Behinderte – potenziell(e) Menschen

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Holger Burckhart
Behinderte1 - nur potentielle Menschen?
Eine kritische Auseinandersetzung mit einer falschen Frage Peter Singers.
„Ethik ohne Anthropologie“, so resümiert Georg Antor im Jahre 2000 (in: Antor/Bleidick. Behindertenpädagogik als angewandte Ethik) die Position Peter
Singers. Im folgenden möchte ich nicht primär diskutieren, ob es überhaupt philosophisch möglich, sinnvoll oder gar notwendig ist, eine Ethik ohne Anthropologie zu konzipieren, sondern möchte dieses Resümee nutzen, um drei Fragen
nachzugehen, die die Rehabilitationswissenschaften unmittelbar betreffen. . Erstens. Trifft die Interpretation Antors das Singersche Konzept und wenn ja, welche philosophisch-systematischen Hintergründe können rekonstruiert werden,
die Singer zu einer solchen Konzeption veranlasst haben können? Zweitens.
Lassen sich auch aus historisch-rekonstruktiver Perspektive Anlässe finden, die
eine Anthropologie ohne Ethik motiviert haben könnten. Mit anderen Worten:
Ist die Position Singers systematisch als Folge des traditionellen Diskurses von
Anthropologie und Ethik zu lesen und dies mit besonderen Konsequenzen für
den Diskurs der Rehabilitationswissenschaft für Menschen mit Behinderung
insgesamt? Dieser Frage will ich in einem archäologischen Exkurs zu Positionen
der Philosophischen Anthropologie nachgehen, um zu zeigen, dass die Systematik der Philosophischen Anthropologie zu einer systematischen Ausgrenzung
von Menschen mit Behinderung geführt hat. Drittens möchte ich einige skizzenhafte Überlegungen zu einem grundsätzlich anthropologischen, aber auch für
die Ethik relevanten Konzept zur Beantwortung der Frage nach dem Status Behinderter – und damit als Antwort auf meine Ausgangsfrage: Behinderte – potenziell(e) Menschen? anstellen.
I. Ethik ohne Anthropologie. Trifft die Interpretation Antors das Singersche
Konzept?
Bekanntlich bemüht sich Singer in seiner Praktischen Ethik in Anbindung an
den Utilitarismus und die diesem inhärente Präferenzentheorie aus Gründen der
Gerechtigkeit gegenüber Tier und Umwelt (Bio- und Ökosphäre), die klassische
Stellung des Lebewesens „Mensch“ – seine Sonderstellung im cosmos und eine
mit ihr einhergehende Tradition der „Heiligkeit“ aufzugeben. Er variiert hierzu
einerseits die Idee eines ursprünglich egalitären Präferenzenutilitarismus (Mill)
und relativiert andererseits das Konzept einer Begründung von menschbezogenen Moralansprüchen und -rechten, wie sie philosophisch klassischerweise an
den Personenbegriff und -status gebunden werden (Kant).
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Es sein unmittelbar klargestellt, dass mir bewusst ist, hier einen falschen Terminus technicus zu nutzen. Dies
aber ist Teil der im Untertitel gemeinten Provokation.
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Holger Burckhart
Statt von einer Sonderstellung des Menschen als Person ist von einer Personalisierung von Bio- und Ökosphäre zumindest konzeptionell für eine Praktische
Ethik auszugehen. Hierzu konzentriert Singer seine Argumentation auf das Phänomen des Vorhandenseins von Interessen und der Ausbildung von Präferenzen.
Der Umstand Interessen zu haben, einigt menschliche und außermenschliche
Natur- zumindest im Fokus des schmerzfreien Lebenwollens). Das Mehr oder
Weniger des Ausbildens von Präferenzen differenziert hier aber noch einmal
intern. Personen und damit schützenswert sind nur solche Lebewesen, denen
willentliche Schmerzvermeidung und Ausbildung eines ausdrücklichen Lebenswillens berechtigterweise unterstellt werden kann. Solche Lebewesen sind
dann ganz im Sinne der Pathos-Theorie bei Platon und Aristoteles Personen. Mit
dieser Dopplung, nämlich Vergleichbarkeit von menschlicher und nichtmenschlicher Natur via Interesse am Leben und zugleich graduelle Differenzierung der
Intensität von Interessenmarkiert Singer den Personenstatus und führt ihn
zwangsläufig zu der Feststellung, dass es Menschen gibt, die keine Personenund damit nicht schützenswert(er als hoch entwickelte Primaten) sind - und
Nicht-Menschen, die Personen sind oder sein können. Singer will hiermit das
moralisch-ethische Implikat des Personenbegriffs transferieren auf die Bio- und
Ökosphäre.
Diese Konstruktion erst -so Singer- bringt Mensch und Natur in ausgewogene
Schutz– und Rechteansprüche und verstärkt insbesondere bioethische Ansprüche. Die Würde des Menschen, eng gebunden an den von Locke und Kant her
tradierten Begriff der Person, mit den Implikationen der besonderen Schutzbedürftigkeit ihrer Interessen und dem einklagbaren Recht auf Bildung und Lebensqualität (sic: Unverletzbarkeit des körperlichen, moralischen und philosophischen Selbst (Honneth/Burckhart)) wird bei Singer ihrer normativen Kraft
beraubt und der Weg der „Praktischen Ethik“ – als pragmatisch-lobbyistische
und situationsopportunistische Ethik ist frei. Singer nutzt hierbei – in Form einer
impliziten psycho-sozialen Quasianthropologie- ein in der Tradition der Philosophie bekanntes Begründungsschema. Sein Urvater J.St. Mill hat seinen Utilitarismus bereits als Interessen- und Präferenzutilitarismus formuliert. Menschliches – wie alles „lebendige“ - Handeln, Wollen und Wünschen sind motiviert
und zurückführbar auf zwei biologisch-anthropologische Konstanten: die Vermeidung von Unlust und die Steigerung von Lust, was intern, wie bereits erwähnt, an Platons und Aristoteles’ Feststellung der Leidensfähigkeit als Kriterium der Person anknüpft. Die Balance dieser Konstanzen bedeutet Glück. Alle
Handlungen und Situationen, die das Erreichen dieser Balance unter Berücksichtigung des Nutzens für möglichst alle Betroffenen einer Handlung sind ethisch
geboten. Eben diese Konstruktion steht auch hinter Peter Singers Konzeption
von 1984 besonders von 1994. In Konsequenz dieser summativen Glücksformel
möglichst Aller müssen partikulare Interessen Einzelner gegebenenfalls hintan
treten. Was im 19. Jahrhundert eine gesellschaftliche Revolution bedeutete,
nämlich die Gleichwertigkeit der Interessen und Rechte eines Jeden zu fordern,
führt in der Singerschen Lesart zu verheerenden Konsequenzen (nebenbei be2
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merkt: auch in der Gesundheitsökonomie2), wenn man denn, wie Singer, die
Gleichwertigkeit von Interessen mit einer Qualifizierung der präferierten Interessen verknüpft. Genau dann kommt es zu Grenzziehungen bis hin zu Ausgrenzungen. Der vermeintliche Befreiungsschlag weg von einer personalen Ethik
schlägt aufgrund der Qualifizierung von Interessen auf jene negativ zurück, denen man mit welchen Gründen auch immer qualifizierte Interessen absprechen
zu können glaubt.
Die Folgen der Singerschen „Praktischen Ethik“, so stimme ich Antor uneingeschränkt zu, sind „beklemmend“. Hieße es doch, der Natur eines Affen, der unter Ausblendung des Gattungsargumentes als vernunftbegabt und leidensfähig
gelte, einen Personenstatus zuzuschreiben und damit seine Unverletzlichkeit
und moralische Würde moralisch ernster zu nehmen als die eines Menschen,
dem man die personalen Fähigkeiten aufgrund seines psychophysischen Zustandes abgesprochen hat. Für die Legitimation von Tierversuchen würde dies bedeuten, dass man entweder alle Versuche an so genannten höher entwickelten
Säugetieren einstellt oder auf Humanexperimente an Kleinkindern und geistig
behinderten Menschen ausdehnt. Für die Tötung ohne Verlangen würde dies bedeuten, dass es moralisch verwerflicher sei, einen Affen zu töten als Menschen
im oben genannten Status von Nicht-Personhaftigkeit. (paraph. Antor 2000, S.
90).
Diese Position aus dem Jahre 2000 beschreibt ein Monitum, welches zwischenzeitlich durch die Debatte um Stammzellenforschung, Euthanasie und PID hier
Demenz, komatöse Patienten da wesentlich an Schärfe zugenommen hat. Der
Appell von Jürgen Habermas, die Gattungsethik wieder ernst zu nehmen, verhallte ebenso wie alle nachmetaphysischen Versuche einer naturontologischen
Begründung zur Wahrung der Menschenwürde unangesehen des Personenstatus
(Altner, Spaemann, Höffe, Jonas u.v.m.). Der Traum vom Genetiker als Designer werdenden Lebens und Entdecker des lebenserhaltenden biologischen Prinzips stellt alle moralischen Zweifel durch das Primat und Postulat des Heilens,
sic: Schmerz- und Leidenvermeidens, in ein Schattendasein. Auf dieser Überholspur wurden weitere klassische „Werte“, die mit dem Konzept der Menschenwürde verbunden waren, zumindest relativiert, teils sinnentleert, wenigstens aber instrumentalisiert. Die sich hier ergebende Problematik der Relativierung und Sinnentleerung gilt für die Rehabilitationswissenschaft zentral in Fragen des Personenbegriffs, des Personenstatus’, der Schutzbedürftigkeit des Menschen, dem Verständnis von Körper und Leiblichkeit sowie deren Unversehrtheitsansprüche.
Die angedeutete reduktionistische Entwicklung wird begleitet von Strömungen
der Praktischen Philosophie/Ethik sich durch Bindestrichethiken – angewandte
Ethiken zu konkretisieren und als Orientierungsdisziplin auf den Markt zu bringen. So -leider- auch Antors Konzept der Behindertenpädagogik als angewandte
2
Vrgl. die Beiträge von Neuer-Miebach und Speck unter anderem in: M.Dederich (Hg). Bioethik und Behinderung. 2003
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Ethik. Bereichsethiken befreien vom Ballast der Tiefenbegründung. Situationspragmatische Passung und Verantwortungsentlastung durch Rezepturen guten
und sittlich wertvollen Handelns waren willkommene Substitute für eine systematische Begründung. Modelle, wie das von Singer, sind dann mehr oder weniger zwangsläufig.
Hat die Philosophie – insbesondere die Philosophische Anthropologie - einer
solchen Entwicklung historisch-systematisch Vorschuss geleistet? Ist die offensichtliche slippery-slope Situation, die die Rehabilitationswissenschaften insbesondere im Bereich für Menschen mit besonderem Förderbedarf kein Zufall? 3
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Peter Singers Auffassung grenzt sich zunächst von gängigen Wertsystemen - als da wären Sexualmoral, Deontik, Religion, RelativismusSubjektivismus - kritisch ab:
Ersteres ist ein Spezifikum menschlichen Handelns und nicht von allgemeinem Interesse, Zweites taugt für die Theorie, nicht für die Praxis,
Drittes ist an einen Glaubensakt gebunden, der uns dann erst motiviert, moralisch zu sein Belohnung durch ewige Seligkeit, Viertes verweist
auf Richtiges, wenn wir mit subjektivistischer Grundhaltung den Verweis auf Vernunft und Argumentation - also moralisches Urteilen
verknüpfen. An dieser Stelle setzt Singer in der Auszeichnung seiner Interessenethik an. In ihr tritt neben einen Universalisierungsaspekt
Kant, Hare ein utilitaristischer Verantwortungsaspekt Mill, beides in Verbindung mit einer Auszeichnung des moralisch Handelnden resp.
Urteilenden als Person, welche Interessen hervorbringen kann. Neben den Interessen, die als Werte verstanden werden und dies ganz klassisch, da sie immer im Triplett von Bedürfnis - Materialität - Wert stehen, tritt Person als Wert an sich selbst auf.
Relativ simpel utilitaristisch ist Singers Konzept der Abwägung von Interessen, wie einige Zitate schnell belegen: "Wir haben im vorangehenden Kapitel gesehen, dass ich, wenn ich ein moralisches Urteil abgebe, über einen persönlichen oder partikularischen Standpunkt hinausgehen und die Interessen aller Betroffenen berücksichtigen muss. Dies bedeutet, dass wir Interessen einfach als Interessen abwägen, nicht als
meine Interessen oder die Interessen der Australier oder die Interessen der Weißen.
Dies verschafft uns ein grundlegendes Prinzip der Gleichheit: das Prinzip der gleichen Erwägung von Interessen.
Das Wesentliche am Prinzip der gleichen Erwägung von Interessen besteht darin, dass wir unseren moralischen Überlegungen gleiches
Gewicht geben hinsichtlich der ähnlichen Interessen all derer, die von unseren Handlungen betroffen sind. [...] Interesse ist Interesse, wessen
Interesse es auch immer sein mag. [...]Das Prinzip der gleichen Erwägung von Interessen funktioniert wie eine Waagschale: Interessen
werden unparteiisch abgewogen. Echte Waagen begünstigen die Seite, auf der das Interesse stärker ist oder verschiedene Interessen sich zu
einem Übergewicht über eine kleinere Anzahl ähnlicher Interessen verbinden; aber sie nehmen keine Rücksicht darauf, wessen Interessen sie
wägen."` Problematisch wird es, wenn er Interessen als Eigenschaften von Personen definiert und dies auch noch im Umkehrschluss `Person
als Interessenkompetenz` gegen anderes Leben abgrenzt: "Das Prinzip der gleichen Interessenerwägung verbietet es, unsere Bereitschaft, die
Interessen anderer Personen zu erwägen, von ihren Fähigkeiten oder anderen Merkmalen abhängig zu machen, außer dem einen: dass sie
Interessen haben. Natürlich wissen wir nicht, wohin uns die gleiche Interessenerwägung führen wird, bevor wir die Interessen der Personen
kennen, und das kann entsprechend ihren Fähigkeiten und anderen Merkmalen variieren. [...] Es sieht so aus, als wäre dies eine vertretbare
Form des Prinzips, dass alle Menschen gleich sind; eine Form, die wir für die Diskussion umstrittener Fragen zum Thema Gleichheit verwenden können. Bevor wir allerdings dazu übergehen, sollte es angezeigt sein, ein wenig mehr über das Wesen des Prinzips zu sagen. Gleiche Interessenerwägung ist ein Minimalprinzip der Gleichheit in dem Sinn, dass es nicht Gleichbehandlung diktiert. Ein relativ einfaches
Beispiel: das Interesse an der Linderung körperlicher Schmerzen. Man stelle sich vor, ich treffe nach einem Erdbeben auf zwei Opfer, das
eine mit zerquetschtem Bein, im Sterben begriffen, das andere mit einem verletzten Oberschenkel und leichten Schmerzen. Ich habe nur zwei
Morphiumspritzen übrig. Gleiche Behandlung würde bedeuten, dass ich jeder der beiden verletzten Personen eine Injektion gebe, aber die
eine Injektion würde nicht viel zur Schmerzlinderung bei der Person mit dem zerquetschtem Bein beitragen. Sie würde immer noch mehr
Schmerzen leiden als das andere Opfer, und erst wenn ich ihr nach der ersten auch noch die zweite Spritze geben würde, brächte ihr das
größere Erleichterung, als eine Spritze für die Person mit den geringeren Schmerzen bedeuten würde. Daher führt gleiche Interessenerwägung in dieser Situation zu etwas, das manche als ein nichtegalitäres Ergebnis betrachten mögen: zwei Morphiumspritzen für die eine Person,
für die andere keine. [...J Also kann gleiche Interessenerwägung in besonderen Fällen die Kluft zwischen zwei Personen, denen es unterschiedlich gut geht, eher noch vergrößern als verringern. Aus diesem Grund handelt es sich eher um ein minimales Prinzip der Gleichheit als
um ein durchgängig egalitäres Prinzip."
Die hier noch "harmlosen" Formulierungen utilitaristisch-universalistischer Interessenabwägung bekommen erschreckende Ausmaße, wenn
Singer den Personbegriff eingrenzt und als werthaftes Kriterium des Lebens einführt: "Hat das Leben eines rationalen und selbstbewussten
Wesens einen besonderen, vom Leben bloß empfindender Wesen verschiedenen Wert? Um diese Frage zu bejahen, kann man folgendermaßen argumentieren. Ein selbstbewusstes Wesen ist sich seiner selbst als einer distinkten Entität bewusst, mit einer Vergangenheit und Zukunft. Dies war, wie wir uns erinnern, Lockes Kriterium für die Person. Ein Wesen, das sich solchermaßen selbst bewusst ist, ist fähig,
Wünsche hinsichtlich seiner eigenen Zukunft zu haben. So mag zum Beispiel ein Philosophieprofessor hoffen, ein Buch zu schreiben, in dem
er die objektive Natur der Ethik beweist; eine Studentin mag ihr Abschlussexamen ins Auge fassen; ein Kind mag den Wunsch haben, in
einem Flugzeug zu fliegen. Nimmt man einem dieser Menschen ohne seine Zustimmung das Leben, so durchkreuzt man damit seine Wünsche für die Zukunft. Tötet man eine Schnecke oder ein einen Tag altes Kind, so durchkreuzt man keine Wünsche dieser Art, weil Schnecken
und Neugeborene unfähig sind, solche Wünsche zu haben." An dieser Stelle nun verbindet sich die Interessenkompetenz mit einem Präferenzutilitarismus, der ein um konsequenzialistische Überlegungen gesteigerter Regelutilitarismus ist. Präferenzen haben zu können, bedeutet
Zukunft zu haben und dies reflexiv. Ein solches Wesen ist für Singer von höherem Wert als andere: "Nach dem Präferenz-Utilitarismus ist
eine Handlung, die der Präferenz irgendeines Wesens entgegensteht, ohne dass diese Präferenz durch entgegengesetzte Präferenzen ausgeglichen wird, falsch. Eine Person zu töten, die es vorzieht, weiterzuleben, ist daher falsch, die übrigen Umstände als gleich bleibend vorausgesetzt. Dass die Opfer nach der Ermordung nicht mehr da sind, um sich darüber zu beklagen, dass ihre Präferenzen nicht beachtet worden
sind, ist unerheblich. Für Präferenz-Utilitaristen ist das Töten einer Person in der Regel schlimmer als das Töten eines anderen Wesens, weil
ein Wesen, das sich nicht selbst als eine Wesenheit mit einer Zukunft sehen kann, keine Präferenz hinsichtlich seiner eigenen zukünftigen
Existenz haben kann." Wenn das Recht auf Leben das Recht ist, weiterhin als eine distinkte Entität zuexistieren, dann ist der für den Besitz
des Rechts auf Leben relevante Wunsch der Wunsch, weiterhin als eine distinkte Entität zu existieren. Aber nur ein Wesen, das fähig ist, sich
selbst als eine in der Zeit dauernde distinkte Entität zu begreifen, das heißt, nur eine Person könnte diesen Wunsch haben. "Gegen Albert
Schweitzers Werthierarchie der Natur stellt Singer scharf die Werthaftigkeit der Person, die er dann aber auch als Exklusivkriterium des
Rechts auf Leben wendet, welches nichtmenschliches Leben durchaus einschließt, als zum Beispiel Schimpansen intentional handeln. Die
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II.
Der klassische philosophisch-anthropologische Diskurs als Ausgrenzungsdiskurs von Menschen mit Behinderung. Eine Archäologie
1. Das Aufkommen der philosophisch-anthropologischen Fragestellung in der
Antike
Im Anschluss an die sophistische Selbstinfragestellung des Wissen-könnens von
Welt und ihren Prinzipien, ihrer Einheit in Sein und Werden wurde sich auch
der Mensch selbst in seinem Sein und Werden frag-würdig. Er wurde sich seiner
Besonderheit bewusst und zugleich fraglich: seine Stellung im Kosmos- wie es
Scheler im 20. Jahrhundert erneut thematisiert, war frag-würdig. Gottähnlich,
aber nicht gleich, naturgebunden und doch zu ihr in einer bestimmten Distanzierungsmöglichkeit. Diesen Kampf kann man in Platons Symposion und in der
Politeia ebenso lesen wie im Kratylos und Menon.
Gesellschaftspolitisch interessant wurde die Frage nach dem Menschen besonders in Kontexten der Erziehung und der politischen Regierung: Wer ist es, der
erzogen und regiert werden soll oder muss, wer ist in der Lage, dies zu tun und
warum.
Die Antwort Platons ist sein Bild vom Mythos des Menschen. Warum ein Mythos? Schon Platon hatte verstanden, dass wenn der Mensch nach sich selbst
fragt, es eine unendliche, sich fliehende Begründungsstruktur ist, weil der Fragende immer schon weiter sein muss, als die Antwort, die er finden kann. Jede
empirisch-soziologische Beschreibung führt in Aporien oder Sinnlosigkeiten
(Mensch als gefiederter Zweibeiner oder als zweibeiniges Schwein). Der
Mensch flieht sich in seiner Selbst-Erfassung selbst, deshalb ein Mythos, als der
Entwurf eines Sinn-Ganzen. Ein Bild, welches Fichte aufnehmen wird und Hegel im absoluten Geist zur Ruhe bringen will. Der sich beschreibende Mensch
ist immer schon weiter als die Beschreibung, die er von sich gibt – ein scheinbar
unauflösbarer „Circulus vitiosus“. Genau diesen macht sich Plato aber als Metapher seines Mythos vom Menschen zu Eigen. Die Kreisläufigkeit ist keine „teuflische“ sondern eine produktiv-konstruktive. In der Kreisläufigkeit kommt der
Lehre von der Heiligkeit des Lebens als Wert an sich selbst, verkehrt sich in die Lehre von der Heiligkeit des personalen Lebens: "Ich legte
dar, dass, wenn menschliches Leben einen speziellen Wert hat, es ihn insofern hat, als die meisten menschlichen Wesen Personen sind. Aber
falls einige nichtmenschliche Lebewesen ebenfalls Personen sind, muss ihr Leben denselben Wert haben. Ob wir den speziellen Wert des
Lebens menschlicher Personen auf den Präferenz-Utilitarismus gründen, oder auf das Recht auf Leben, das abgeleitet ist aus ihrer Fähigkeit,
ein Weiterleben zu wünschen, oder auf den Respekt vor der Autonomie - diese Argumente müssen sich ebenso auf nichtmenschliche Personen anwenden lassen. [...]
Daher sollten wir die Lehre, die das Leben von Angehörigen unserer Gattung über das Leben der Angehörigen anderer Gattungen erhebt,
ablehnen. Manche Angehörigen anderer Gattungen sind Personen: manche Angehörigen unserer eigenen Gattung sind es nicht. Keine objektive Beurteilung kann dem Leben von Mitgliedern unserer Gattung, die keine Personen sind, mehr Wert verleihen als dem Leben von Mitgliedern einer anderen Gattung, die Personen sind. Im Gegenteil gibt es, wie wir sahen, starke Gründe dafür, das Leben von Personen über
das von Nichtpersonen zu stellen.
So scheint es, dass etwa die Tötung eines Schimpansen schlimmer ist als die Tötung eines schwer geistesgestörten Menschen, der keine
Person ist."
`Vrgl Paraphrasiert P. Singer, Praktische Ethik. 1994, S. 107ff., 135, 188, 193, 207, 209.2Ebd.,S.ll2ff. und P. Singer 1984, S. 134f.
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Mensch zu sich und als Kreisläufiger ist er sowohl im Werden (in Bewegung) zu
sich, als er sich in Zeit bewegt – weiterentwickelt. Sein Werden ist ein Werden
in Zeit in doppeltem Sinne. Die Kreisläufigkeit erlaubt es, dass der Mensch
Maß-nehmen und Maß-geben kann, er hat sein Jetzt, sein Gestern, sein Morgen.
Er bewegt sich, indem er sich in der Zeit fort- und zugleich zu sich selber zurück-bewegt. Dies Letztere gibt ihm den durchgängigen Halt im Werden oder
das Sein im Wechsel. Damit stellt sich Platon auf die Seite der Parmenidesschule und ist gezwungen, eine Substanz des sich Durchhaltens im Wechsel zu bestimmen: Dies ist die Seele des anthropos, des Lebendigen und besonders des
Menschen. Sie ist zugleich im Wechsel und unsterblich, das heißt sie wandert
von Organismus zu Organismus (Dialog Phaidon). Durch die Doppelnatur kann
die Seele lernen und ist oder hat gleichzeitig immer schon Wissen. Im Wechsel
vergisst sie, im Verharren hat sie Wissen in sich. Konsequent wird Lehren und
Lernen als Dialektik von Maieutik – Geburtshilfe - und Anamnesis –
Wiedererinnerung- gefasst (Dialog Menon).
Hiermit wird ein Konzept vom Menschen grundgelegt, welches diesem den
Göttern ähnlich (unsterblich) und teilhaftig (Wissen) macht. Denn die wissende
Seele, die im Werden ihr Wissen nur vergessen hat, ist göttlich und hat damit
Anteil am Göttlichen als Sinnbild des Wissenden. Die in dieser Konstruktion
vorgenommene Orientierung des Menschen an einem ens perfectissimum wird
zur Schablone der christlichen Welt- und Menschenbilder sowie der klassischen
Gottesbeweise. Der Mensch ist begründet als das Sondergeschöpf Gottes und
dessen Ebenbild: imago dei. Der Ausschluss jener, die nicht fähig sind, an diesem Leben teil zu haben, d.h. die das Wissen oder gar das Wissen-Können vom
Göttlichen nicht teilen, ist logische Konsequenz. Wir erinnern uns nur ungern
der Konsequenzen bei Platon, wie sie Popper trefflich in seinem Werk: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde beschreibt.
Dieser erste Schritt in eine Philosophische Anthropologie war zugleich der erste
Schritt in eine systematisch-bedingte Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung aus der Gesellschaft und dies in kulturwissenschaftlichem Konsens.
An dieser Stelle muss aber noch auf eine grundsätzliche und traditionsintensive
Differenz zwischen Platon und Aristoteles hingewiesen werden, weil hierin auch
eine historisch sich durchhaltende Paradigmendifferenz der Philosophischen
Anthropologie begründet ist, die wiederum Auswirkungen auf unsere Grundlegungsfrage hat.
Im Unterschied zur platonischen Seelenwanderung und der strikten Dualität von
Leib und Seele, Geist und Körper, vertritt Aristoteles das Prinzip einer Gattungsbestimmtheit des Menschen. Auch legt er den Grundstein eines systematischen Kompetenzmodells für Rationalitätsformen und deren Stufung als weitere
Ausdifferenzierung der „Sonderstellung“ des Menschen durch seine „ratio“. In
der Ethik spiegelt sich dies im Konzept der kontemplativen Lebensführung (bios
theoreticos) als vollkommenster Weise des Am-Werk-Sein (Tätigsein) des Men6
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schen, also als Modell gelingender und glückender Praxis des Menschen überhaupt.
In der Aristotelischen Konzeption wandert die Seele nicht, birgt aber die formenden Prinzipien des Lebens von Mensch, Tier, und Pflanze in sich. Diese
Prinzipien bestimmen die jeweilige Natur als das, wie sie erscheint. Sie bestimmen und ordnen die lebende Natur. Sie geben der Natur eine Hierarchie, in der
das Lebendige zugleich zueinander steht und sich voneinander abgrenzt. So
birgt die menschliche Seele alle Vermögen von Tier und Pflanze, denn
a) teilt der Mensch mit Pflanze und Tier das bloße Leben, d.i. die Bewegung von
sich her auf ein Ziel zu (Reifung der Pflanze)
b) teilt er mit dem Tier die Wahrnehmung und (beim Tier noch eingeschränkte)
Gestaltung von Umwelt als Welt,
c) ist sein Alleinstellungsmerkmal der Logos. Mit ihm öffnet sich die Umwelt
vollends als Welt in ihrem Sein und er ermöglicht dem Menschen ein Handeln
unter Bezug auf die Welt, als praxis. Mittels logos kommt aber auch erst ins
Licht, wie Heidegger sagen wird, was erkennbar ist, und dem Menschen sind
Kompetenzen eigen, die das ins Licht Kommende zu Wissen transformieren,
dies ist die Welt in der Vielfalt ihrer Hinsichtnahmen durch den Menschen.
Aristoteles unterscheidet hier: episteme, sophia, phronesis und techne als Wissensformen, die die menschliche Seele in sich trägt.
Aristoteles entwirft ein Modell vom Menschen, welches wegweisend bis heute
ist. Eine grundsätzliche Vernunftkompetenz mit einer Vielheit ihrer Stimmen
wird zum Grundmodell des Verständnisses von vernünftiger Natur. So unterscheidet beispielsweise Kant theoretische, praktische und kritisch-ästhetische,
urteilende Vernunft. Thomas von Aquin nahm das Aristotelische Konzept schon
1260 in seinen „summa contra gentiles“ auf und führte Aristoteles’ Argumente
gegen seinen Lehrer Albertus Magnus, der die platonische Theorie vertrat, ins
Feld.
Das Zurückwerfen der Bestimmung des Menschen auf seine Zugehörigkeit zur
Gattung qua Geburt macht eine gänzlich andere Bestimmung der Verhältnisse
der Menschen in ihrer Verschiedenheit möglich. Die Leiblichkeit ist nicht, mehr
oder weniger lästiger Träger einer Seele, sondern Seele und Leben bilden eine
Einheit von Materie und Form. Der Leib ist somit auch nicht mehr etwas, was
uns von seiner Natur her als Problem erscheint – und was in der Zeit von 5001200 n.C. ja bekanntlich zu den aberwitzigsten Exzessen der Ent-Leiblichung
führte, wie bspw. die Verherrlichung des Suizid, Selbstkasteiung, Bestrafung
leiblicher Gelüste, teils als unwerter Teil des Lebens, der die Reinheit des Geistes behindert. Mit der Aristotelischen Konzeption galt der Leib- als der materielle Körper der Lebewesen- in der Möglichkeit seiner Verderbtheit als Problem.
In Folge wurde der Körper, wie schon erwähnt, dezidiert Anlass zu seiner eigenen Verachtung und Missachtung und Abwertung! Innertheologisch konnte erst
Thomas’ Konzeption der Reinigung des Körpers durch den Glauben an Gott
helfen, dieser möglichen Verderbtheit zu entrinnen. Bei Kant ist die Verderbt7
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heit ermöglicht nicht durch den Körper, sondern durch unsere prinzipielle Freiheit, und er meint die Verderbtheit des Sittlichen, wenn er vom radikal Bösen
der menschlichen Natur spricht. Bei ihm hilft einzig die Erziehung zur Moral.
Erziehung ist auch nicht Selbstaufklärung, sondern Aufklärung, der der Mensch
als Mängelwesen bedürftig ist. Erziehung mithin als anthropologische Notwendigkeit: Der Mensch ist nichts, als was Erziehung aus ihm macht- so seine Einleitung in die Vorlesungen zur Pädagogik.
Resümieren wir: Mit Aristoteles und Thomas war uns die Möglichkeit gegeben,
ein einheitliches Menschenbild mit einer graduellen Differenz der Menschen in
ihrem Personenstatus als Individuen systematisch versöhnen zu können. Menschen mit besonderem Förderbedarf sind hier aber Menschen in uneingeschränktem Sinne, Differenzen des Personenstatus sind dem Ansatz in dieser Hinsicht
fremd, allein ihre graduell differente Kompetenz definiert ihre Differenz zu einander und zu Gott. Am Göttlichen haben sie anders als bei Platon alle in gleichem Maße teil.
Diese Positionen – Platons und Aristoteles – sind die Folie, vor der die gegenwärtige Debatte um Personenstatus und darin eingewoben die Gattungszugehörigkeit via Potenzialität, Gradualität, Speziezismus, Identitätstheorie erst lesbar
wird. Die Position des Aristoteles, gekoppelt mit einer naiven Variante des Millschen Präferenzen-Utilitarismus, macht Singer erst lesbar und zeigt die systematisch bedingte Schwäche seines Ansatzes, der durch den Verzicht auf einen
grundlegenden anthropologischen Diskurs der Beliebigkeit des Verfügens des
Menschen über Menschen systematisch Tür und Tor öffnet.
2. Die kopernikanische Wende. Der Mensch als Konstrukteur seiner Wirklichkeiten.
Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und
zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter
und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das
moralische Gesetz in mir.
Die aristotelische Position wurde schlussendlich erst in Kants Entwurf überwunden – und dies in Form eines Kuhnschen wissenschaftssystematischen Paradigmenwechsel als Revolution. Der Mensch verlässt seinem Selbstverständnis
nach endgültig seine Eingewobenheit in das Göttliche und wird selbst aufgeklärter Konstrukteur einer ihm nun nicht mehr gegenüberstehenden Welt. Der
Mensch rekonstruiert und wiedererinnert nicht mehr eine ihm in einer metaphysich-ontologisch vorgegebenen Ordnung präsentierte Welt, sondern er wird lernender Konstrukteur dieser Welt. So ist bspw. Freiheit nicht Freiheit in Gott und
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Holger Burckhart
Glaube, sondern zu Gott und Glaube. „Ich musste, so Kant, Gott überwinden,
um zu Gott zu kommen“. Dies der Reflex auf sein Lehrverbot an der theologisch-philosophischen Fakultät zu Königsberg. Gott steht hier für die Überwindung des Menschenbildes als ein Abbild von anderem und die Selbstbegründung
des Menschen als Konstrukteur. Dass diese Selbstbefreiung, diese Sternstunde
der Autonomie einen hohen Preis hatte, der in der Selbstermächtigung der Menschen über den Menschen endete, zeigten uns uneingeschränkt zustimmungswürdig Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung. Für Menschen mit besonderem Förderbedarf bot sich hier eine völlig neue Chance der
Verortung. Konstrukteure, authentische Konstrukteure, sind sie in ihren jeweiligen Vollzugsqualitäten und -modalitäten wohl fraglos. Warum kommt es bei
Kant trotzdem eher zu einer Diffamierung und Diskriminierung? Die Antwort ist
einfach und dramatisch: Kant schreibt uns Aspekte wie Menschenwürde, Menschenrecht, Moralität und Freiheit ins gesellschaftliche und anthropologische
Stammbuch, aber diese Gesichtspunkte kreisen um ein Konzept der Vernunft,
deren Handhabung nicht jedem vergönnt ist, wie er selbst in seiner pragmatischen Anthropologie sagt. Die Doppelnatur des Menschen macht es nötig, ihn
zu erziehen, ihn zu bilden, soweit so gut – es ist Herbart, der dies ausbaut. Aber
die Doppelnatur differenziert ihn auch: den Menschen unter Menschen. So hat
Kant keine Probleme damit Menschen afrikanischer Stämme, Frauen, NichtIntellektuelle abzuwerten und der Erziehung durch Züchtigung und Dressur freizugeben und dies in besonderen Anstalten.
Auch Hegels Flucht in eine Phänomenologie des Geistes oder im Spätwerk des
„Begriffs“ hat hier nichts mehr für die Aufklärung retten können. Die Aufklärung ist somit erneut eine Selbstverteidigung des Rationalen. Toleranz und
Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit entpuppen sich als Postulate der Vernunft in der und für die Vielheit ihrer Stimmen, Vernunft aber als Ratio im Sinne der Aristotelischen Kompetenzen des Wissens und Argumentierens. In ihr
finden diese so genannten Randgruppen keinen Platz und konnten bei negativem
Umschlag der Aufklärung in die Selbstermächtigung erst recht der Vernichtung
freigegeben werden.
Die Sache spitzt sich aber weiter zu und der Mensch – so Schnädelbach, der mit
Kant die Bühne seiner eigenen Hinrichtung betreten hat, weil er sich im Rationalitätsparadigma als Mensch verliert, richtet sich nun: Einmal aus dem cosmos
einer Gattungsgemeinschaft gestoßen, gewinnen gesellschaftliches (Marx) kulturelles (Nietzsche) und psychisches (Freud) So-Sein des Menschen Dominanz
über autonome Handlungskompetenz und Moral insgesamt. Der Mensch wird
vielmehr Unterlegener oder gar Irrläufer der Evolution, wird Ausgelieferter seiner Triebe. Der Sich-fragwürdig-gewordene Mensch scheint 2000 Jahre nach
dem Aufkommen der Frage Opfer seiner radikalen Infragestellung geworden zu
sein. Verloren hat er seine Besonderheit, verloren hat er das Bild seiner selbst
als Annäherungsversuch an ein ens perfectissimum, zurückgeworfen ist er wieder auf sich selbst – ist dies nicht eine neue Chance für jene, die bislang nur und
bestenfalls Grenzgänger des elitären und exklusiven Mensch-Seins waren?
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Ja- meine ich und möchte einige Perspektiven hier aufzeigen.
3. Restauration der klassischen Konzeption der Philosophischen Anthropologie versus postmoderne, nachmetaphysische zweite kopernikanische
Wende- ein Neuanfang
Einen Neuanfang machte die Philosophische Anthropologie im 20. Jahrhundert.
Schelers Versuch „Der Mensch und seine Stellung im Kosmos“, sowie Plessners „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ sowie Gehlens „Der
Mensch“ fanden in der Debatte der 60er, 70er und 80er Jahre großen Widerhall.
Formulierten sie doch noch einmal eine Sonderstellung des Menschen auf der
Basis des klassischen Menschenbildes – überzeugen konnten sie allerdings
nicht. Insofern war es nicht verwunderlich, dass Singers (1984/1994) nicht anthropologische Ethik die community zentral traf, flankiert von der aufkommenden
Fragestellung der Früh- und Alternseuthanasie sowie dem Problem „TodesFeststellung“ im Kontext des Transplantationsgesetzes und aufgeheizt von der
Frage des Rechts auf Abtreibung als Selbstbestimmungsrecht der betroffenen
Frau.
Die Antworten der community waren und sind vielschichtig und vielströmig.
Von Leist über Irrgang, Mockenhoff, Tooley, Hoerster, Spaemann, Warnock,
Merkel, Höffe, Habermas ging die Diskussion über Personenstatus, Menschenbild, Lebenswürde, Postulat des Heilens, Heiligkeit des Lebens usw. Sind Bleidicks „Kritische Anthropologie“, Ulrich Sonnemanns „Negative Anthropologie“
hier Antworten?4 Genügt das Ausweichen auf eine Philosophie der Leiblichkeit,
wie viele Sonderpädagogen meinen. Ich denke nein, denn auch diese verlassen
weder den klassischen Paradigmenrahmen der Antike und nicht wirklich vollzogenen Wende der Moderne, sondern versuchen aus der „Gegenperspektive“ das
Besondere zu verteidigen: Ähnlich mdes Feminismus der frühen J. Butler markieren sie gerade durch das Markieren des Besonderen den Behindertenstatus
und damit ihn selbst wieder als das oder den Besondere/n. Es gilt auch hier die
semantischen Implikate genauer zu entschlüsseln und gesellschaftliche Kodifizierungen des Behindertenstatus zu dechiffrieren.
Folglich muss der Ansatz einer Philosophischen Anthropologie radikaler und
grundsätzlicher erfolgen. Meines Erachtens stellt der poststrukturalistische Ansatz sog. postmoderner Philosophie einen aussichtsreichen Startpunkt für ein
solches Unterfangen, wenn auch nicht das Ziel selbst dar.
Die Postmoderne hat uns gelehrt, Toleranz, Ambivalenz und Ambiguität, Diversifikation, Offenheit, Transdisziplinarität, Konzepte und Realitäten transversaler
Vernunft nicht nur Ernst zu nehmen, sondern aufzusuchen und mit ihren Mitteln
Geschichte neu zu lesen und Gegenwart neu zu schreiben. Die damit einhergehende Auflösung einer verbindlichen Rahmenstruktur hat uns zurückgeworfen
auf Platons Frag-Würdigkeit und Mythostheorem. Wie ist der Mensch postmo4
Vrgl. die vielfältigen Annäherungen in M. Dederich (Hg). Bioethik und Behinderung. 2003
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Holger Burckhart
dern noch fassbar? Bei Foucault als Körper, bei Lyotard als Teil einer großen
Erzählung, bei Derrida als differance, bei Deleuze als Nomade und bei Baudrillard als Simulakrum - als stets sich zeigendes Zeichen. Hilft das – nein, nicht
wirklich, es macht uns skeptisch, weil orientierungslos. Trotzdem gewinnen wir
etwas Wichtiges daraus. Der Mensch wird nicht erfasst als der Besondere, als
imago dei, sondern beschrieben in seinem Vollzug als etwas: als Körper, Nomade, Zeichen.....Dies eröffnet die Möglichkeit der Differenzierung in der in sich
stets differenten und sich in Oppositionen bewegenden Einheit. Behindert versus
Nicht-Behindert wird dialektisch aufgehoben, das heißt aufgehoben in eine in
sich differenzierten Einheit als eine Erfassung der Differenz in der Einheit, eben
nicht (mehr) als differente, auseinanderklaffende, sich gar ausschließende Bestimmungen und Seinsweisen im Sinne eines Oppositionellen. Ausschließungen
und Oppositionen wie die von Behinderten, Irren und Kranken werden entlarvt
als Versuche, sich des vermeintlich Anderen und denkbarerweise Unangenehmen zu entledigen, es weg zu schließen, einzusperren und aus Sicht des Ganzen
pan-optikal zu beobachten, damit scheinbar zu beherrschen und es zu verobjektivieren. Dies aufzudecken ist die Leistung postmoderner Kritik und der
für mich wesentliche Gedanke, den die Postmoderne in den anthropologischen
Diskurs einbringt. Als Sich-Vollziehender, als Sich-selbst-seiender ist der Einzelne Sinn- und Geltungsgeber unabhängig seiner Entäußerung. Er muss nicht
mehr das Billet der Vernunft, die er nie selbst ist, lösen, sondern antizipiert sich
selbst als Vernunftfähiger (rationabile). Der Einzelne ist unabhängig der Texturen oder Spuren, die er im Leben oder Sand (Foucault) hinterlässt. Seine Persönlichkeit bleibt konstant, unabhängig seiner körperlichen (organismischen) Vergänglichkeit, könnte man anthropologisch sagen. Soweit so gut.
Was ist der Preis? (Erstens) die Gefahr der Beliebigkeit (zweitens) das Problem
der Orientierungslosigkeit.
Die Beliebigkeit würde uns unfähig machen, Entwürfe wie dem Singer’schen zu
begegnen, die Orientierungslosigkeit würde es sinnlos machen, nach BesserSchlechter zu fragen, wir hätten keinen Maßstab.
Es gilt damit, die durch die Postmoderne gegebene Möglichkeit des NeuAnfangs zu nutzen, ohne in die Sachgasse der Vergleichgültigung zu geraten.
Dies ist meines Erachtens möglich über ein Konzept des Menschen, welches an
seinem Vollzug ansetzt und den Weg in eine orientierende Moral, aber auch
Wertvorstellung ebnet, ohne die grundlegende Differenz von Moral und Ethik
hier, Anthropologie da, zu verwässern. „Mensch“ wird hier gefasst als ein Vonsich-wissen-könnender - gradualisiert und potenziell, aber auch in einem normativ neutralen Sinne speziezistisch, verstanden als Menschsein. Diese Bestimmungen betreffen ihn – den Menschen – und betreffen nicht eine „bestimmte“
empirisch-kontingente Lebensqualität. Gemeint ist das Individuum einer Spezies
als ein Dialogpartner, dessen Authentizität und Intentionalität ich nicht mit guten Gründen, sondern nur unter anthropo-verzerrten und vereinseitigten Vorannahmen und dann aufgrund kontingent-empirischer Unerreichbarkeit, das meint
partielle Nicht-Dialogfähigkeit, bestreiten kann. Hier ist der Ort der phänomeno11
Holger Burckhart
logischen Leiblichkeit im Sinne Merleau-Pontys u.a. und einer Pädagogik
bspw. im Sinne Specks. In diesem Sinne ist zunächst jeder „Mensch“ 5 prinzipiell Dialogpartner. Partner, mit dem ich die Bedingung der Möglichkeit Sinnund Geltungsansprüche zu teilen, teile – gleich wie er sie kommuniziert. Eine
Gradualisierung ist hier Ausdruck der jeweiligen erreichten Potenz in actu, der
normativ leere, biologische Speziezismus als Gattungsmerkmal in der Aristotelischen Tradition, also das von mir so bezeichnete Menschsein erlaubt die grundlegende Erfüllung der Bedingung gleichartiger Sinn- und Geltungsäußerungskompetenz – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Er ist nicht identisch mit dem
von Singer gebranntmarkten Sexismus, Rassismus oder Feminismus. Denn er
bildet den Hintergrund für Bildsamkeit, Individuierung, Autonomie- und Dialogkompetenz, Rechte und Pflichten überhaupt. Erst durch die Zuschreibung
von so etwas wie Sinn- und Geltungsäußerungskompetenz kommt Verantwortung ins Spiel, ist Autonomie und damit so etwas wie Moral ein sinnvoller Anspruch, der in der Dialogizität, das ist des sich Verständigten-Könnens, erst zu
einem Geltungsanspruch wird. Eine Philosophische Anthropologie, die ihren
Ausgang nicht von individuierenden Eigenschaften, von personalen Sortalen,
von Persönlichkeit oder evolutionären Besonderheiten nimmt, sondern bei den
Vollzugsbedingungen des Menschseins oder der Menschseienden, verhindert
bereits im Ansatz, den Menschen auch gegen sich selbst zu wenden und bestimmte Individuen seiner biologischen Spezies auszuschließen. Integration und
Inklusion wären dann überflüssig – individuelle Förderung ist geboten.
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Ich habe andernorts (in: Diskursethik - Diskursanthropologie - Diskurspädagogik. Würzburg1998; ders., Horizonte philosophischer Anthropologie. Markt Schwaben 1999) hierzu ein dreistufiges Konzept des Mensch-seins vorgeschlagen, dem sich die einzelnen anthropologisch
relevanten Disziplinen wie Ethik, Pädagogik, Soziologie etc. zuordnen lassen und welches ich dort bspw.genutzt habe, um den Grundfragen
einer wissenschaftssystematischen Verortung auch der Rehabilitationswissenschaft von Menschen mit Behinderung weiter nachzugehen. Ich
bin von folgender Grundsituation des Menschen- hier indifferent gegen eine Bestimmung als Person oder Subjekt- ausgegangen: Der
Mensch vollzieht sich in intersubjektiv-reziproken Sinn- und Geltungsentwürfen, die er vorbringt -handelnd, genauer: sprechhandelnd - als
Ansprüche "in" drei Welthinsichten - nämlich Außen-, Mit- und Innenwelt - mit drei lediglich analytisch, differenzierten Ansprüchen –
nämlich Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit Authentizität -, zu denen quer der Anspruch auf Verständlichkeit liegt. Diese anthropologisch
wie geltungsbezogen fundamentalen Selbstvollzüge des Menschen bezeichne ich mit Schnädelbach und Kuhlmann als Kompetenzvernunft;
die Ausdifferenzierung derselben ist von Karl-Otto Apel, Jürgen Habermas, Herbert Schnädelbach, Wolfgang Kuhlmann und Dietrich Böhler
universal- resp. transzendentalpragmatisch, von Foucault, Lyotard, Derrida u.a. poststrukturalistisch, von Welsch transversal, von Spinner
u.a. multifunktional unternommen worden. Auf diesem Grundverständnis von konstitutiven Bedingungen des Mensch-Vollzugs lassen sich
anthropologisch und geltungsreflexiv drei Ebenen des Mensch-seins auszeichnen: die grundsätzliche, alle weiteren Ebenen mitdurchwirkende Vollzugsweise des Menschen als sein sozial-intersubjektives-interpretativesIn-der-Welt-sein, welches sich ausdrückt in der prinzipiellen
Reziprozität und Verwiesenheit auf Verständlichkeit als sich Verständigen-Können mit, -über, -durch . Der philosophische Terminus wäre:
Dialogizität. Diese Ebene bezeichne ich als dialogisch-diskursiv, sie ist faktisch abhängig, aber begründungsreflexiv vorgängig der zweiten
Ebene: der Ebene von Freiheit, Autonomie, Solidarität etc. einerseits, Lernen, Lernfähigkeit andererseits. Die beiden Aspekte Freiheit und
Lernen setzen wir im Sinne eines "Als ob" immer voraus, wenn wir uns auf Welt hin- als Ebene III- entwickelnd beziehen. In diesem Beziehen erleben wir uns/a/Andere als konkrete individuelle Personen, wir erleben unseren/des a/Anderen Selbstvollzug als Selbst-sein. Es ist die
Ebene des "Ist" als die dritte Ebene des Mensch-seins.
Mensch-sein ist philosophisch-anthropologisch somit bestimmbar als sozial-intersubjektives-interpretatives Vollziehen von universaler
Reziprozität und Gegenseitigkeits-Verständlichkeit in differenten Geltungsformationen. Pädagogisches Handeln würde reflektiert auf Ebene
II und vollzogen auf Ebene III - es wäre wesentlich eine Kompetenzentwicklungshilfe ansetzend auf Ebene III unter Berücksichtigung aller
kognitiven, ethnischen, kulturellen, körperlichen etc. Hinsichten, berücksichtigend und reflektierend universale Ziele und Möglichkeiten aus
anthropologischer Sicht, die zu zeigen wären auf Ebene II, deren Ergebnisse selbst wieder legitimiert werden müssen im Diskurs auf Ebene
1. Anthropologisch formuliert: Eine diskursanthropologische Bestimmtheit des Menschen fasst diesen als diskursiv-dialogisches Intersubjekt, welches seine genuine Bestimmtheit als positional-exzentrisches Lebewesen im Vollzug und als Vollziehendes von Diskursen findet, in
denen es seine Autonomie und Dialogizität, gleichermaßen in Anschlag bringt und diese als Individuum in Formen praktischer Gewissensautonomie und theoretischer wie praktischer Evidenzprüfung stets neu hervorbringt, allerdings hier immer verwiesen ist auf die komplementäre Subjekt-Kosubjekt-Relation, in der und durch die etwas als etwas mit etwas erst zum sinn- und geltungswürdigen Vortrag gebracht werden
kann. Der Erziehung kommt die Aufgabe zu, die Kompetenzen von Dialog und Autonomie zu fördern.
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Holger Burckhart
4. Konstruktionselemente eines integrativ-inklusiven Menschenbildes der
Moderne mit normativer Bindekraft für Moral und Ethik
Zentral für eine Neubestimmung des Menschen, welche die Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit vermeidet, sind m.E. zwei Dinge: (1) Wir müssen
die richtigen Fragen stellen und dürfen nicht Ebenen, Aspekte, Kategorien, die
von einander zu scheiden sind, konfundieren. (2) Wir sollten unsere Fragwürdigkeit weiterhin Ernst nehmen und im Sinne der Selbstspiegelung uns in unserem Vollzug stets neu radikal In-Frage-stellen. Radikal bedeutet hierbei unter
Absehung von präjudizierenden Präliminarien der Philosophie, Theologie, Pädagogik und Kulturgeschichte. Wir sollten uns prozedural und begrifflich Schritt
für Schritt unserer Position vergewissern, Offenheit bewahren und sichern, statt
Dogmen zu produzieren.
Vor dem Hintergrund dieses Verfahrensmodells möchte ich folgende Schritte
inhaltlicher Art als Argumentations- und Forschungsgelenkstellen vorschlagen.
a)
Methodisch sollten wir in strikter Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit unserer Selbstvollzüge reflektieren und hierbei jene Bedingungen ausarbeiten, die unverzichtbar und unhintergehbar dafür sind, dass wir
so etwas wie Sinn und Geltung überhaupt beanspruchen können. In Differenz
zur Tradition verlassen wir damit die Außensicht auf den Menschen zugunsten
einer strikten Selbst-Reflexion seiner auf Wahrheit, Richtigkeit, Authentizität
und Verständlichkeit gerichteten Sinn- und Geltungsvollzüge, seines moralischen Handelns und ethischen Selbst sowie seines ästhetischen Sich-Entwerfen.
Auf dieser Stufe und unter dieser Fragestellung erarbeiten wir einen quasi transzendentalen Metarahmen eines dialogisch-autonomen Menschbildes. Das verstehe ich nicht.
b)
Inhaltlich kommt auf dieser ersten Reflexionsstufe der Mensch in seinen Vollzügen als Sinn- und Geltungsbeanspruchender in den Blick und nicht in seinen
äußeren biographisch-kulturellen Merkmalen. Der praxeologische Blick auf die
Vollzugsbedingungen von Sinn- und Geltungsansprüchen ist vielmehr neutral
gegen den Inhalt und die Form (Medien) der erhobenen Sinn- und Geltungsansprüche. Von Interesse sind hier nur die Vollzugsmodi des Erlebens und Beanspruchen von Sinn und Geltung überhaupt – und hier gibt es keine Differenz des
Dass oder der Person, sondern nur des Wie. Die Entäußerungen „SchwerstGeistigbehinderter“ sind – in dieser Grundhaltung der Reflexion – in der gleichen Weise und Hinsicht sinn- und geltungsrelevant wie diejenigen von sog.
ausgereiften Intellektueller. Es gibt an dieser Stelle auch keinen Einwand, Tieren
Schmerzempfindung und Interesse an dessen Vermeidung, das heißt die Möglichkeit der Interessensbekundung, abzusprechen. Dies führt aber nicht zur Status- Identifikation von Schwerstbehinderten und Tier, wie bei Singer. Ausgehend von einer anthropologischen Verfasstheit des Schwerst-Behinderten, die
ihn in biologischer und seinsbezogener Hinsicht. in keiner Weise von anderen
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Holger Burckhart
Menschen unterscheidet, unterstellen wir auch ihm Sinn- und Geltungsäußerungskompetenz und nicht nur Interessensbekundung am Leben. Zum Menschsein gehören konstitutiv Sinn- und Geltungsvollzug, dieser Anspruch ist nicht
ohne Selbstwiderspruch teilbar: Ein Mensch sagt, alle Menschen sind sinn- und
geltungsfähig, der Behinderte ist ein Mensch, ….Dies ist kein empirisch- kontingentes Argument., sondern ein unhintergehbar und unverzichtbares Moment
geltungslogischer Ansprüche überhaupt. Es ist in seinem Anspruch nicht relativierbar oder graduierbar. Dagegen bestimmt sich das biologische Leben6 geradezu durch ein in der Regel lediglich intrinsisch gegebenes Lebenserhaltungsinteresse, das durchaus graduell different ausgebildet, kommuniziert und technisch
versiert werden kann,
Entscheidend für das Erheben und Einlösen von Geltungsansprüchen ist also
nicht ein irgendwie gearteter Intellekt- er macht es gegebenenfalls einfachersondern entscheidend ist, dass die Äußerungen reziprok verständlich und deren
Geltungsansprüche antizipierbar sind, dass ihnen also ein Geltungsbereich – sic:
authentisch-autonomes, intentionales Verhalten zugeordnet werden kann, bspw.
Bitten, Versprechen, Tatsachenäußerungen etc. Die mediale Struktur und Verfasstheit der Äußerung ist hierbei nur ein Problem der Hermeneutik und entsprechender De-chiffrierungskompetenz bspw. von Pflegern, Betreuern, professionellen Dolmetschern. Den Hund verstehe ich in diesem dialogischen Sinne von
Sinnanspruch und - entschlüsselung nicht, sondern antizipiere sein biologisch
gesteuertes, domestiziertes und verhaltensstrategisch behavioristisch optimiertes
Verhalten als Ausdruck von Verstehbarem.
Es bleibt zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten ausschließlich eine graduelle Differenz der Expressionskompetenz – fraglos, aber es ist reine Ideologie
und äußere Vor-Verurteilung hier von einer grundsätzlichen Differenz zu sprechen. Menschen mit Behinderung (gleich welcher Modalität der Behinderung)
sind in eben diesem Sinne potenziell sinn- und geltungsfähig wie jeder andere,
der unsere Strukturen von Sinn- und Geltungsanspruchsstrukturen teilt. Dies
können wir den Tieren generell (noch) nicht unterstellen. Bei Behinderten zu
unterstellen, sie seien weder sinn- noch geltungsfähig, würde anthropologisch
und geltungslogisch einen Selbstwiderspruch bedeuten, moralisch würde es
bedeuten, einen potenziellen Sinn- und Geltungspartner auszuschließen, das
heißt, Argumente und Sinneinträge zu unterbinden und dies ist gleichzusetzen
mit intellektueller Gewalt.
Der Vorteil dieser Position – und das Ergebnis dieser zweiten Reflexionsebene –
ist, dass sie nicht auf inhaltliche Werte der Person, nicht auf starre Präsuppositionen wie Vernunft oder Geist oder Seele aufsetzt, sondern dass sie lediglich bei
sinn- und geltungshaftem Vollzug ansetzt, um diesen im Selbstvollzug zu reflektieren. Ausgezeichnet werden Dialog- und Autonomiekompetenz, als Kompetenz der Sinnübermittlung und authentischen Geltungsbeanspruchung.
6
Gemeint ist das biologische Leben von Mensch und Tier, nicht das der Pflanzen, insofern folge ich hier Aristoteles
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Holger Burckhart
III. Behinderte- potenziell(e) Menschen? Eine falsche Frage
Meine als Provokation gedachte Ausgangsfrage führt uns somit zu zwei Teilfragen, deren Beantwortung hier und jetzt nur den Ausgang für ein umfängliches
interdisziplinäres Projekt liefern kann: Erstens. Was bedeutet das bisherige Ergebnis für die Konzeption einer nicht ausgrenzenden Philosophische Anthropologie und zweitens: Was bedeutet das bisherige Ergebnis für die Ausgangsfrage
nach der Potenzialität des Menschseins von Behinderten. Ich möchte mit Frage 2
beginnen.
Die Frage, ob der „Behinderte potenziell(er) Mensch“ ist, entscheidet sich nach
den vorangegangenen Untersuchungen an der Bestimmung des „Potenziellen“.
Bindet man Potenzialität ausschließlich an organismische Persistenz und personale Identität in numerischer und sozialer Hinsicht kann man mit diesem Argument jeglichen Ausschluss von „Behinderten“ anthropologisch im Ansatz ad
absurdum führen. Es findet sich kein Argument, dass „Behinderte“ nicht jenen
menschlichen Persistenzbedingungen unterliegen und zugleich in gleicher Weise, wenn auch in anderen Formationen, autonom-dialogische Personalität, sprich
personale Identität und personale Kohärenz ausbilden. Überfrachtet man den
Aspekt der Potenzialität nun aber mit dem Problem der Moralität, welche(s) ins
Spiel kommt, wenn man nun künstlich zwischen Mensch und Person trennt,
(Personen als Lebewesen mit besonderem Rechts- und Moralstatus) wird das
Argument in der Tat fragwürdig. Potenzialität als Kriterium für Schutzbedürftigkeit und Rechtsansprüche von Personen unterliegt dann der Gefahr ihrer Instrumentalisierung für Ansprüche von Gesellschaft, Politik und Staat. Lege ich
die Latte höher oder niedriger ergeben sich differente Schutzbestimmungen und
-ansprüche. Die Entkopplung von Potenzialität und Moralität einerseits, die Fassung des Menschen als autonom-dialogisches, sinn- und geltungsfähiges Lebewesen andererseits scheinen eine Lösung der anthropologischen Frage nach der
dann als falsche Annahme entlarvten Besonderheit des Behinderten aufzuzeigen:
Die Frage, ob der Behinderte potenziell Mensch ist, ist falsch, die Frage, ob der
Behinderte Mensch mit Potenzialen ist, ist richtig, sie wird übergeleitet in die
Frage der graduell differierenden Ausprägung und damit der je individuellen
Förderbedürftigkeit. Mit anderen Worten: Der Behinderte ist Person und
Mensch7 immer zugleich und in einer nicht mehr oder weniger, sondern grundsätzlichen Hinsicht, die graduell in unterschiedlichen Biographien konkretisiert
wird.
Ich komme damit zur ersten Frage, derjenigen nach einem umfassenden inklusiv- integrativen Menschenbild von Menschen mit Behinderung.
7
Hier unterscheide ich mich der Auffassung von Michael Quante, der Person und Mensch durchaus zu trennen
versucht und sich hierbei m.E. systembezogen an die Singersche Position anzunähern droht. Den Begriffsanalysen in Quante 2007 (Person) und 2002 (Personales Leben und menschlicher Tod) kann ich mich ansonsten meistenteils anschließen.
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Holger Burckhart
Die Einheit und Würde8 der menschlichen Person ist unteilbar, die personale
Identität9 in all ihren Vollzügen mag und muss differieren, dies macht Interpersonalität, das ist das Miteinander-Gegeneinander von dialogisch-autonomen, sic
personalen Identitäten erst möglich10. Hierbei setzen die Beziehungen der Menschen untereinander auf einer biographischen Kohärenz der interagierenden Personen auf. Fraglos ist die im Alltag von uns allen stets neu hervorgebrachte und
bei uns allen fragile biographische Kohärenz kontextuell gebunden und graduell
inter- und intrapersonell schwankend. Aber angesichts des Respekts vor
a) einer in entmythologisiertem Sinne verstandenen, personalen Autonomie
als prinzipielle Handlungsmacht einer menschlichen Person in graduell
je differentem Rekurs auf die volitiven Hintergründe dieses Handeln
b) der Integrität und Identität der individuellen Persönlichkeit, als er- und
gelebte biographische Kohärenz, bspw. im eigenen und kollektiven Umgang mit der (eigenen) Behinderung, in kulturell- gesellschaftlichen Kontexten und schließlich
c) der organismischen Potentialität und Persistenz des Menschen sowie dem
Respekt vor der Individualität und Integrität seines Personseins, beides
zusammen traditionell als Leiblichkeit gefasst, als Anerkennung des
Rechts auf ein selbst bestimmtes Leben,
ist diese Flexibilität nicht nur zu erwarten, sondern auch angemessen und plausibel. Es wäre der Musterfall einer fehlplatzierten Anwendung des Ideals begrifflicher Exaktheit, diese Variabilität, Kontextgebundenheit und Weichheit der
Kriterien durch quantifizierbare Modelle von Vernünftigkeit einfangen oder gar
eliminieren zu wollen. Mit dem hier Geleisteten lassen sich sicher nicht alle Fälle ausschließen, in denen ein Mensch zwar eine Persönlichkeit aktiv hervorbringt und sich mit dieser identifiziert, dennoch aber diese von der Gesellschaft
nicht als autonom bezeichnet werden würde. Diese eklatante Fehleinschätzung
seitens der Gesellschaft beispielsweise von Menschen mit schwerster geistiger
Behinderung beruht meines Erachtens primär auf falschen, tradierten und systematisch immer wieder neu begründeten, klassisch-metaphysischen Prämissen.
Unter Voraussetzung eines solchen Bedingungsgefüges gäbe es aber überhaupt
keine autonomen menschlichen Personen mit personalen Identitäten, da wir unsere Personalität und Persönlichkeit, sprich die so genannte Autonomie nur in
sozialer Interaktion ausbilden und bewähren können. Vielmehr müssen die Weisen der Sozialisation, die zur Ausbildung von personaler Autonomie und Identität führen, von solchen Einflussnahmen unterschieden werden, die zwar zur
Ausbildung einer Persönlichkeit, aber durchaus zur Entwicklung graduell differierender autonomer Persönlichkeit führen. Menschen mit Behinderung sind in8
Peter Schaber. Achtung vor Personen. Handout Sapporo 2007; H. Frankfurt. Equality and Respect. In: Necessity, Volition and Love. New York. 1999
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Hier könnte man mit Rorty auch von Personalen Identitäten sprechen
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Ähnlich: M. Dederich in Bioethik und Behinderung. 2003 , S, 258 u.v.m. Dort heißt es: Ethik vom Anderen
und Fremden her zu denken…
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Holger Burckhart
sofern weder hinsichtlich ihrer organismischen und anthropologischen Persistenz, noch hinsichtlich ihrer biographischen und moralisch-ethischen Kohärenz
und damit hinsichtlich der Ausbildung einer dialogisch-autonomen, sprich intersubjektiv-personalen Identität als Ausdruck von biographisch-sozialer Persönlichkeit und autonom-moralischer Personalität prinzipiell sondern nur graduell
verschieden von personalen Identitäten ohne Behinderung. Für beide gilt das
Diktum11 von der personalen Identität als Fokus menschlicher Existenz in gleicher Weise.
Quod erat demonstrandum!
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M. Quante 2007
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