen Weg zu finden, wenn es in der Beziehung kriselt. [vgl. Wallerstein & Lewis 2002, S. 65 u. S.84] Versorgerkinder haben noch eine besondere Spezifik: Die Versorgerfunktion haben sie nur deshalb über längere Zeit einnehmen können, weil ein Elternteil (oder gar beide) chronisch überfordert war und nach der Scheidung nicht zu normalen Lebensumständen zurückfinden konnte. Dort verbindet sich die Angst, wie die Eltern beziehungsunfähig zu sein, mit Befürchtungen, nach einer eigenen Trennung oder Scheidung vom Partner, in eine ähnlich passiv-chaotische und hilflose Situation zu geraten, wie die Mutter oder Vater. Erwachsene aus intakten Ehen haben erleben können, dass ihre Eltern trotz schwieriger Auseinandersetzungen und Widrigkeiten als Paar zusammengestanden und Lösungen gefunden haben. Sie wissen, dass das Glück einer Beziehung zum Großteil auf 19 harter Arbeit beruht und erwarten, dass Konflikte sachlich und rational beigelegt werden, wie sie es von ihren Eltern kannten. [vgl. Wallerstein & Lewis 2002, S. 87] Wenn ein solch „normaler“ Partner nun mit einem Scheidungskind eine Liebesbeziehung eingeht, kann es für ihn sehr verwirrend werden, wenn es Auseinandersetzungen gibt. Die Angst vor Konflikten (siehe 4.2) lässt Scheidungskinder extremer reagieren. So wird aus einer banalen Streitigkeit für sie eine handfeste Bedrohung der Partnerschaft. Unter Umständen ergreifen sie die Flucht nach vorn – aus Angst, verlassen zu werden. [vgl. Figdor 2003, S. 83] Die Selbstschutzmechanismen von Scheidungskindern sind unterschiedlich: Entweder sie meiden tiefer gehende Beziehungen von vornherein, oder sie begnügen sich mit oberflächlichen Verhältnissen, die leichter zu beenden sind. [vgl. Figdor 2003, S. 83] „Von den einstigen Scheidungskindern, die wir nach insgesamt 25 Jahren (…) befragten, hatten sechzig Prozent es mit der Ehe versucht. Etwa die Hälfte von diesen hatten mit Anfang zwanzig, einige sogar schon als späte Teenager vor dem Altar gestanden. (…) Eine große Zahl dieser Ehen war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Viele endeten mit der Scheidung, während einige noch heute weiter bestehen – höchst unglücklich und ohne die Aussicht, dass sich daran noch etwas ändern könnte.“ [Wallerstein & Lewis 2002, S. 88] Scheidungskinder neigen dazu, aus Angst, allein zu sein, lieber in unglücklichen und unbefriedigenden Beziehungen zu bleiben. Legen sie sich zu früh auf einen Partner fest, gehen sie in die Falle ihrer Ängste und Befürchtungen. Wer weiß, ob sich noch einmal jemand findet, der einen liebt, oder wenigstens nicht allein zurück lässt. Für Versorgerkinder ist hier die besondere Falle, mit jemandem zu verweilen, der die Versorgerrolle anspricht und beansprucht. Sie wollen ihn „retten“.(siehe Punkt 4.1) Wallerstein fand heraus, dass die Scheidungskinder, die nicht aufgaben, sondern auf der Suche nach einer glücklicheren haltbaren Beziehung die Fehlschläge in kauf nahmen, tatsächlich in der späten Adoleszenz gute Chancen hatten, eine glückliche Ehe einzugehen, die bestand hatte. Über die Jahre waren sie sorgfältiger und überlegter bei der Wahl ihrer Partner geworden. Ein besonderes Phänomen ist allerdings, dass bewusst oder unbewusst die Herkunft aus einer stabilen Familie für Scheidungskinder bei der Wahl entscheidend ist. Offensichtlich verheißt das stabile Elternhaus mehr Sicherheit für die eigene Beziehung, und Sicherheit ist wohl das, was Scheidungskinder am meisten brauchen.[vgl. Wallerstein & Lewis 2002, S. 88-90] Die Kollegen bestätigen: „Auch wenn eheliche Instabilität bei Kindern aus Scheidungsfamilien häufiger ist, eliminiert die Heirat mit einem stabilen, unterstützenden Partner aus einer nicht geschiedenen Familie die 20 generationsübergreifende Tradierung von Scheidung. Eine fürsorgliche, reife Partnerin kann ihrem Mann (oder ein Partner seiner Frau) aus einer Scheidungsfamilie Fähigkeiten vermitteln, die er (sie) zu Hause nicht gelernt hat.“ [Hetherington & Kelly 2003, S. 337] Im selben Abschnitt kommen Hetherington und Kelly zu dem Schluss, dass der überwiegende Teil der Scheidungsopfer, zwanzig Jahre nach der Scheidung ihrer Eltern, in befriedigenden und „sinnvoll angepassten“ Verhältnissen lebte. Nur ein Bruchteil der Scheidungskinder lebten 20 Jahre nach der elterlichen Scheidung in sozialen und emotionalen Schwierigkeiten mit Beziehungs- und Leistungsproblemen. [vgl. Hetherington & Kelly 2003, S. 337] 5.2 Scheidungskinder als Eltern Es ist nicht überraschend, dass Scheidungskinder über das Kinderkriegen sehr intensiv nachdenken. Ob sie sich dafür oder dagegen entscheiden, bringen sie maßgeblich mit ihren eigenen Kindheitserfahrungen zur elterlichen Scheidung in Zusammenhang. Ein Drittel der Scheidungskinder aus Judith S. Wallersteins Studie hatte nach 25 Jahren eigene Kinder, oder plante, welche zu bekommen. Gegen Kinder entschieden sich die übrigen zwei Drittel. Sie befürchteten, ihren Kindern keine guten Eltern zu sein, oder die Scheidungsgeschichte ihrer Eltern zu wiederholen – was sie lieber verzichten ließ. Sie wollten keinesfalls, dass ihre Kinder ähnliche Erfahrungen machen müssen. Die erwachsenen Scheidungskinder, die sich für Kinder entschieden, waren ausgesprochen engagierte und liebevolle Eltern geworden, die das Glück ihrer Kinder für die eigene Heilung als wichtig empfanden. Sie achteten darauf, dass der Nachwuchs eigene Freundschaften und Hobbys pflegen und sich kindgerecht entfalten konnte. Sie bemühten sich, ihren Kindern die Liebe und Sicherheit zu geben, die sie in der eigenen Familie vermisst hatten. Auf diesem Wege gelang es, die alten Wunden zu heilen. Uneheliche Frauen entschieden sich eher, ihr Kind allein groß zu ziehen, trotz fehlender Unterhaltszahlungen der Väter und mangelnder Unterstützung der eigenen Familie waren die Kinder gut versorgt. Einige, der ehelichen Frauen mit Kindern fanden den Entschluss, die Berufstätigkeit einzuschränken oder aufzugeben besonders schwer, weil sie dann auf ihre Partner dauerhaft angewiesen waren. Gleichzeitig waren viele der jungen Eltern der 21 Meinung, dass Kinder ihre Beziehung stabilisieren und bereichern würden. [vgl. Wallerstein & Lewis 2002, S. 94-95] Männliche Scheidungskinder als Väter nahmen ihre Vaterschaft sehr ernst, ihnen lag viel an der Zukunft ihrer Sprösslinge. Für sie war offensichtlich auch sehr wichtig, nicht so zu handeln wie ihre eigenen Väter. Deshalb stellten sie sich der Verantwortung ausnahmslos. [vgl. Wallerstein & Lewis 2002, S. 97] Besonders an Wallersteins Beobachtungen erscheint mir, dass viele der erwachsenen Scheidungskinder mit eigenen Kindern lieber ein lukratives Jobangebot ausschlugen, als mit Kind und Kegel irgendwohin umzuziehen. Tatsächlich bedeutete ihnen das Auswachsen ihrer Kinder in derselben Nachbarschaft mehr, als das eigene berufliche Fortkommen. Die selbst erlebten Wohnortwechsel führten dazu, dass sie die Verwurzelung ihrer Kinder in einem Zuhause als besonders wichtig empfanden. [vgl. Wallerstein & Lewis 2002, S.109] 5.3 Fazit In unserer Gesellschaft sind Trennungen und Scheidungen etwas völlig normales. Niemand stört sich daran, obgleich es natürlich ein sehr trauriger Meilenstein im Leben eines Menschen ist. Dass schon Erwachsene infolge ihrer Scheidung weitaus anfälliger für Krankheiten und Symptome sind, ist zwar bekannt, wird aber gesellschaftlich nicht sonderlich ernst genommen. Allerdings spreche ich hier von erwachsenen Menschen, die sich durch das Scheitern ihrer Ehe völlig aus der Bahn geworfen fühlen. Wie muß es erst den Scheidungs-Kindern gehen? Auf das Thema aufmerksam wurde ich durch die Zeitschrift „Psychologie Heute“ vom März 2002. Dort stand in einem Bericht über Scheidungskinder unter anderem Folgendes geschrieben: „Verletzbarkeit und Stärke - Insgesamt bringen Scheidungskinder eine einmalige Kombination aus Verletzbarkeit und Stärke mit ins Erwachsenenalter. Sie sind besonders verletzbar im Bereich der Liebesbeziehungen. Obwohl viele ihre Angst vor Liebe und Verantwortung allmählich überwunden haben, hat die Mehrzahl von ihnen es nicht geschafft, die Angst abzustreifen, dass das, was sie am liebsten haben, eines Tages verschwinden könnte. Tragischerweise hatte nach 25 Jahren die Hälfte diesen inneren Konflikt nicht gelöst, was sie daran hinderte, eine verantwortungsvolle und liebende Beziehung einzugehen, und sie führten ein 22 einsames Leben. Von unseren Befragten waren das 60 Prozent der Männer und 40 Prozent der Frauen. (…)“ [Psychologie Heute März 2002, S. 51] Grundlage für diesen Artikel waren die Studien von Dr. Judith S. Wallerstein und Dr. Julia Lewis, die (wie ich meine) von ganz besonderem Wert sind, weil sie auf Interviews und biografischen Verfolgungen beruhen. Sie tragen zum Verständnis der Tiefe der Problematik bei und werden so der Emotionalität des Phänomens „Scheidungskind“ gerecht. In den Interviews liest man immer wieder: „Die Angst geht nie ganz verloren.“ Medizinisch betrachtet spricht man von neurotischen Störungen. Unglücklicherweise kommen die schwerwiegenden Auswirkungen, wie Verlust- und Bindungsängste, der elterlichen Scheidung so spät zum Tragen, dass eine Kopplung zu diesem Ereignis nicht unmittelbar geschieht. Die Langzeitfolgen für Scheidungskinder werden meiner Meinung nach einfach gesellschaftlich ausgeblendet und nicht genügend berücksichtigt, obwohl die Langzeitwirkung des Traumas „Scheidung“ bekannt sind. Eltern und Kinder könnten durch eine Beurlaubung nach der Scheidung so entlastet werden, dass eine erste „NotfallAufarbeitung“ möglich wird. Eltern hätten so die nötige Zeit, ihren Kindern die Gründe und Notwendigkeit der Scheidung zu erklären. Dies würde wenigstens ein bisschen Licht in das dunkle Chaos der Gefühle bringen. Wenn schon nicht die Wut und Enttäuschung, so könnte es wenigstens die Schuldgefühle des Kindes abschwächen, wenn klar gemacht werden kann: „Es ist nicht deine Schuld. Mutti und Vati werden dich weiterhin lieb haben. Du bist nicht verantwortlich, wir sind froh, dass wir dich haben.“ In der freien Zeit könnten Eltern sich orientieren, was erst möglich macht, dem Kind klare und verlässliche Zukunftsprognosen zu geben. Für die Zeit der frühen Adoleszenz, in der die Ängste durch die erste Annäherung an partnerschaftliche Liebe wach werden, wäre eine Prävention an Schulen denkbar. Vor Sucht und Abhängigkeit wird schließlich auch gewarnt – warum nicht ebenso vor den Auswirkungen der elterlichen Scheidung? Dann müssten sich nicht tausende von Scheidungskindern allein durch die Achterbahn des ersten Verliebtseins quälen. Mit dem Wissen, das etwas mit ihnen nicht in Ordnung ist, weil sie (stärker als die normalen pubertären Schwankungen) extrem ambivalente Gefühle hegen, die sie oftmals nicht einzuordnen wissen. Wenn ihnen jemand sagen könnte: „Ihr seid völlig normal, habt aber jetzt mit Gefühlen zu kämpfen, die ihr in der Kindheit nur verdrängen konntet. Sucht euch Vorbilder im Freundes-, Verwandten- oder Bekanntenkreis, von denen ihr lernen könnt, wie eine Beziehung funktionieren kann.“ 23 Die Auswirkungen der Scheidung sind leider auch nicht auf Liebesbeziehungen begrenzt. Die mangelnde Konfliktfähigkeit beispielsweise, kann dazu führen, dass Arbeits- und Ausbildungsverhältnisse von einem Scheidungskind (scheinbar!) einfach abgebrochen werden. Möglicherweise nur aus dem Grund, weil es Kritik fürchtet und es nicht versteht, Auseinandersetzungen konstruktiv beizulegen. Ähnlich verhält es sich in freundschaftlichen Beziehungen oder anderen Lebensbereichen. Ich glaube, unsere Gesellschaft zahlt für die vermeintliche Freiheit der Entscheidungen einen hohen Preis. Die Schnelllebigkeit der Beziehungen, der unrealistische Anspruch an Liebe und Partnerschaft (siehe Einleitung) kostet diese Gesellschaft das Vertrauen in die „natürlichste Sache der Welt“ – nämlich das Vertrauen in Partnerschaft, Ehe und Familie. Wenn es tatsächlich so ist, dass etwa die Hälfte aller geschiedenen Ehen auch Scheidungskinder hervorbringen und dann von denen wiederum nur ein Drittel etwa den Weg in den Ehehafen mit Kindern wagt. Dann kann man davon ausgehen, dass uns die Scheidungsgesellschaft – oder besser gesagt: der fehlende Umgang mit den Langzeitfolgen betroffener Scheidungskinder, irgendwann – in nicht all zu ferner Zukunft – die Existenz der herkömmlichen, überdauernden Kernfamilie kostet. Ich wünschte, dass mit den Langzeitfolgen von Scheidungen verantwortungsvoller umgegangen würde. Sonst gibt es vielleicht bald keine Kinder mehr, die in Geborgenheit und Sicherheit – ohne Scheidungsopfer zu werden – aufwachsen. Christiane Tänzler 24 Literaturliste [1] Schmid-Fahrner, Christine: Spielregeln der Liebe - Integrativ systemische Paartherapie; Originalausgabe, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co KG, München, 1997 [2] Engstler, Heribert; Menning, Sonja: Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik; Erweiterte Neuauflage, Erstellt im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt, 2003 [3] Figdor, Helmut: Scheidungskinder – Wege der Hilfe; 4.Auflage, Psychosozial-Verlag, Gießen, 2003 [4] Hetherington, E. Mavis; Kelly, John: Scheidung – die Perspektiven der Kinder; Beltz Verlag, Weinheim, Basel, Berlin, 2003 [5] Largo, Remo H.; Czernin, Monika: Glückliche Scheidungskinder – Trennungen und wie Kinder damit fertig werden; Piper Verlag GmbH, München, 2003 [6] Wallerstein, Judith S.; Lewis, Julia M.; Blakeslee, Sandra: Scheidungsfolgen – Die Kinder tragen die Last (Eine Langzeitstudie über 25 Jahre); Votum Verlag GmbH, Münster, 2002 [7] Kästner, Erich: Das doppelte Lottchen; 139. Auflage, Cecile Dressler Verlag, Hamburg, Atrium Verlag, Zürich, 1990 [8] Psychologie Heute: Scheidungskinder; Verlagsgruppe Beltz, Weinheim, März 2002 25