1 HISTORISCHER WANDEL VON LEBENSLAUF TEIL I EINFÜHRUNG 1. Historisches Kaleidoskop 2. Biografieforschung, Lebenslaufforschung (Begriffsbestimmungen) TEIL II HISTORISCHER WANDEL VON LEBENSLAUF 1. Von der "unsicheren" zur "sicheren Lebenszeit" - zur Herausbildung von Lebenslauf als Institution - Arthur E. Imhof 2. Freisetzung und Bindung - aktuelle Diskussionen zum Wandel von Lebensverläufen Individualisierung Institutionalsierung De-Institutionalisierung 3. Fragestellungen an eine lebenslauforientierte Sozialisationsforschung 4. Historisches Kaleidoskop zum Wandel von Lebensverläufen - Thema: Beziehungen 2 II.1. Von der "unsicheren" zur "sicheren Lebenszeit" - zur Herausbildung von Lebenslauf als Institution - Arthur E. Imhof Einige Hinweise zum Epoche, Mitte 17. bis Mitte 18. Jahrhundert (Zeitalter der Aufklärung): 1648 Ende des 30jährigen Krieges; 1663 August. H. Francke geboren (Erziehungsanstalt in Halle); 1693 John Locke "Einige Gedanken über die Erziehung" 1712 J.J. Rousseau geboren; 1713 Pesteepidemie Norddeutschland (Hamburg 11000 Tote); 1715 Nordischer Krieg (Preußen beteiligt); um 1730 Pestepidemie in Ostpreußen; 1744 2. Schlesischer Krieg; 1746 Pestalozzi geboren; 1782 F. Fröbel geboren Mitte 18. Jahrhundert: Erfindung der Dampfmaschine; Zeitalter der Industriellen Revolution 3 Herausbildung von Lebensverläufen als kontinuitätsstiftendes Modell: "Repräsentative Lebensläufe gibt es erst, seitdem wir alle ein ziemlich gleiches, hohes Alter erreichen, was noch nicht seit sehr vielen Generationen der Fall ist. Zuvor starb der eine als Säugling, der andere als Greis, der dritte irgendwann dazwischen; die eine Mutter starb im ersten Kindbett, die andere, nachdem sie längst alle eigenen Kinder zu Grabe getragen hatte." (Imhof 1985. 17) Grafik: "'Mitten wir im Leben / sind von dem Tod umgeben' - im 18. Jahrhundert ja, heute nein." (Imhof 1985. S. 60) Für die Menschen der Gegenwart, für uns, ist es selbstverständlich von "meinem", "unserem" Lebenslauf zu sprechen. Wir haben eine Vorstellung davon, wie unser Leben verläuft, planen, denken über unsere Zukunft nach. Gründe für diese selbstverständliche Annahme sind: im Vergleich zu früheren Jahrhunderten hat sich die durchschnittliche Lebensspanne ausgedehnt, die Variationsbreite der Sterbealter ist geringer geworden. Kurz: "Wir haben alle einen Lebenslauf." 1719/1749 war das keineswegs der Fall. Die hohe Anzahl derjenigen Kinder, die nach wenigen Monaten starben, ganz zu schweigen von den Totgeborenen, sie wurden begraben, noch bevor ihr "Leben überhaupt hätte zum Laufen kommen können." (1988. 62) Gründe waren: Die Möglichkeiten, gegen Pest, Hunger und Krieg - die großen lebensbedrohenden Gefahren dieser Zeit -, gegen schlechte Ernten erfolgreich zu kämpfen, waren begrenzt. Die Erfahrung der ständigen lebensgefährdenden Bedrohung des Menschen, die Erfahrung, dass Menschenleben in seiner zeitlichen Ausdehnung nicht berechenbar war, "führten zur Einsicht, daß es nicht sehr weise gewesen wäre, Stabilitäten ausgerechnet personenzentriert anzulegen. Wo jedes irdische Leben immer wieder gefährdet und in seiner Dauer unsicher war, hätten sich hieraus im Gegenteil sehr unstabile Verhältnisse ergeben. ... Erst von dem Zeitpunkt an, da es gelang, menschliches Leben in seiner zeitlichen Dauer zu stabilisieren, wirksame Maßnahmen gegen die lebensbedrohenden Gefahren zu entwickeln; das heißt, 4 von dem Zeitpunkt an, wo sozusagen längerfristiger Verlass sowohl auf die eigene wie auf die Lebensdauer anderer Personen ist, "'lohnt' es sich und macht Sinn, in Menschenleben zu investieren. In den früheren Zeiten, wo selbst in friedlichen Zeiten kaum Verlass auf das "Erdendasein" der Personen war, mit denen man zusammen lebte, mit denen man eine Gemeinschaft bildete, hatten notgedrungen andere Werte Vorrang". Strategien, die sich auf die Stabilität der Gemeinschaft richteten, auf diese oder jene Person, auf das verletzbare "EGO" hin zu richten, wären sinnlos gewesen. (Imhof 1985. 19f) Im Zentrum der Bemühungen standen Werte, Dinge, welche das einzelne unsichere Menschenleben überdauerten - wollte man (Familie, Geschlecht, Dorf, Land) Bestand haben, überleben. So waren nicht der einzelne Hofbesitzer, sein individuelles Wohlbefinden zum Beispiel das entscheidend Wichtige, das die Aufmerksamkeit auf sich zog, sondern das Wohl und Ansehen des Hofe selbst. "Eine Idee, ein Wert stand im Zentrum, nicht ein Ego. Unser heute so ausgeprägter Individualismus und Egoismus scheint auch eine der zahlreichen Folgen der sicherer und länger gewordenen irdischen Lebensspanne zu sein." (Imhof 1985. 19,20) Die inviduelle Person, da Ego betrachtete man "bloß als vorübergehenden Träger einer Rolle, in deren Dienst man sich für eine kürzere oder längere Lebensspanne stellte." (Imhof 1985. 139,141) II. 2. Freisetzung und Bindung - aktuelle Diskussionen zum Wandel von Lebensverläufen Zitate: "Die bürgerlich-industrielle Revolution hat die alten Bindungen und verzopften Gewohnheiten radikal zerstört, sie hat ungeheure Kräfte entfesselt, sie hat das Individuum aus Bindungen freigesetzt, ja hinausgestoßen." (Weymann 1989. 5) Kommentar zur gegenwärtigen Diskussion dieser Entwicklung (A. Weymann in seinem "Essay zur Einführung" zu "Handlungsspielräume im Lebenslauf". S.1): 5 "Die gegenwärtige Diskussion um eine Theorie der Moderne entzündet sich an der Beschreibung wiedersprüchlicher Phänomene: wachsende Freiheiten, zunehmende Individualisierung, intensive Autonomiebestrebungen einerseits stehen der Erfahrung von Freisetzung, Bindungslosigkeit, Vereinzelung, aber auch der Einvernahme durch Großorganisationen, "Systeme" gegenüber; ..." 6 Individualisierung von Lebensverläufen (Grundlage Ulrich Beck (1986): Risikogesellschaft) Zur Bestimmung des Begriffes: In dem allgemein gefassten, ahistorischen Modell von Individualisierung sind drei Dimensionen zu benennen: "Individualisierung": "Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge ("Freisetzungsdimension"), Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen ("Entzauberungsdimension") und - womit die Bedeutung des Begriffes gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird - eine neue Art der sozialen Einbindung ("Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension")." (Beck 1986. 206) Unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Bundesrepublik Deutschland lassen sich die drei genannten Dimensionen folgendermaßen präzisieren: zur 1. Dimension Freisetzung "Herauslösung aus ständisch geprägten sozialen Klassen, die sich weit zurückverfolgen läßt bis zum Beginn dieses Jahrhunderts, aber in der Bundesrepublik eine neue Qualität gewinnt." Festzumachen an: Veränderungen im Produktionsbereich: allgemeine Anhebung des Bildungsniveaus und des verfügbaren Einkommens, Verrechtlichung von Arbeitsbeziehungen u.a. Veränderungen im privaten Bereich: Wandel der Familienstrukturen, Wohnverhältnisse, Nachbarschaftsbeziehungen, Freizeitverhalten, Auflösung von sozialen Milieus; Veränderung in der Lage der Frauen: Freisetzung von Frauen aus der "Eheversorgung" (Normalbiografie von Frauen um 1900), damit einhergehend: Veränderung des familialen Versorgungsgefüges; zur 2. Dimension Stabilitätsverlust 7 Nicht mehr Stand oder soziale Klasse; Klassenbindung (soziales Milieu) oder Familie sind Bezugsrahmen. "An die Stelle traditionaler Bindungen und Sozialformen (...) treten sekundäre Instanzen und Institutionen, die den Lebenslauf des einzelnen prägen und ihn gegenläufig zu der individuellen Verfügung, die sich als Bewußtseinsform durchsetzt, zum Spielball von Moden, Verhältnissen, Konjunkturen und Märkten machen." (Beck 1986. 211) zur 3: Dimension Kontrolle "Ständisch geprägte, klassenkulturelle oder familiale Lebenslaufrythmen werden überlagert oder ersetzt durch institutionelle Lebenslaufmuster: Eintritt und Austritt aus dem Bildungssystem, Eintritt und Austritt aus der Erwerbsarbeit, sozialpolitische Fixierungen des Rentenalters, und dies sowohl im Längsschnitt des Lebenslaufes (Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Pensionierung und Alter) als auch im täglichen Zeitrythmus und Zeithaushalt (Abstimmung von Familien-, Bildungs- und Berufsexistenz)." (Beck 1986. 211 f.) Letzteres gilt insbesondere für die Lebensverläufe von Frauen: Doppelexistenz Familie und Beruf. 8 Eine Fragestellung wird in der Folgezeit wiederholt aufgegriffen und am Beispiel ausgewählter Lebensbereiche durchdekliniert: Die Diskussion um die sog. "Doppelgesichtigkeit von Freisetzungsprozessen" Die 'Glanzseite' betont die Freisetzung in ihren positiven Auswirkungen für das Individuum: "..., daß im Übergang zur Moderne ein Prozeß der Herauslösung des einzelnen aus traditionellen Bindungen und Bezügen eingeleitet wird. ... In der Herauslösung aus traditionellen Bindungen ... ist die Chance zu mehr Freiheit enthalten. Modernisierung wird hier vor allem begriffen als Erweiterung des Lebensradius, als Gewinn an Handlungsspielräumen und Wahlmöglichkeiten." (Beck-Gernsheim 1989. 105) "Die Modernität hat in der Tat eine befreiende Wirkung gehabt. Sie hat die Menschen von den einengenden Kontrollen der Familie, der Sippe, des Stammes oder der kleinen Gemeinde befreit. Sie hat dem Individuum vorher ungekannte Wahlmöglichkeiten und Bahnen der Mobilität eröffnet." (Berger u.a. 19751. 168) Das Bild des Doppelgesichtes weist daraufhin, "daß auf der Rückseite der neuen Freiheiten stets auch neue Abhängigkeiten, Kontrollen und Zwänge aufkommen. Damit verbunden sind dann erhebliche Risiken, Konflikte und Brüche im Lebenslauf: sei's im sozialen Feld, als Abstieg, Konkurrenzdruck, Entwurzelung und Isolation; sei's auf der psychischen Ebene, vom Gefühl der Leere und des Versagens bis zur Zerstörung innerer Autonomie." (BeckGernsheim 1989. 105) Zur Kehrseite zählen ebenfalls: - Verlust von vertrauten Milieus; - Unsicherheiten in der Gestaltung von Lebensverläufen; - Entwicklung von alternativen Lebensverläufen; - Fremdheit; 1 Berger, P.; Berger, B.; Kellner, H. (1975): Das Unbehagen in der Modernität. Frankfurt 9 - instabile soziale Netzwerke; u.a. Eine viel diskutierte Fragestellung richtet sich auf die Gestaltung von Beziehungen, das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Titel von E. BeckGernsheim zum Beispiel sind: "Vom Chaos der Liebe" (zusammen mit U. Beck) oder "Freie Liebe - freie Scheidung. Zum Doppelgesicht von Freisetzungsprozessen". 10 Am Beispiel der Partnerwahl lässt sich formulieren: Nicht die Beachtung von Erbfolge, Familienstand, soziale Klasse weist der PartnerInnenwahl ihren Verlauf, die sog. standesgemäße Heirat ist nicht länger ein "Muß", sondern das einzelne Individuum steht einem anderen Individuum gegenüber. Ausschlaggebend ist die ganz persönliche Entscheidung von zwei Menschen für diese Beziehung, zum Beispiel Heirat aus "Liebe". Die eine Seite. Die andere Seite kann bedeuten: zwei Fremde stehen sich gegenüber, "Die Fremdheit beruht auf der Tatsache, daß sie, anders als die Heiratskandidaten früherer Gesellschaftsformationen, aus unterschiedlichen 'face-to-face'Bereichen kommen. ... Sie haben keine gemeinsame Vergangenheit, wenn auch ihre jeweilige Vergangenheit ähnliche strukturiert ist." (Berger; Kellner 19652. 225) Berger, P.; Kellner, H. (1965): Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit. In: Soziale Welt. 3. S. 220235 2 11 Ein zweiter Diskussionsstrang, der als konkurrierendes Modell, als Gegenthese zur Individualisierungsthese oder auch als parallel verlaufende Bewegung (im Sinne N. Elias, wonach eine Bewegung stets auch eine Gegenbewegung auslöst) diskutiert wird, befasst sich mit der Institutionalisierung von Lebensverläufen In Reaktion auf den Wandel von Lebensverläufen, ihrer Herauslösung als traditionalen Bindungen entwickelt sich das Konstrukt von "Normalbiografien", das nunmehr Kontinuität und neue Stabilität bietet, das Individuum und Gesellschaft in Passung bringt: die Institutionalisierung von Lebenslauf. Die Institutionalsierung von Lebenslauf leistet zweierlei: einerseits ist sie als ein "Beitrag zur Herstellung von Biographie und Identität" zu verstehen; andererseits leistet dieses Modell einen Beitrag "zur Konstitutierung gesellschaftlicher Strukturen". (Weymann 1989. 1) 12 Entsprechend sind in Begriffsbestimmungen zu "Lebenslauf" diese Pole, subjektive Interessen in der Gestaltung von Lebensverläufen und gesellschaftliche Strukturen als Rahmen für die Gestaltung in ihrem Spannungsfeld thematisiert: Lebensverlauf - eine Definition "Lebensverläufe sind das Ergebnis einer Vielzahl von Einflüssen: ökonomisch und politisch bestimmte Gelegenheitsstrukturen, kulturell geprägte Vorstellungen, gesetzliche Altersnormen, institutionalisierte Positionssequenzen und Übergänge, individuelle Entscheidungen, Sozialisationsprozesse und Selektionsmechanismen." (Mayer. 1990. 9) Diese historisch neue Einrichtung "Lebensverlauf" "ersetzt die Vergesellschaftung durch Klassen- und Schichtungsstrukturen. An die Stelle von Klassen und Schichten als objektiv eindeutige und subjektiv bewußte Sozialkategorien, als Objekte und Subjekte von Sozialpolitik und sozialer Mobilisierung treten Kategorien von Lebensphasen und des Familienzyklus." (Mayer. 1990. 14) Wir sprechen heute vom Rentner, von erwerbstätigen Mütter mit kleinen Kindern, von Jugendlichen, von Studenten. Anstelle von Politik für Arbeiter oder für das Bürgertum tritt die Politik für eine spezifische Altersgruppe oder eine Gruppe, die eine gleiche Lebenslage teilt. Langfristig gesehen, werden Lebensverläufe "zunehmend institutionalisiert und standardisiert". Das geschieht durch Festlegung von Schulpflicht, von Formen der Ausbildung. Durch die Festlegung von Erwerbsfähigkeit, von Rentenalter u.a. Die Folge u.a. ist, eine Sequentialisierung des Lebensverlaufs in klar definierte und in ihrer Anzahl zunehmende Lebensabschnitt und Übergänge. Beispiel: "Jugendzeit gleich Schulzeit (Hurrelmann, Rosewitz, Wolf 1985. S. 53) Zusammenhang von institutionalisierten Lebenslauf und Gesellschaft: Die Institutionalisierung des Lebensverlaufs, die Herausarbeitung von Normalbiografien müssen wir als Begleiterscheinung, als Entsprechung einer 13 rationalisierten Industriegesellschaft verstehen. Gesellschaftlichen Interessen funktional ist folgender Aspekt: durch die Einrichtung von Lebensverläufen, die für alle gleichermaßen standardisiert sind, ist eine soziale Kontrolle individueller Handlungen gewährleistet; wurde in früheren Zeiten eine solche Kontrolle direkt von der Familie, der Gemeinschaft ausgeübt, so geschieht dies heute wesentlich durch die Vorgabe zeitlicher Regulierung des menschlichen Lebens: für die Individuen werden dadurch - die eine Seite - die Handlungsspielräume eingeschränkt; auf der anderen Seite sind die Handlungsspielräume berechenbar und übersichtlich in ihrem Ablauf, ihrer Gestaltung. Das Individuum hat die Möglichkeit zur vorausschauender Planung des eigenen Lebens. "Und tatsächlich zeigt sich, daß die meisten Menschen auch relativ klare Vorstellungen darüber haben, was in bezug auf Schule, Beruf und Familie noch vor ihnen liegt. Sie glauben an eine bestimmte Abfolge von Lebensereignissen ..." (Sorensen 1990. 305 14 Lebenslauf - eine zweite Definition - Berücksichtigung der Dimension "Zeit" im Lebensverlauf Bei dem Lebenslauf als gesellschaftliche Institution handelt es sich um ein "Handlungsregulativ ..., das am Individuum ansetzt. Der Lebenslauf kann als ein Regelsystem aufgefasst werden, das die zeitliche Dimension des individuellen Lebens ordnet. Dieses System ist heute eine der wesentlichen Vermittlungsinstanzen zwischen Gesellschaft und Individuum. Gesellschaftliche Strukturbedingungen und Probleme entfalten sich für das Individuum in der Lebenszeit; individuelles Handeln ist lebenszeitlich orientiert und wird darin gesellschaftlich erfolgreich." (Kohli 1986. 183,184) In den folgenden Aspekten sind die zentralen Dimensionen zusammengefasst, die den Prozess der Institutionalisierung von Lebensverlauf beschreiben (Kohli 1986. 184, 185): 1. "Verzeitlichung" des Lebens: "Von einer Lebensform, in der Alter nur als kategorieller Status relevant war, hat der Wandel zu einer Lebensform geführt, zu deren zentralen Strukturprinzipien der Ablauf der Lebenszeit gehört." "2. Die Verzeitlichung des Lebens hat sich weitgehend am chronologischen Alter als Grundkriterium orientiert; soziales Alter fällt zunehmend mit chronologischem zusammen. Durch diese Chronologisierung ist es zu einem standardisierten "Normallebenslauf" gekommen." "3. Die Verzeitlichung bzw. Chronologisierung ist ein Teil des umfassenderen Prozesses der Freisetzung der Individuen aus den (ständischen und lokalen) Bindungen der vormodernen Lebensform, ... (Individualisierung)." "4. ... der Lebenslauf ist um das Erwerbssystem herum organisiert; dies gilt sowohl für seine äußere Gestalt" (Kindheit/Jugend als Vorbereitungsphase; "aktives" Erwachsenenleben" als Erwerbsphase; Alter als "Ruhe"phase) "als auch für das ihr zugrundeliegende Organisationsprinzip." "5. Das lebenszeitliche Regelsystem existiert auf zwei unterschiedlichen Ebenen der Konstitution der Gesellschaft: zum einen auf derjenigen des systematisch geordneten Positionssequenzen bzw "Karrieren", die den Individuen auferlegt sind oder offenstehen, zum anderen auf derjenigen ihrer biographischen Orientierungsschemata. Lebenslauf als Institution bedeutet also 15 zum einen die Regelung des sequentiellen Ablaufs des Lebens ..., zum anderen die Strukturierung der lebensweltlichen Horizonte, innerhalb derer die Individuen sich orientieren und ihre Handlungen planen." Zwischen den letzt genannten beiden Dimensionen - standardisierte Sequenzierung und biographische Orientierungsschemata - entwickelt sich zunehmend ein Spannungsfeld. (Beispiel: Studie Fuchs-Heinritz; Krüger u.a. "Fahrpläne durch die Jugendbiographie) 16 De-Institutionalisierung von Lebensverläufen (Destandardisierung von Lebensverläufen) Seit den 68er Jahren lässt sich - im Kontext des Prozesses der Informalisierung - eine Gegenbewegung beobachten, die als "De-Institutionalisierung" beschrieben wird. Die Lebenslauf-Soziologie hat in den letzten Jahren zunehmend eine neue oder Gegen-Entwicklung konstatiert, die die Vorstellung von einem gesellschaftlich institutionalisierten Lebenslauf in Frage stellen bzw. relativieren: Die Gegenbewegung wird als De-Institutionalsierung gefasst. Die Vertreter dieser Richtung berufen sich auf die beobachtbare Tendenz zur EntStandardisierung von Altersnormen. Nicht nur in der Lebensgestaltung von Individuen sondern auch in der Gesetzgebung lasst sich ein flexibleres Umgehen mit Altersnormen feststellen: z.B. Sozial- und Rentengesetzgebung; Altersnormierung von Lebensereignissen. Diese Entwicklung, die partielle Entstandardisierung von Lebensverläufen, ist vor allem für die letzten zwanzig Jahre zu beobachten. Als Tendenz lässt sich beschreiben: Gestaltung des Lebenslaufes in eigener Regie, weniger gebunden an vorgegebene Altersnormierungen; flexibleres Umgehen mit Altersnormen. Dieser Wandel kann als De- Institutionalisierung des Lebenslaufs gefasst werden. Zwei Aspekte sind in diesem Prozess hervorzuheben: - Zum einen findet eine weitere Stufe der Auflösung der zuvor engen Verbindung zwischen Klassenlage und soziokulturellem Milieu; (Nur Mittelschichtkinder gehen auf ein Gymnasium); - zum anderen führen die Spannungen zwischen der Forderung, innerhalb des privaten Lebensbereiches individuelle Entscheidungen zu treffen diesen nach eigenen Interessen zu gestalten und der Forderung, die Lebenslaufplanung im öffentlichen Bereich an normalbiografischen Laufbahnmustern zu orientieren, allgemein zu einer partiellen Entstandardisierung auch im öffentlichen Bereich. z. B. Freizeitkarrieren vs. Schulkarrieren) 17 Entwicklung in ausgewählten Bereichen: Bildungsbereich - De-Institutionalisierung: Die Bildungsinflation, die in den 60er Jahren ihren Beginn hatte, wird allgemein als entscheidende strukturelle Bedingung für die De- Institutionalisierung von Bildungsverläufen angenommen. Der Grund: Die Bildungsinflation "führte zu Fehlentsprechungen zwischen Ausbildungen und Tätigkeiten, zu Unterbrechungen und Warteschleifen: ..." (Mayer. 1990. 14) (Beispiel: Studiengang Pädagogik Diplom) Bereich Familie - De-Institutionalisierung: Auflösung von Normalbiografien: geringere ökonomische Abhängigkeit von Frauen; höhere Scheidungsrate u.a. Bereich Lebensalltag - De-Institutionalisierung (Informalisierung) Nachlassen der "Prägekraft von Ordnungs-, Pflicht-. Arbeits-, Leistungs- und Liebeswerten zugunsten von Werten der Selbstentfaltung, des unmittelbaren Erlebens und Genießens. Das alte Liebes-und-Opfer-Syndrom (für Familie und Vaterland) zerfällt." (Mayer. 1990. 14,15) (s. Elias, Swann, "Informalisierung" seit den 1968er Jahren) Die Rede ist von einem lebenslangen offenen Entwicklungsprozess jenseits institutioneller Programmierung. (Bohnsack, 1989. 15) Beispiel: Schule wird zwar als selbstverständlicher Teil des Daseins Jugendlicher angesehen, sie erscheint Jugendlichen selbst als Bildungseinrichtung als relativ sinnlos. Jugendliche wählen eigene Wege durch ihr Jugendleben. Nach wie vor allerdings zeigen entsprechende empirische Forschungen ein Vorherrschen altersspezifischer regelhafter Lebensverlaufsmuster in Lebensverläufen. Auf die Frage, warum sich eigentlich Menschen an solche 18 normalbiografischen Muster halten, eine Vorstellung davon haben, welche Abfolge im Leben "normal" ist und "richtig" betont Heckhausen (1990): Man könne davon ausgehen, "daß die von den Individuen internalisierten normativen Vorstellungen vom Lebenslauf die äußeren in gesellschaftlichen Institutionen verankerten Zwänge bei der Regulation des Lebenslaufes allmählich ersetzen könnten. Vielleicht ist also das Spannunsgverhältnis zwischen Institutionalisierung und Deinstitutionalsierung des menschlichen Lebenslaufs nur eine weitere Erscheinungsform des gleichen Phänomens der Internalisierung gesellschaftlicher Normen bei gleichzeitigem Funktionsverlust externaler institutioneller Zwänge?" (Heckhausen 1990. 353)