Rolf Sistermann Unterrichten nach dem Bonbonmodell Ein Musikvideo als Hinführung zur Reflexion über die Endlichkeit des Lebens in einer Unterrichtseinheit für die Klassen 8-10 in: ZDPE 4/2008 1. Die Unterrichtseinheit: Der biologische Tod und was darüber hinausgeht „Ein Leben“ steht lapidar in weißer Schrift auf schwarzem Grund am Anfang eines Musikvideos von Marius Müller-Westernhagen. Das Video enthält erstaunliche Bilder, die man in einem solchen Medium am allerwenigsten erwartet. Jemand wischt eine Staub- oder Erdschicht von einer Schiefertafel. Dann wird ein neugeborenes Baby auf die Tafel gelegt, das sich schnell verändert und älter wird. Links oben auf der Tafel kann man die Zahl der Lebensjahre der Person ablesen, die unbeweglich mit nacktem Oberkörper auf der Tafel liegt. Bei der Zahl zwanzig erkennt man schon deutlich die Züge des Sängers. Die Veränderung der Gestalt führt jedoch nicht etwa bis zu seinem jetzigen Lebensalter, sondern zeigt ihn in einer für einen Popstar verblüffend uneitlen Darstellung auch als Greis, bis er schließlich mit 93 Jahren stirbt und ihm jemand die Augenlider zudrückt. Aber die Veränderung geht weiter. Wir sehen, wie die Gestalt verwest, wie das Skelett auseinanderfällt und schließlich in der 44 Staubschicht vom Anfang verschwindet. Die erschreckenden, aber auch faszinierenden, im Ganzen jedenfalls sehr eindrucksvollen Bilder dienen als Hinführungsmedium zu der hier zu beschreibenden Unterrichtseinheit. In unerhört nüchterner und schonungsloser Weise, ohne brutal, obszön oder abstoßend zu sein, führen sie die Sterblichkeit des Menschen vor Augen. Daraus ergibt sich ganz von selbst die Frage, welche Gedanken und Gefühle die Schüler mit dem Wissen um die Sterblichkeit verbinden. Wir stehen allerdings mit dieser Frage vor einem typischen Dilemma des Unterrichts in Ethik und Praktischer Philosophie. Einerseits soll es durchaus um Orientierung in persönlichen und existentiellen Fragen gehen. Andererseits wollen wir den persönlichen Bereich unserer Schüler schützen und niemanden dazu drängen, sich vor den anderen, die er oft kaum kennt, seelisch zu entblößen oder gar lächerlich zu machen. Es ist in einer zufällig zusammengewürfelten Lerngruppe immer sehr heikel, solche existentiellen Fragen im Plenum zu besprechen. Für dieses Dilemma bietet die Arbeit mit Musikvideos, auf die ich weiter unten noch allgemeiner eingehen werde, gute Lösungsmöglichkeiten. Im Unterschied zu den für den Philosophieunterricht uninteressanten Performancevideos, die den größten Teil der bei MTV oder VIVA gesendeten Clips ausmachen, enthalten die selteneren sogenannten Konzeptvideos Bildgeschichten auf der Ebene mittlerer Konkretion. Sie sind so konkret, dass sich die Schüler unmittelbarer angesprochen fühlen als durch einen abstrakten Text. Sie sind aber trotzdem so allgemein, dass die Schüler nicht zu persönlich werden müssen, wenn sie nach Beispielen suchen, sondern sich immer hinter das Medium zurückziehen können. Grundsätzlich ist dies auch bei der Arbeit mit literarischen Texten gegeben. Aber abgesehen davon, dass diese bei anspruchsvolleren Problemen an das Verständnis viel höhere Anforderungen stellen und damit für viele Schüler in der Sek. I eine fast unüberwindliche Hürde darstellen, bevor sie überhaupt zu der eigentlichen philosophischen Frage kommen, bietet die Arbeit mit Musikvideos darüber hinaus noch methodische Möglichkeiten, die in dieser Weise bei keinem anderen Medium gegeben sind. Man kann bei geeigneten Musikvideos den Ton abdrehen und nur die Bilder zeigen oder umgekehrt den Schülern nur den Text geben und das Bild ausschalten. Damit ergeben sich von selbst spekulativ-kreative Möglichkeiten der selbsttätigen intuitiven Problemlösung. Die Schüler können selbst einen Text zu den Bildern schreiben oder Bilder zu dem vorgegebenen Text entwerfen. Diese können sie dann in einer kontrollierten Problemlösungsphase mit dem Originaltext oder den Originalbildern und ergänzenden Texten vergleichen. In der hier vorgestellten Unterrichtseinheit habe ich den Schülern der Klasse 10 zuerst nur das Musikvideo von Müller-Westernhagen ohne Ton gezeigt und sie zu den Bildern einen eigenen Text schreiben lassen. Dabei kamen schon während der Stunde schöne Beispiele zustande, die die Schüler zu Hause noch einmal überarbeiten konnten. Ich habe zwei Beispiele herausgegriffen und sie auf Folie nebeneinandergestellt: Ein Leben – ein ewiges Rad Ein Kreislauf – begonnen gerad’. Ein Körper entsteht, wächst gedeiht, Du kommst auf die Welt ganz blutig mit Nabelschnur. Sobald sie durchschnitten ist, 45 genauso wie unser Geist. hast du dein eigenes Leben. Auch, wenn dein Leben mal zu Ende geht, bist du nicht vergessen. Denn deine Seele lebt weiter. Wir werden geboren, wir wachsen, Erkunden unsere Welt. Nach 20 Jahr’n sind wir erwachsen. Fragen uns, was uns hier hält. Erst wirst du ein Kind und gehst in den Kindergart en, dann wirst du ein Jugendlicher und gehst in die Schule. Irgendwann wirst du erwachsen und erschaffst ein neues, einzigartiges Leben. Auch, wenn dein Leben .... Und niemand in diesem Alter kommt der Gedanke auch nur, dass wir aus Asche entstanden und nach dem Tod zu Asche zerfallen und nach dem Tod zu Asche zerfallen (Katrin Sommer, Kl. 10) Doch dann wirst du alt, deine Kinder bekommen selbst eigene Kinder. Dein Leben neigt sich dem Tode zu und du kannst nichts dagegen tun. Auch, wenn dein Leben.... (Johanna Jürgensen, Kl. 10) Den Schülern fiel im Vergleich bald auf, dass der erste Text sich enger an die Bildvorlage hält, während der zweite in den Refrainzeilen darüber hinausgeht. Ein Schüler meinte: „Davon, dass die Seele weiterlebt, ist aber nichts zu sehen!“ In der nun folgenden kontrollierten Problemlösungsphase werden die Schüler angeleitet, ihre Lösungen mit denen anderer Autoren zu vergleichen. Im Vergleich der beiden ergänzenden Texte stellen sie fest, dass auch hier der eine Text, nämlich der von Faller, sich sehr eng, teilweise schon schockierend eng, an die biologischen Fakten hält, während der des Liedermachers Müller-Westernhagen an vielen Stellen, die auf der Folie markiert werden, weit darüber hinausgeht: „Wenn ich das Licht seh, will ich mit dir gehen.“ „Die anderen warten schon“ „Über den Horizont.“ M. Müller-Westernagen: Nimm mich mit Ich kann dir nicht erklären, was ich dir sagen will Ich kann dir nicht erklären, was ich fühl’ Doch wenn ich das Licht seh’, kann ich dich versteh’n Ja, wenn ich das Licht seh’, will ich mit dir geh’n Adolf Faller: Anzeichen des Todes Als wahrnehmbare Vorboten des Todes lassen sich nennen: „Verwesungsgeruch in der Ausatmungsluft; [... das Gesicht] mit der sich scharf profilierenden Nase, dem halboffenen Mund, dem Herabsinken der Augenlider; unwillkürlicher Abgang von Urin und Kot; kalter Was ich tu’, ist nicht logisch, doch ich muss es tun Schweiß und Totenblässe der Haut ... Der Schleim, Und all meine Zweifel sind lang’ zerplatzt der nicht mehr ausgehustet wird, verursacht Doch wenn ich das Licht seh’, gibt es keine Frage rasselnde Geräusche. Die Tastempfindung beginnt mehr zu schwinden. Die Hände bewegen sich Ja, wenn ich das Licht seh’, gibt es keine Fragen unkoordiniert [...]. Die meisten Kranken sterben mehr ohne klares Bewusstsein.“ Ist der Tod eingetreten, dann hören Atem, Nimm mich mit, zeige mir den Weg Herztätigkeit und Pulsschlag auf. „Die Haut ist [...] Nimm mich mit, eh der Wind sich dreht blass und unempfindlich. Die Hornhaut trübt sich. Nimm mich mit über den Horizont Die Pupillen werden weit. Die Muskeln erschlaffen. Nimm mich mit, die andern warten schon Der Eintritt der Totenstarre ist unterschiedlich. Nach heftiger Muskelanstrengung kann die Starre 46 Die Leute sagen, ich sei ungesund Und von meinen Gedanken wird es ihnen schlecht Doch wenn ich das Licht seh’, ist mir das egal Ja, wenn ich das Licht seh’, ist mein Kopf wie Kristall plötzlich auftreten. In der Regel vergehen drei bis zehn Stunden bis zu deren Eintritt.“ Wenn sich die Totenstarre nach 24--48 Stunden löst, kann es zu Bewegungen kommen. Untrügliche Kennzeichen des eingetretenen Todes lassen sich erst eine gewisse Zeit nach dem Eintritt feststellen, am sichersten durch den Zerfall Nimm mich mit, zeige mir den Weg der Gewebe. „Die Zellen der bereits trüben Nimm mich mit, eh der Wind sich dreht Hornhaut beginnen sich voneinander zu lösen. Nimm mich mit über den Horizont Einige Stunden später werden an den abhängigen Nimm mich mit, die andern warten schon Körperpartien die Totenflecke sichtbar. Zunächst kann man sie noch wegdrücken, später bleiben sie Ich hab’ mich verlaufen, der Himmel scheint so fixiert. Die Haut beginnt einzutrocknen und weit, so weit bekommt besonders an den Lippen Und ein Mann trägt ’n Schild, und auf dem Schild, pergamentartiges Aussehen. Durch die im Darm da steht nur FREI sich entwickelnde Fäulnis beginnt sich die Ich möchte das Licht seh’n, dann ist alles gut Bauchhaut grünlich zu verfärben. Die Fäulnisgase Ich möchte das Licht seh’n, du siehst aus wie tot treiben den Leib auf. Bakterielle Zersetzung und Insektenlarven bauen die toten Gewebe Nimm mich mit, zeige mir den Weg fortschreitend ab, wenn Luft zutreten kann und Nimm mich mit, eh der Wind sich dreht genügend Feuchtigkeit und Wärme vorhanden ist. Nimm mich mit über den Horizont Nach vier bis sechs Jahren bleibt nur mehr das Nimm mich mit, die andern warten schon Knochengerüst übrig.“ Das ist zweifellos das untrüglichste Anzeichen des eingetretenen Todes. Faller, Adolf: Biologisches vom Sterben und Tod. In: Anima, 1956, S. 260. nach: Jüngel, Eberhard: Tod., Gütersloh 1971. S. 33f. In der anschließenden Festigungsphase werden Begriffe, mit denen sich die Beobachtungen zusammenfassen lassen, explizit eingeführt und an der Tafel festgehalten. Alles, was im biologisch-natürlichen Rahmen Alles, was den biologisch-natürlichen Rahmen bleibt: Immanenz (lat: immanere bedeutet „in überschreitet: Transzendenz (lat.: transcendere einem bestimmten Bereich bleiben“) bedeutet „überschreiten oder darüber hinausgehen“) In der abschließenden Transferphase bekommen die Schüler die Aufgabe, Todesanzeigen zu sammeln und zu untersuchen, welche von ihnen immanent bleiben und welche transzendente Formulierungen enthalten. Außerdem sollen sie Thesen entwickeln, warum die Menschen schon immer mehr über den Tod gesagt und geschrieben haben, als man biologisch feststellen kann. 2. Das Bonbonmodell als Strukturierungsprinzip eines Lernprozesses Die hier beschriebene Unterrichtseinheit ist nach einem Modell aufgebaut, dass sich im Wechsel zwischen eng geführten und breit gestreuten Unterrichtsbeiträgen in der Form eines Bonbons darstellen lässt. Wenn man Lernen als zielgerichtetes, intentionales Handeln begreift, müssen bestimmte Lernphasen beachtet werden, deren Länge sehr unterschiedlich sein kann, deren Abfolge jedoch unabdingbar ist. Um einen deutlich wahrnehmbaren Lernfortschritt zu erreichen und um den Zugang zu anspruchsvollen Texten oder anderen Arbeitsmedien zu erleichtern, 47 müssen diese jeweils an eine Problemstellung angebunden werden, mit der sich die Schüler beschäftigen können, bevor sie das betreffende Arbeitsmedium erhalten. Sie haben damit die Möglichkeit, in einer selbstgesteuert-intuitiven Problemlösungsphase eigene Antworten zu finden, die in der anschließenden angeleitet kontrollierten Problemlösungsphase mit den Antworten des Textes verglichen werden können. Sie können auf diese Weise wesentlich leichter ein Verständnis des Textes oder des sonstigen Arbeitsmediums entwickeln, den Wert der dort gegebenen Antworten ermessen und kritisch dazu Stellung nehmen. Entscheidend ist es, eine qualifizierte Frage zu finden, die die Schüler dazu bringt, ein Bewusstsein für das im fraglichen Text behandelte Problem zu entwickeln und mögliche Lösungen zu antizipieren. Sinnvollerweise hält man die intuitiven Lösungen an der Tafel fest und vergleicht sie in der Festigungsphase mit den in der kontrollierten Problemlösungsphase aus dem Text gewonnenen Antworten. Dabei können die Schüler selbst feststellen und beurteilen, wie sich das Reflexionsniveau ihrer Antworten von dem des zur Diskussion stehenden Autors unterscheidet. Sie stellen dabei manchmal fest, dass einzelne ihrer Antworten sich nicht vor denen des Experten zu verstecken brauchen, sondern dessen Lösung in einer weniger elaborierten, aber durchaus treffenden Weise antizipiert haben. Der Lehrer arrangiert also mit den Schülern zusammen einen Lernprozess, in dem die Schüler selbst feststellen können, welchen Fortschritt sie in der Beschäftigung mit den Medien in der kontrollierten Problemlösungsphase gemacht haben. Der Lernprozess braucht nicht mit dem Ablauf einer Unterrichtsstunde identisch zu sein, sondern kann sich auch schon einmal über mehrere Unterrichtstunden hinziehen oder kann in einer Stunde mehrmals stattfinden. Wichtig ist nur, dass der Lehrende und möglichst auch der Lernende weiß, in welcher Lernphase er sich jeweils befindet. Die Phasierung entspricht den in Deutschland zuerst von Heinrich Roth beschriebenen Lernphasen, die hier nur etwas anders benannt und akzentuiert werden. Danach soll die Hinführung zu einer möglichst präzisen, nachvollziehbaren Problemstellung führen, an der die Schüler in der folgenden intuitiven Problemlösungsphase selbständig oder in Zusammenarbeit mit Mitschülern arbeiten können. So können sie sich in das Problem hineindenken und mögliche Lösungen antizipieren. Sie können dadurch dem Anspruch des Textes oder anderer Medien, mit dem sie in der kontrollierten Problemlösungsphase konfrontiert werden, besser und leichter gerecht werden. In der Festigungsphase sollten die Ergebnisse der kontrollierten Phase auf den Begriff gebracht, im Vergleich mit denen der intuitiven Phase befragt und in den Zusammenhang der Reihe gebracht werden. Schließlich geht es in der Transferphase um Anwendung und Erprobung an Beispielen, kritische Stellungnahme und anschließende offene Fragen. Besonders die selbstgesteuerte intuitive Problemlösungsphase kann unterschiedlich lang sein. Je nachdem, wie ausführlich die Schüler ihre Lösungen ausarbeiten und einbringen wollen, kann sie zehn Minuten, eine ganze Stunde oder sogar mehrere Stunden umfassen. In den verschiedenen Lernphasen kommen die unterschiedlichen philosophischen Methoden schwerpunkthaft zu Anwendung, die Ekkehard Martens in seiner 48 Methodik des Philosophieunterrichts umfassend beschrieben hat1 und die die Fachverbände Ethik und Philosophie in einem Diskussionspapier 2006 als besondere Standards herausgestellt haben. Man könnte die verschiedenen Methoden den einzelnen Lernphasen folgendermaßen zuordnen: In der Hinführungsphase geht es darum, dass die Schüler mit phänomenologischen Methoden etwas wahrnehmen, das zur „Problemkonstituierung“ führt. In der selbstgesteuert-intuitiven Problemlösungsphase sollen sie mit spekulativen Methoden weiterführenden Einfällen nachgehen. In der angeleitet-kontrollierten Problemlösungsphase sollen sie mit hermeneutischen Methoden Texte verstehen lernen. In der Festigungsphase geht es um die Klärung von Argumenten und Begriffen mit Hilfe analytischer Methoden. In der Transferphase schließlich sollen sie mit Hilfe dialektischer Methoden „Auseinanderssetzungen führen können“. Zusammengenommen ist damit ein natürlicher Lernprozess beschrieben, in dem offene und geschlossene Phasen bzw. weitere und engere Fragestellungen miteinander wechseln. Die Phasen des Lernprozesses können zwar, müssen aber nicht identisch sein mit der Strukturierung einer Unterrichtstunde. Sie können sich auch über mehrere Unterrichtstunden erstrecken. Daraus ergibt sich eine Synopse in der vergleichenden Benennung durch Roth, Martens, Sistermann und dem Diskussionspapier der Fachverbände (s. S. 000). In dem systematischen Wechsel zwischen den Phasen subjektiver Aneignung und der Vermittlung von Expertenwissen entspricht das Bonbonmodell dem, was Diethelm Wahl als Sandwich-Prinzip bezeichnet. Das Sandwich-Prinzip schreibt vor, zwischen möglichst kurze und informative kollektive Lernphasen möglichst umfangreiche Phasen des aktiven und selbstgesteuerten Lernens einzuschieben.2 Allerdings betont Wahl zu wenig, dass ein kontrollierbarer Lernfortschritt auch bei selbstgesteuertem Lernen eine überschaubare und begrenzte Problemstellung voraussetzt, deren Lösung in einem ebenso überschaubaren Rahmen auf den Begriff gebracht und durch Wiederholung gefestigt werden sollte. Die oben beschriebene Unterrichteinheit findet sich am Anfang des siebten Kapitels eines neuen Unterrichtswerkes für Ethik und Praktische Philosophie, das im Schroedel Verlag unter dem Titel „Weiterdenken“ erscheint (Band B ab Klasse 8) und das konsequent nach dem „Bonbonmodell“ gestaltet ist. Zu jedem der sieben Fragenkreise enthält das Buch fünfzehn Doppelseiten. Diese sind so angelegt, dass offene kreative Phasen mit geschlossenen Phasen verbunden sind. Die Reihenfolge der eingesetzten Medien und die damit verbundenen ArMartens, E.: Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik. Hannover: Siebert 2003; Zusammenfassung: Ders.: Ein integratives Methodenparadigma der Unterrichtsgestaltung. In: Steenblock, V. (Hrsg): Philosophiekurse. Münster: Lit 2004. S. 155ff. 2 Wahl, D.: Lernumgebungen erfolgreich gestalten. Vom trägen Wissen zum kompetenten Handeln. Bad Heilbrunn 2006. S. 95ff. 1 49 Leerzeilen Leerzeilen Leerzeilen 1. Stufe der Motivation 1. Phänomenologische Methode: etwas wahrnehmen können 2. Stufe der Schwierigkeiten 2. Probleme konstituieren Wahrnehmungen, Beobachtungen und Erfahrungen differenziert und systematisch beschreiben, verstehen und erklären Konflikte bearbeiten, Gespräche führen 3. Stufe der Lösungen 3. Spekulative Methode: Einfälle haben können Fantasie und Kreativität entwickeln Texte verfassen 4. Stufe des Tuns und Ausführens 4. Hermeneutische Methode: Jemanden verstehen können Texte und andere Medien auf ihren ethisch-philosophischen Gehalt hin erschließen fragen und erkunden 5. Stufe des Behaltens und Einübens 5. Analytische Methode: Argumente und Begriffe klären können Begriffe erklären und angemessen verwenden 6. Dialektische Methode: Auseinandersetzungen führen können Werte klären; Argumentieren und Kritik üben; Handeln 6. Stufe des Bereitstellens, der Übertragung und der Integration des Gelernten (Roth, H.: Pädagogische Psychologie des Lehrens und Lernens. 121970. S. 208ff.) (Martens, E.: Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. 2003) (Sistermann, Rolf in: ZDPE, 1/2005. S. (Methodenkompetenzen, nach 16--27) Diskussionspapier der Fachverbände Ethik und Philosophie zu Bildungsstandards für die Sek. I. In: E&U, 4/2006. S. 44) 44 beitsaufgaben entsprechen damit einer lernpsychologischen Logik, zielen auf einen wahrnehmbaren Lernfortschritt und können so unmittelbar im Unterricht eingesetzt werden. Das zweite didaktische Prinzip, das in anderen Unterrichtswerken so noch nicht verwirklicht worden ist, besteht in dem besonderen Umgang mit Jugendliteratur. Ausschnitte aus literarischen Texten haben, den Vorgaben des Kerncurriculums entsprechend, inzwischen in allen Büchern für Ethik und Praktische Philosophie ihren Platz. Allerdings tauchen sie immer nur in einem kurzen Ausschnitt auf einer Seite einmal auf. Wenn Lehrer und Schüler sich in die Geschichte hineingedacht haben, werden sie auf den nächsten Seiten wieder mit völlig anderen Geschichten und Figuren konfrontiert. Schülern, die die thematischen Zusammenhänge noch nicht so gut im Blick haben, geht dabei oft der rote Faden verloren. Lehrer müssen nach jeder Stunde wieder neu entscheiden, welches Unterthema als nächstes kommt. Kontinuität wird oft durch wenig überzeugende erfundene Kindernamen hergestellt, die dann immer mal wieder im Kapitel auftauchen nach dem Motto „Anja hat ein Problem ...“ oder „Peter hat auf dem Dachboden ein Buch über indische Weisheit gefunden und will es Erika unbedingt vorlesen ...“ In dem Unterrichtswerk „Weiterdenken“ haben die Autoren sich bemüht, möglichst viele Textausschnitte aus einem zu dem jeweiligen Fragekreis passenden Jugendbuch in das entsprechende Kapitel aufzunehmen und diese als Hinführung für die jeweiligen Lernprozesse wie an einem roten Faden durch das ganze Kapitel durchzuziehen. Auf den Eingangsseiten werden die Figuren vorgestellt, die dann im Kapitel immer wieder auftreten werden und zu den einzelnen Problemstellungen der Unterthemen führen. 3. Chancen und Möglichkeiten bei der Arbeit mit Musikvideos im Unterricht „Ethik/Praktische Philosophie“ Wie anfangs angekündigt, möchte ich im Folgenden noch etwas allgemeiner auf die Möglichkeiten zum Einsatz von Videoclips oder Musikvideos im Unterricht Ethik/ Praktische Philosophie eingehen. Für Lehrer des Faches Praktische Philosophie sollte das Unternehmen eigentlich nicht ungewöhnlich sein. In der Erprobungsfassung des Kerncurriculums von 1997 hieß es schon unter 3. 3. (Arbeitsformen): „Die Videos, CDs, Kassetten und Computerspiele, die zum Alltag vieler Kinder und Jugendlichen gehören, sind eine Fundgrube für die reflektierende, kreative und konstruktive Aufarbeitung ihrer Erfahrungsräume.“ „Neben der Möglichkeit, die audiovisuellen Medien zur Veranschaulichung von Sachzusammenhängen zu nutzen, geht es im Unterricht Praktische Philosophie vor allem darum, die faszinierenden, suggestiven, sinngebenden und auch manipulativen Potenziale von Medien zu thematisieren. Medien instruieren Wirklichkeit; sie beeinflussen Einstellungen, Erfahrungen und das Urteilsvermögen.“ Obwohl es also immer einmal wieder Anregungen gibt, populäre Kultur in den Philosophieunterricht einzubeziehen3, liegen bisher in der Hier ist besonders die Kulturphilosophie von Volker Steenblock zu nennen: „Im Medium des Populären kann auch ein Eigentliches statthaben.“ In: Ders.: Kultur oder Die Abenteuer der Vernunft im Zeitalter des Pop. Leipzig: 3 44 Fachdidaktik Philosophie im Unterschied etwa zur Fachdidaktik Religion4 so gut wie keine Erfahrungsberichte zur Arbeit mit Musikvideos vor. Warum gerade Musikvideos? Die meisten Erwachsenen, die beim Zappen durch die Fernsehkanäle zufällig an einen Musikvideosender geraten, schalten schnell weiter, erschrocken, irritiert oder ärgerlich, je nach Temperament. Die flackrig-lauten Gebilde sind meist zu unruhig für die Sehgewohnheiten von Erwachsenen. Dies gilt auch für viele Lehrer und Lehrerinnen. Dabei gibt es wohl keine bessere und leichter zugängliche Quelle, wenn man wissen will, welche Weltbilder Jugendliche heute haben und welches Lebensgefühl sie bewegt. Musikvideos sind Medien, die wie keine anderen die heutige Jugendkultur prägen. Die 12- bis 16-Jährigen nutzen den Fernsehapparat im Durchschnitt pro Tag etwa zweieinhalb Stunden. An erster Stelle stehen dabei, allen Untersuchungen zufolge, die Musikvideosender MTV und VIVA. Die Gestalt dieses neuen Mediums ist ebenso unterschiedlich wie die aller anderen Medien. Als Lehrer sollten wir uns hüten, ein pauschales Urteil über sie zu fällen, sondern uns vielmehr die Mühe machen, sie genauso differenziert zu betrachten, wie wir es von unseren Schülern bei den herkömmlichen Medien verlangen. Musikvideos sind synästhetische Gebilde, die auf unmittelbare Wirkung zielen. Dient die Musik schon dazu, den Text emotional aufzuladen, so wirkt die Unterlegung mit Bildern potenzierend. Synästhesie bringt Intensität und bietet den Jugendlichen offenbar Ersatz für die Gefühlskälte des Alltags. Unterscheidungen: Viele Videoclips zeigen nur die Performance der jeweiligen Gruppe als Konzertmitschnitt oder im Studio garniert mit endlosen Tanzszenen. Andere aber bieten suggestive Bilder zu den Songs. Manche bringen ganze Bildgeschichten und Kurzdramen aus dem Alltag (Narrative oder Konzeptvideos). Clip bedeutet „kurzer Schnitt“. Nur durch eine hohe Schnittfolge schafft man es, in drei oder vier Minuten eine Bildgeschichte zu erzählen oder ein Konzept zu entwickeln. Dazu kommen Überblendungen, Montagetechnik oder Computersimulation. Auch banale Textzeilen werden durch die unterlegten Bilder plötzlich bedeutsam, doppelbödig, vieldeutig, hintergründig, vielleicht sogar symbolisch. Damit stellen sie ein neues, in der Philosophiedidaktik bisher kaum wahrgenommenes, vorzügliches Medium dar. Oft stand der Unterricht bei der Arbeit mit Popsongs bisher vor der Schwierigkeit, dass die Schüler den englischen Text nicht verstanden und ihn mühsam rekonstruieren und übersetzen mussten. Die Bildgeschichten wirken unmittelbar. Videoclips sind audiovisuelle Gedankenexperimente.5 Gedankenexperimente sollen den Philosophieunterricht anschaulicher machen, sollen den Aufstieg zu den kahlen Reclam 2004. S. 104. vgl.: auch Steenblock, Volker: Philosophieren mit Science-Fiction-Filmen? Kulturelle Reflexion im Spiegel des Populären. www.ruhr-uni-bochum.de/philosophy/staff/steenblock/TexteUtopie/UtopieSteenblock. 4 Vgl z.B. Andreas Mertin, Videoclips im Religionsunterricht, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999 oder Peemöller- Schulz, Antje/ Schulz, Martin/ Surkau, Silke: Auseinandersetzung mit Sterben und Tod in VideoClips, in: M. Pirner/Th. Breuer, Medien- Bildung- Religion, München 2004, 207-217. Martin Schulz verdanke ich den Hinweis auf den Clip von Müller- Westernhagen 5 Sistermann, R.: Audiovisuelle Gedankenexperimente. Musikvideos als neue Medien im Philosophieund Ethikunterricht: Ein Beispiel aus Klasse 9. In: E&U, 1/2004. S. 29--35; der Text kann heruntergeladen werden unter www.rpi-virtuell.net. (http://www.rpivirtuell.net/index.php?p=material_ordner&id=13727) 45 Höhen der abstrakten Gedanken leichter machen.6 Die Anschaulichkeit der literarischen Gedankenexperimente ist aber nur eine gedachte. Der Film hat andere Möglichkeiten, ist aber für den 45 Minuten Unterricht zu aufwändig. Ausgewählte Clips bieten ideale visuelle Gedankenexperimente. Der Möglichkeitssinn wird angesprochen. (Ermanno Bencivenga hat die Philosophie als die Wissenschaft von dem Möglichen bezeichnet7) . Ähnlich wie bei der Kurzgeschichte bleibt vieles offen und regt zum Weiterdenken an. Wie kommt man an geeignete Clips? Viele Schüler haben Musikvideos auf Kassette oder DVD aufgenommen und werden nicht zögern, sie in den Unterricht mitzubringen, wenn man sie dazu auffordert. Man sollte aber nicht den Eindruck erwecken, es gehe darum, den Unterricht attraktiver zu gestalten, indem Jugendliche zur Abwechslung einmal ihre Musik hören können. Man wird bald feststellen, dass es nicht „die“ Musik der Jugendlichen gibt, sondern sehr verschiedene Stile, deren Anhänger sich heftige „Konfessionskämpfe“ liefern können. Außerdem wird die Begeisterung schnell in Frustration umschlagen, wenn der heiß geliebte Song zum Unterrichtsgegenstand gemacht wird. Es muss deshalb von vornherein klar sein, dass es nicht um besonders aktuelle, sondern um philosophisch relevante Clips geht. Meine besten habe ich gefunden, indem ich einfach eine Videokassette in den Recorder gelegt habe, auf MTV oder Viva geschaltet habe und vier Stunden unbesehen aufgenommen habe. Anschließend habe ich die Bilder mit dem Bildsuchlauf gesichtet. Die Darstellungen sind sehr unterschiedlich. Aber oft habe ich dabei auch erstaunliche Entdeckungen gemacht. Die meisten der in dem unter Anm. 4 genannten Aufsatz aufgelisteten und kategorisierten Videos kann man inzwischen mit dem frei erhältlichen Programm Miro (www.getmiro.com) bei www.YouTube.com herunterzuladen. Engels, H.: „Nehmen wir an ...“ Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht. Weinheim u. a.: Beltz 2004. 7 vgl.: Ermanno Bencivenga: Spiele mit der Philosophie, Freese Verlag, Berlin: 1992 6 46