Als Maxi erwachte, hörte er den Kuckuck rufen

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Das Schmuckkästchen
Von Cindy Bleser
Als Sammy erwachte, hörte er den Kuckuck rufen. Sofort fasste er unter das Kissen,
zog einen kleinen blauen Beutel aus Samt hervor und schüttelte ihn kräftig. Die erste
wichtige Aufgabe des Tages war erfüllt. Mit einem Plumps ließ er sich wieder auf das
riesige Kissen zurückfallen und setzte sich den Beutel auf die Nase. Durch den
weichen Stoff nahm er den metallischen Geruch der Münzen wahr. Dann öffnete er
den Beutel, holte eine Münze nach der anderen hervor und legte sie in einer Reihe
auf das weiße Leintuch. Noch nie hatte er so viele besessen, er kam sich wichtig vor.
Ihm wurde auf angenehme Weise schwindlig bei dem Gedanken, was er sich dafür
alles kaufen könnte. In seinem Übereifer warf Sammy eine Münze in die Luft. Sie fiel
klirrend zu Boden.
„In dem Haus hätten wir so viel Platz!“
„Ja, und für Sammy wäre der Garten toll.“
„Was hat der Arzt gesagt?“
„Sie ist halt schon sehr schwach. Aber man kann nicht sagen, wie lange es noch
dauert. Wenige Wochen oder auch noch ein Jahr.“
„Hm.“
„Mochtest du sie früher, als sie noch jünger war?“
„Na ja, sie hat uns immer Stollwerk gegeben, wenn wir als Kinder zu Besuch bei ihr
waren, aber sie war eine eigenwillige Person, wir haben oft nicht verstanden, was sie
meinte. Wir fanden sie zu seltsam, um sie zu mögen, sie war immer sehr bunt
gekleidet und laut, ganz anders als unsere Mutter.“
Für einen Augenblick streckte sich Sammy nochmals aus, atmete tief ein, und als
ihm endlich bewusst wurde, wo er sich befand, hielt er kurz vor Aufregung die Luft
an. Alles um ihn herum war neu und lockte ihn. Ein goldener Engelskopf wuchs über
ihm aus der Wand, links hing ein Bild, auf dem ein Hirsch vor grellblauem Himmel
und schneebedeckten Bergen majestätisch in die Gegend schaute. Die unruhige
Holzmaserung der Kommode neben der Tür gaukelte ihm Gesichter vor, hunderte
Augen schienen ihn anzustarren. Aber das Verlockendste war der rauschende
Garten: goldgrün prangte es beim Fenster herein. Sammy sprang aus dem Bett, lief
zur Tür, riss sie auf und wollte schon als laut heulender Rennwagen durch den Gang
stürmen, als ihm gerade noch rechtzeitig einfiel: „Der Tante geht es nicht gut, du
musst hier oben leise sein!“ Dann eben auf Indianerart, absolut geräuschlos, wie er
meinte, schlich er auf Zehenspitzen bis zur Treppe. Dunkles, glänzendes Holz führte
in einem kühnen Schwung ins Erdgeschoß. Am Treppenabsatz war auf Kniehöhe
eine Nische eingelassen, in der vielerlei Dinge zu bestaunen waren. Sammy hockte
sich hin und besah sich alles. Bunte Figuren mit dicken Bäuchen gab es da, eine
elegante Tänzerin, die ein Bein in die Höhe streckte, eine Vase aus rohem Ton, in
der eine lange, staubige Feder steckte und vieles mehr. Noch kauerte Sammy da mit
zwischen den Knien eingezwängten Händen, er wollte nichts berühren. „Das hier
gehört alles der Tante Emma!“ Inmitten all der Pracht stand ein Schmuckkästchen
aus Holz. Er konnte nicht gleich erkennen, was darauf abgebildet war. Mit einem
Stoßseufzer streckte er vorsichtig einen Arm aus und nahm es in die Hand. Zuerst
sah er nur, dass die Oberfläche aus verschiedenen Holzstückchen zusammengefügt
war, hellen und dunklen, dann erkannte er allmählich einiges: Tiere, Blumen,
menschliche Figuren. Die Linien waren so ineinander verwoben, dass einem davon
schwummerig wurde im Kopf.
„Sammy, komm frühstücken!“
Hastig stellte er das Kästchen wieder auf seinen Platz und nahm alle Stufen auf
einmal.
„Ich will nicht mehr warten! Wenn ich nochmals in unsere alte schimmlige Wohnung
zurückmuss ..."
„Ich hab darüber nachgedacht.“
„Und?“
„Nicht vor dem Buben!“
Nach dem Frühstück rannte Sammy sofort hinaus, den letzten Bissen Brot noch im
Mund. Die Sonne empfing ihn mit offenen Armen, der Garten erstreckte sich in
unendlichem Grün. Es gab einen weißen Kiesweg, der zwischen Bäumen
verschwand und ein kleines Beet, auf dem riesige Blumen wucherten, die die
weichen Stachelköpfe kühn zum Himmel reckten. Dichte Buchsbaumhecken boten
dem Indianer einen sicheren Unterschlupf. Sammy war im Paradies gelandet, er
schlug ein paar Purzelbäume im weichen Gras. Die Mutter lachte vom Küchenfenster
herüber.
„Hast du bemerkt, wie schwer sie bereits Luft bekommt?“
„Ja.“
„Wir hatten bis jetzt nie wirklich Glück.“
„Was willst du damit sagen?“
„Manchmal muss man eben die Dinge selbst in die Hand nehmen.“
„Wie?“
„Ich hab noch ein altes Herz-Medikament von meiner Oma.“
„Du meinst … “
„Ja.“
Atemlos erzählte Sammy seiner Mutter, als sie ihn ins Bett brachte, was er den Tag
über alles erlebt, entdeckt und gesehen hatte. Die Aufgeregtheit pendelte immer
träger hin und her bis er sachte in den Schlaf glitt. Plötzlich erwachte er. Im ersten
Moment glaubte er, noch den Kuss seiner Mutter auf der Stirn zu spüren. Er schlug
die Augen auf, der Engel war nun ein finsterer Klotz über seinem Kopf, das Bild an
der Wand eine wirre Ansammlung von helleren und sehr dunklen Flecken, die Augen
der Kommode blickten so tiefschwarz, dass sie ihn anzusaugen schienen. Und die
wispernden Blätter vor dem Fenster schickten unruhige Schatten über die Wand. Da
war ein langgezogenes, jammervolles Stöhnen, das schließlich in Laute überging, die
er aber nicht verstehen konnte. Ein trockenes Keuchen. Ein Kratzen an der Tür.
Sammy rollte sich ganz eng in seine Decke. Der Engel hatte endlich ein Einsehen
und zog ihm die weiche Maske des Schlafes wieder übers Gesicht.
„Hat sie alles ausgetrunken?“
„Ja, aber ihre Augen … ständig folgen sie mir, als ob sie alles wüsste.“
„Jeder erwartet ihren Tod, niemand wird Verdacht schöpfen, es sind nur deine
Nerven!“
„Ich hoffe, es ist bald vorbei.“
„Am liebsten würde ich ihr das Kissen auf die hässliche Visage drücken!“
„Denk dran, was wir haben werden.“
„Ja.“
Wieder kamen am Morgen das Grün und das Gold in sein Zimmer gekrochen und
Sammy erinnerte sich nur noch vage an die Angst der Nacht. Leise schlich er sich
hinaus, in der Tür zögerte er und blickte zaghaft den Gang hinunter. Dort irgendwo
lag die Tante krank in ihrem Bett, deswegen waren sie hierher gekommen. Er beugte
sich vor und spitzte die Ohren, aber er hörte nur den Morgengesang der Vögel im
Garten. Er machte ein paar Schritte; es gab vier weitere Türen, eine davon stand
einen Spalt offen. Ohne lange zu überlegen, schlüpfte er hinein. Es roch säuerlich,
dicke Vorhänge sperrten den Morgen aus. Im gelben Schein der Nachttischlampe
sah Sammy zuerst die riesige Katze, die hochbeinig auf dem Bett stand und ihm nun,
wie eine Königin, die großen blauen Augen zuwandte. Die Königin gab ein klagendes
Miauen von sich. Hinter dem buschigen Schwanz sah er einen Kopf mit wirr
abstehenden weißen Haaren. Der Kopf drehte sich jetzt zu ihm, noch nie hatte
Sammy ein abstoßenderes Gesicht gesehen. Die Augen steckten tief in braunen
Höhlen, die Nasenhaut spannte sich über einen spitzen Knochen, von der Stirn
zogen sich Linien bis zu den Wangen, wie schwarze Bäche mündeten sie dort in
dunkle Teiche. Das Schrecklichste aber war der Mund: Die Lippen waren bereits so
stark zurückgezogen, dass sie sich nicht mehr über den wenigen Zähnen schlossen.
Als ob etwas von innen das ganze Fleisch weggesaugt hätte. Rasselnd sog er nun
Luft und Speichel ein.
„Komm her, ich will dich mal genauer anschauen!“ Eine ledrige Hand winkte matt.
Mit angehaltenem Atem kam Sammy näher.
„Wieso bist du so hässlich?“
Die Tante kicherte heiser.
„Und wieso bist du so hübsch?“
„Ist doch egal, ich bin doch kein Mädchen!“ Sammy schob trotzig das Kinn vor und
strich demonstrativ die etwas zu langen blonden Locken glatt.
„Ich bin auch keines mehr.“ Wieder kicherte sie und dabei troff Speichel aus ihrem
linken Mundwinkel. Fahrig wischte sie ihn mit dem Handrücken ab. Die rissige Haut
sog die feuchte Spur sofort auf.
„So eine Katze hab ich noch nie gesehen!“
„Das ist eine Siamkatze, die haben eine ganz eigene Persönlichkeit. Sie wärmt mir
die Füße, und passt auf …“
„Meine Mama und mein Papa passen doch auf dich auf!“
„Ja, aber manchmal, in der Nacht, kommt dieser dunkle Bursche und will mich holen,
und dann ist sie da und faucht ihn an, dann geht er wieder.“
„Ein dunkler Bursche?“
Die Tante legte ihm die Hand auf den Kopf.
„Davon musst du noch nichts wissen! Schau doch mal in die oberste Lade da, da ist
etwas für dich drinnen!“ Sie zwinkerte ihm zu.
In der Lade lag eine kleine Tafel Schokolade, eine Sorte, die er noch nicht kannte.
„Gibst du mir ein Bussi dafür?“
„Nein!“ Sammy schauderte es bei dem Gedanken. Er schlug die Augen nieder.
Wieder ließ sie ihr trockenes Kichern hören und dann seufzte sie.
„Was machst du denn hier, Sammy?“ Die Mutter war ins Zimmer gekommen. „Die
Tante braucht doch Ruhe! Geh hinaus spielen!“
Sammy stürmte befreit hinaus auf den Gang, die Schokolade hielt er fest
umklammert. Später nahm ihm die Mutter die Tafel ab und warf sie in den Mistkübel.
„Die ist doch schon uralt!“
„Ich werde ihr heute mehr geben.“
„Also im Kopf ist sie noch voll da. Sie hat mich heute über Sammy ausgefragt.“
„Ich werde ihr heute mehr geben.“
„Sie war nett zu dem Buben, er hat es mir erzählt.“
„Ich werde ihr heute mehr geben.“
Jedes Mal, wenn Sammy nun über die Treppe ging, schimmerte ihm das
Schmuckkästchen geheimnisvoll entgegen, er blieb stehen, nahm es in die Hand und
drehte es hin und her. Er hätte Tante Emma gerne danach gefragt, aber die Tür war
jetzt immer verschlossen. Mit der Zeit schien es ihm, als wolle ihm das Kästchen eine
Geschichte erzählen, er müsste nur die einzelnen Szenen richtig aneinanderfügen.
In den dunklen Linien des Kästchens verlor sich Sammys einfältige Energie und er
begann vor sich hin zu träumen. Einmal überraschte ihn der Vater, als er mit dem
Kästchen in der Hand am Boden kauerte.
„Stell das wieder hin!“ Der Ton in Vaters Stimme duldete keinen Widerspruch und als
Sammy hochsah, war das Gesicht des Vaters so verzerrt, dass er es kaum
wiedererkannte. Da waren sie, die gleichen dunklen Linien, und Sammy erschrak.
„Wenn du das Kästchen aufmachst, dann zerfällt es sofort in viele kleine Teile, man
kann es dann nicht mehr reparieren, verstehst du!“ Die Stimme des Vaters zitterte.
Sammy hatte schon früher ein paar Mal versucht, das Kästchen zu öffnen, aber seine
kleinen Finger hatten zu wenig Kraft für den klemmenden Deckel gehabt. Als er das
Kästchen wieder zurückstellte, war er so ungeschickt, dass er die Tänzerin umwarf.
Ihr Bein brach ab und Sammy erwartete eine Schelte vom Vater, doch der sagte nur:
„Geh schlafen, es ist schon spät.“
Wieder erwachte er in der Nacht. Nun war er schon an den Anblick des Zimmers im
Dunklen gewöhnt und er ängstigte ihn nicht mehr. Schon wollte er wieder in den
weichen Schlaf hinüberschlüpfen, als er etwas draußen vor der Tür hörte. Dieses
rasselnde Atmen kannte er. Er lief hinaus. Eine gebeugte Gestalt kam wankend
näher. Er hielt seine Schultern an die Wand gepresst, starrte das Ding vor ihm an.
Ein süßlicher Gestank würgte ihn. Er wollte wieder zurück, zurück in sein Zimmer, zu
dem Engel, zurück in den sonnigen Garten. Aber er konnte sich nicht rühren. Das
Ding stützte sich mit einer Hand an der gegenüberliegenden Wand ab und tastete
sich heran. Die Katze lief klagend durch den Gang, hin und her.
„Hilf mir, Bub, er kommt, er kommt, hilf mir, gib mir deine Hand, muss hinunter,
hinunter zum Telefon, der Arzt …“ Es stieß diese Worte unter großer Anstrengung
zwischen blutigen Zähnen hervor, von den Mundwinkeln tropfte es rot- und
weißblasig, auch die Vorderseite des Nachthemds war nass von Blut. Der Stoff
klebte am Körper. Die Zehen mit den viel zu langen, gelblichen Nägeln krallten sich
bei jedem Schritt in den filzigen Läufer, Unterschenkel und Knöchel waren streifig
braun.
„Er kommt, … er kommt, ich will nicht, … ich bin noch nicht fertig, … ich muss noch
… Bub, wo bist du, gib mir deine Hand, hilf mir doch!“
Da löste sich Sammy von der Wand, stolperte in sein Zimmer zurück und schloss die
Tür fest hinter sich. Er lag schon wieder im Bett, als er das Poltern hörte. Es klang
wie die Holzscheite, die der Vater im Sommer von der Gasse aus in den Keller warf,
um sie für den Winter einzulagern. Es pochte in seinen Ohren, als er sie mit den
Zeigefingern stopfte, aber es gab jetzt ohnehin nichts mehr zu hören im Haus.
„So eine Sauerei. Den Läufer im ersten Stock kann ich wegschmeißen!“
„Ist doch egal, wir kaufen einen neuen, schöneren!“
„Ich wusste nicht, dass ein Mensch so viel Blut in sich hat. Und jedes Mal, wenn ich
in Zukunft durch den Gang gehe, werde ich ihr blutiges Gesicht vor mir haben.“
„Das wird sich legen.“
„Ich werde von ihren Augen träumen.“
„Du wirst das aushalten.“
Sammy wollte nicht aufwachen. Er hatte sich ganz eingerollt, die Knie zum Kopf
gezogen lag er da und fühlte zum ersten Mal in seinem Leben nichts. Es ging etwas
vor im Haus, da waren feste Schritte und fremde Stimmen. Er strampelte die Decke
weg, die ihm heute viel zu warm war. Die Bärchen auf seiner Pyjamahose lachten ihn
blöde an und er nahm eines nach dem anderen zwischen die Finger, zerknüllte den
Stoff. Niemand kam ihn holen. Schließlich wälzte er sich doch aus dem Bett. Vor der
Tür saß die Katze, als hätte sie die ganze Nacht dort auf ihn gewartet. Er stieß sie
mit dem Fuß weg und rannte ins Zimmer der Tante. Tür und Fenster standen offen,
das Bett war leer, das Bettzeug bereits entfernt worden. Die Matratze sah fleckig aus.
Am Nachttisch stand das Schmuckkästchen. Erst jetzt, in diesem morgendlichen
Licht, bemerkte er, dass es Sprünge hatte. Er nahm es und schlich hinunter, vorbei
am Wohnzimmer, in dem er viele Leute reden hörte. Im Garten setzte er das
Kästchen vor den Reifen eines der zahlreichen dort parkenden Autos und versteckte
sich dann im Buchsbaum. Nach einiger Zeit hörte er die Mutter rufen, aber er
antwortete nicht. Er lag ganz still in der sandigen Mulde inmitten des warmen Duftes.
Gegen den blauen Himmel sahen die dicht beblätterten Zweige schwarz aus, in
Bodennähe hellgrün glänzend. Er beobachtete die Tierchen am Boden. Ameisen,
Asseln und Käfer schienen genau zu wissen, welchen Bahnen sie folgen mussten, er
zeichnete diese Bahnen nach und am Ende hatte er ein Gewirr von Linien, die
eigentlich kein Bild und keine Antwort ergaben. Endlich stand Sam auf und klopfte
sich den Sand ab. Vor dem Haus hockte er sich hin, strich über die Reste des
Kästchens, die der Reifen tief in die Erde gedrückt hatte. Sam begann zu weinen. Da
waren nur mehr Holzspäne, gemischt mit weißem Pulver.
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