Der lange Atem 1. Das Buffet ist eröffnet Die Integrale Lebenspraxis (ILP) breitet Praktiken aus den Bereichen Spiritualität, Körper, Verstand und Schattenarbeit, wie auf einem großen Buffet aus. Interessierte können sich daraus ein passendes Mahl zusammenstellen, entsprechend ihren Bedürfnissen und Kapazitäten. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei, dass dieses Mahl immer wieder eingenommen wird. Die ILP nährt durch Regelmäßigkeit, nicht durch spektakuläre Portionen. George Leonard und Mike Murphy, deren Integrale Transformative Praxis (ITP) als Vorbild diente, hatten am Esalen1 Institut die Erfahrung gemacht, dass selbst intensivste Encounter-Gruppen kaum lang anhaltende, nachhaltige Wirkung auf die Teilnehmenden hatten.2 In der Sprache Wilbers: solche Veranstaltungen waren geeignet kraftvolle Zustände hervorzurufen, aber nicht um überdauernde Strukturen zu schaffen. Murphy und Leonard schlossen daraus, dass langfristige Veränderungen, einer langfristigen Praxis bedürfen. Dies setzt wiederum voraus, sich immer wieder für eine solche, wohl möglich tägliche, Übungspraxis zu motivieren. Dafür möchte dieser Artikel Tipps, Anregungen und nützliche innere Haltungen vorstellen. Interessanterweise scheint gerade in unserer kurzatmigen Zeit ein langer Atem wieder gefragt zu sein. Nicht zuletzt, weil es gilt, die eigenen Ressourcen, vor dem Hintergrund sich rapide wandelnder Bedingungen, immer wieder neu zu schöpfen. 2. Zeit finden Zeit ist einer jener kostbaren Rohstoffe, die tatsächlich begrenzt sind. Kein Geld dieser Welt kann uns mehr Zeit kaufen, keine Technologie kann sie mehren. Daher ist auch das Mantra unserer Tage: Keine Zeit. Die Frage ist also nicht, wie gewinnen wir mehr Zeit, sondern womit verbringen wir unsere Zeit. Wieviel Zeit verbrauchen wir z. B. für Fernsehen, im Internet surfen oder 1 Von Micheal Murphy und Dick Price 1961 in Big Sour Californien gegründetes Weiterbildungszentrum, gilt als Epizentrum der Human-Potential-Bewegung. 2 Leonard/Murphy (1995), S. 6-8 um noch schnell eine Zigarette zu rauchen. Würde eine 5-Minuten-Meditation mehr erholen, als eine Stunde Fernsehen? Wie sieht es aus mit 2 Stunden Fernseher gegen 10 Minuten Meditation? Nun könnte man meinen, es gibt Menschen, die wirklich keine Zeit haben zum Meditieren, Ärzte zum Beispiel. Ein Arzt würde nie auf die Idee kommen, vor jeder Operation eine Minute mit seinem Operationsteam in Stille zu verharren. Oder etwa doch? Tatsächlich gibt es Ärzte, die das tun, natürlich nur, wenn es sich um keinen akuten Notfall handelt.3 Zahlt sich diese eine Minute aus? Wie wäre es in jeder Mittagspause oder vor jeder Besprechung eine Minute Stille zu erleben? Würde einem die Zeit fehlen oder würde man paradoxerweise Zeit gewinnen? 3. Ins Tun kommen „Wenn ich erst mal auf dem Kissen sitze, ist es kein Problem, dann kann ich auch 20 Minuten meditieren“, bemerkte ein guter Freund kürzlich bei einem gemeinsamen Mittagessen. Diese Schwelle, über die man erst mal drüber muss, bis sich positive Gewohnheiten einschleifen, ist für viele ein Problem. Andererseits weiß man, wenn man erstmal drin ist, läuft es oft wie von allein. Anfangs habe ich mir oft vorgestellt, ich würde bereits meditieren oder meine Übungen machen. Diese Vorstellung hat mich dann oft genug morgens aus dem Bett gelockt, bis sich irgendwann ganz von allein das Bedürfnis einstellte, den Morgen mit ILP zu beginnen. Und auch wenn es Tage gibt, an denen ich das Programm ausfallen lasse oder bewusst verkürze, wächst dadurch die Lust, am nächsten Tag weiterzumachen. Ein andere Methode der Motivation besteht darin, sich auf seinem inneren Fernseher, dass Ergebnis seiner Bemühungen oder die Qualität, die man dadurch verwirklichen möchte, möglichst plastisch vorzustellen. Auf meinem Bildschirm könnte ich mir z. B. vorstellen, wie ich nach meiner Morgenübung da stehe: ich bin ruhig und ausgeglichen, mein Atmen geht etwas schneller, ich fühle mich angenehm erfrischt. Wenn ich das Bild jetzt in meiner Vorstellung größer mache, näher heran hole, die Farben bunter und alles 3 Schlitz et. al. (2005). schärfer sehe, fühle ich mich immer mehr dazu hingezogen, genau das zu tun.4 Gute Erfahrungen habe ich auch mit Affirmationen gemacht. Man kann sich z. B. eine Art inneren Coach vorstellen, der direkt zu einem spricht und einen motiviert. Dabei kann es sich um eine tatsächliche oder erfundene Person handeln, die Vorbildcharakter besitzt. Nun kann man sich vorstellen, dass diese Personen etwas Aufmunterndes und Motivierendes sagt. Es lohnt sich damit zu experimentieren, aus welcher Richtung diese Person spricht, klingt es z. B. überzeugender, wenn sie vor oder hinter einem steht? Darüber hinaus kann man mit seinem inneren Coach auch in Dialog treten und das ein oder andere Interessante erfahren, auch wenn er oder sie sich bezüglich der kommenden Lottozahlen in Schweigen hüllen mag. Bekanntlich klappt es mit der Motivation am besten, wenn man sich erlaubt, Dinge mal mit mehr oder weniger Lust zu machen. 4. Weniger ist oft mehr Eine Tante von mir kaufte sich vor Jahren einen so genannten Stepper, ein kleines Heimtrainiggerät auf dem sie täglich trainierte. Anfangs schaffte sie eine sehr überschaubare Anzahl von Wiederholungen auf dem Gerät. Als sie Freunden davon erzählte, wurde sie ausgelacht, man habe mehrere hundert Wiederholungen geschafft und das auf Anhieb. Einige Jahre später kaufte sich meine Tante ein zweites Gerät, das Erste war durch ihre stetigen Bemühungen zerschlissen. Bei ihren Freunden setzte selbiges nach der glorreichen Erstbesteigung hingegen im Keller Staub an. In der Sportwissenschaft ist längst bekannt, dass es für jede Art von Training ein Optimum gibt. Den maximalen Trainingseffekt erzielt man, wenn man diesen Punkt präzise trifft. Bemühungen über diesen Punkt hinaus bringen verhältnismäßig weniger. Bei stetigem Trainingspensum verschiebt sich dieses Optimum freilich. Darüber hinaus liegt es für jeden woanders. Es empfiehlt sich daher, sich selbst zum Maßstab zu nehmen, also die eigene 4 Andreas / Faulkner (1997) beschreiben diese Vorgehensweise ausführlicher, S. 76 - 79. Leistung zu messen. Bei der Integralen Lebenspraxis gibt es daher auch keine Noten oder Goldmedaillen und keinen Wettkampf. Vielmehr geht es um kontinuierliche und selbst bestimmte Praxis, um ein Mahl, in einer Portion, das für einen dienlich ist, das man täglich einnehmen kann. Die Kontinuität führt meist automatisch dazu, dass man besser in dem wird, was man tut. Die Regelmäßigkeit erlangt man, indem man ein gewisses Maß an Unregelmäßigkeit tolerieren lernt. 5. Die Wahl der Mittel Wie beim Putzen kann einem die Wahl passender Mittel viel Arbeit ersparen. Klassisch ist etwa der Versuch psychologische Probleme auf dem Kissen zu lösen, die mit Hilfe von Selbstcoaching bzw. Schattenarbeit schmerzfreier zu bearbeiten wären oder aber in die Hände eines erfahrenen Therapeuten gehören. Gleichwohl kann eine meditative Praxis einem den Zugang zur eignen Innerlichkeit erschließen und ist dadurch therapieförderlich. Deswegen wird es auch immer mehr Therapieformen geben, die achtsamkeitsbasierte Elemente integrieren. Ein anderes Beispiel: Ich habe jahrelang Körperarbeit nach Feldenkrais gemacht, bestimmte Aspekte meiner Rückenprobleme besserten sich aber erst, als ich begann Krafttraining zu betreiben. Keine dieser Methoden ist deswegen schlechter, als die andere. Feldenkrais verbessert die Koordination und lockert überangespannte Muskeln. Krafttraining stärkt die Rückenmuskulatur. Analog dazu stellte ich im Bereich der Meditation fest, dass ich länger und ausdauernder meditieren kann, wenn ich ein sinnfreies Mantra verwende, statt meine Atemzüge zu zählen. Es es faszinierend zu beobachten, dass es anderen Meditierenden ähnlich geht. Viele haben ganz eigene Wege gefunden, Meditationsformen an ihre Bedürfnisse anzupassen. Es lohnt sich, darüber in Austausch zu gehen. Meist braucht es wiederholt Phasen des Ausprobierens, um geeignete Methoden zu finden. Das ist eben das Schöne am Buffet, man kann auch immer wieder in neues Bereiche rein schmecken. Nach und nach erweitert sich so das eigene Repertoire. 6. Leben als Praxis Man könnte meinen, das Leben wurde geschaffen, um einen von der Erleuchtung abzuhalten. Arbeit, Essen, Freunde, Sex, Babygeschrei, Kalender, Tapezieren, Hausaufgaben, Putzpläne, Umziehen, Verkehrsschilder, all dies existiert offenbar, um uns in Versuchung zu führen und vom Pfad abzubringen. Das Meditationskissen scheint da ein Zufluchtsort zu sein. Doch was ist eine Erleuchtung wert, die nur auf dem Kissen funktioniert, nicht aber im Angesicht voller Babywindeln? Die Kontemplation kann also nur Vorbereitung auf das Leben sein, ein wichtiger Rückzugsort, um sich zu sammeln und wieder in den Alltag zu gehen. Die Umfangreiche Forschung zum Phänomen des Flow5 hat überdies gezeigt, dass Menschen auch während scheinbar profaner Tätigkeiten wie der Arbeit auf der Alm, Tätigkeiten am Fließband oder beim Filetieren von Fisch transzendente Erfahrungen machen können. Dadurch ist man noch lange nicht erleuchtet, da es sich nur um flüchtige Zustandswechsel handelt. Aber es macht deutlich, dass sich viele Tätigkeiten im Leben meditativ ausüben lassen. Wie wäre es zum Beispiel in einem Lokal essen zu gehen, dessen Koch den Akt des Kochens derart betreibt. Könnte man dies schmecken? Eine gute Möglichkeit, um etwas mehr von dieser Qualität in den eigenen Alltag zu bringen, sind Atemübungen. Für 10 tiefe Atemzüge ist immer mal wieder Zeit. Ich nehme dabei oft die Finger zum Zählen und als Erinnerung. Wer möchte, kann sich den eigenen Atem in einer bestimmten Farbe vorstellen. Auch hier gibt es wieder endlose Variationsmöglichkeiten und Anregungen aus unterschiedlichen Kulturen. 7. Die Welle reiten Die vier Elemente einer ILP: Spiritualität, Körper, Verstand und 5 Csikszentmihalyi (2005) Schattenarbeit sind darauf ausgelegt sich zu ergänzen und gegenseitig in ihrer Wirkung zu verstärken. Die Meditation verbessert zunächst die Konzentration und öffnet den Raum innerer Erfahrung. Durch das Wechselspiel von Bewusstmachung und Loslassen wirkt sie darüber hinaus als Katalysator für Entwicklung. In der Körperarbeit wird die Beweglichkeit, Ausdauer und Kraft verbessert, dadurch wir ein solides Fundament für die geistige Praxis geschaffen; zusätzlich werden körperliche Blockaden gelöst. Ein flexibler Körper begünstigt einen beweglichen Geist. Durch die meditative Praxis, aber auch durch das Lösen körperlicher Verspannung, können Aspekte an die Oberfläche des Bewusstseins gelangen, die man an sich nicht mag bzw. lieber bei anderen bemerkt, als sie sich selber einzugestehen. Die Schattenarbeit hilft, diese Bewusstseinsinhalte zu bearbeiten und zu integrieren. Dadurch wird wiederum Energie und Bewusstheit frei, die vorher dafür aufgewandt wurde, diese Inhalte zu bannen. Außerdem ergeben sich hin und wieder überraschende Wendungen und Lösungen für Probleme. Das Verstandes Modul steigert die intellektuelle Aufnahmefähigkeit, vertieft das Verständnis und erweitert das Gedächtnis, dadurch entsteht mehr und tieferer Raum für Bewusstheit. Sind die Elemente einer Integralen Lebenspraxis gut aufeinander abgestimmt, stellen sich oft Synergieeffekte ein, die einem das Gefühl vermitteln, gleichsam auf einer Welle zu reiten. Quellen: Andreas, S. / Faulkner, C. (Hrsg) (1997). Praxiskurs NLP. Paderborn. Csikszentmihalyi, M. (2005). Flow im Beruf. 2. Aufl. Stuttgart. Leonard, G. (2003). Der längere Atem. 2. Aufl. München. Leonard, G. / Murphy, M. (1995). The Life we are given. New York. Schlitz, M. (2005). Consciousness & Healing. St. Louis.