Spezielle Bewegungslehre Skilauf / Snowboard SKRIPTUM 2002 Klaus Stillger Sportzentrum Universität Augsburg 2 Universität Augsburg Sportzentrum Klaus Stillger April 2002 Spezielle Bewegungslehre Skilauf / Snowboard Bewegungsmerkmale 1. Bewegungsrhythmus ist die dynamisch, zeitliche, räumliche Gliederung einer Bewegung, d.h. der fließende Übergang zwischen Spannungs- und Entspannungsphasen. Damit sind zyklische und azyklische Bewegungen erfasst. Azyklische Bewegungen: sind einmalig ablaufende geschlossene Bewegungsabläufe (ohne Wiederholungen) – z.B. Schwung zum Hang, Bremsschwung, Schwung zu einer Seite. Zyklische Bewegung: hier reihen sich Bewegungsabläufe so aneinander, dass die ausklingende Phase (Übergangsfunktionsphase) schon Ausholbewegung der nächsten Hauptfunktionsphase ist – z.B. Kurvenfahren rechts und links, Schlittschuhschritt, Schwunggirlande. Rhythmus ist übertragbar (Mitvollziehen einer Bewegung) z.B. Skigymnastik, Eigen- und Fremdverbalrhythmus, Rhythmus durch Gelände- oder Gerätehilfe. Individualrhythmus – Gruppenrhythmus – hebt die Effektivität und Ökonomie der Gruppenleistung sowie die ästhetische Qualität (Synchronfahren). 2. Bewegungsübertragung ist die Übertragung von Bewegungsimpulsen von einem Körperteil auf den anderen sowie auf Geräte. BÜ ist möglich: Vom Rumpf (Schultern) auf die Gliedmaßen – z.B. Rotation Snowboard. Von den Gliedmaßen auf den Rumpf – Stockeinsatz, Armeinsatz beim Hochsprung. Vom Hüfte auf die Gliedmaßen (Beine) – Hilfe zum Umkanten Vom Becken auf die Schulter (Hüftstoß beim Speerwurf) Eine Sonderform der Bewegungsübertragung stellt die Steuerfunktion des Kopfes dar. Durch Kopfbewegungen werden Bewegungen an Rumpf und Gliedmaßen ausgelöst (vgl. auch Prinzip der gleichgerichteten Bewegung!) Maßgeblichen Einfluss hat dabei der tonische Halsreflex. Kopfbewegung in den Nacken bewirkt Körperstreckung – z.B. zu tiefe Oberkörperposition Kopfbewegung zur Brust bewirkt Körperbeugung – z.B. zu hohe Oberkörperposition Kopfdrehung bewirkt Richtungsänderung 3 3. Phasenstruktur der Bewegung Eine kontrollierte, gesteuerte Richtungsänderung verlangt eine Reihe verschiedener Aktionen, die der Ski- oder Snowboardfahrer auszuführen hat. Jede dieser Aktionen erfüllt eine bestimmte Funktion. Wir unterscheiden zwischen Aktionen, die unbedingt notwendig sind und solchen, die unterdrückt oder nicht ausgeführt werden müssen. Z.B. ist eine Vertikalbewegung nicht notwendig, wenn eine hohe Fahrtwucht vorhanden ist oder der Ski (Snowboard) zügig umgekantet wird (Carvingeffekt). Hilfsfunktionsphasen Hauptfunktionsphase Übergangsfunktionsphase Schwungeinleitung Schwungsteuerung Schwungbeendigung Drehwiderstand verringern Kanten der Ski Kanteneinsatz verringern (Belasten) (Kanten) (Kanten) Umkanten Drehen der Ski Überdrehen verhindern (Kanten) (Drehen) (Drehen) Kurvenlage einnehmen Kurvenlage beibehalten Kurvenlage aufgeben (Drehen, Belasten) (Belasten) Hilfsfunktionsphase 3 – Drehwiderstand verringern Äußerst hilfreich für die Schwungauslösung, aber nicht unbedingt notwendig. Möglichkeiten: Vertikalbewegungen (Belasten) – Hoch- oder Tiefentlastung Passive Tiefentlastung – Auffahren auf Buckel oder Welle Drehbewegungen (Drehen) – Vorausdrehen – Blockdrehen – Beindrehen Stemmen des Bergski – Verkleinerung des Drehwinkels (Schwungwinkel) Schwunghaftes Beidrehen des Talskies – unterstützt das Beindrehen Veränderung der Skilänge - Skiblades Skiwachsen (Belasten) 4 Hilfsfunktionsphase 2 – Umkanten Das Umkanten ist unbedingte Voraussetzung für das Gelingen der Hauptfunktionsphase. Ausgeführt wird das Kanten durch Kippbewegungen (Fuß, Knie, Körper, Hüfte). Ausführungsmöglichkeiten durch unterschiedliche Belastungen: Beide Ski gleichzeitig bei ständigem Bodenkontakt – Carven mit Umlasten. Beide Ski gleichzeitig ohne ständigem Bodenkontakt – erleichterte Form Hochentlasten. Beide Ski nacheinander mit Bodenkontakt – Umsteigen. Beide Ski nacheinander in der Luft – schnellendes Abspringen. Hilfsfunktionsphase 1 – Kurvenlage einnehmen – Drehen, Belasten Diese Funktion kann durch verschiedene Körperpositionen eingenommen werden: Aufrecht Hüftbeuge Körperinnenlage Hauptfunktionsphase – Schwungsteuerung – Kanten, Belasten, Drehen. Die beiden Grundfunktionen Kanten und Belasten müssen in jedem Fall erfolgen, da nur ein gekanteter Ski die Kräfte auf den Schnee ausüben kann und somit die Fahrtrichtung ändert (Carvingeffekt). Ohne zu kanten dreht ein Ski um seine Tiefenachse wie ein nicht mehr steuerbares Auto auf Glatteis. Ist der Kantvorgang gering, muss die Drehung des Ski durch Beindrehen ergänzt werden. Schnelle Richtungsänderungen (steiles Gelände) erfolgen immer durch Beindrehen. Übergangsfunktionsphase – Schwungbeendigung Das Beenden der Skidrehung ist gleichzeitig Ausholbewegung für die neue Richtungsänderung (Phasenverschmelzung). Mit zunehmender Verringerung der Geschwindigkeit werden die Aktionen der Grundfunktionen Kanten – Belasten – Drehen reduziert und in neue Aktionen zur Einleitung des nächsten Schwunges übergeleitet. Geht der Schwung einer Seite in eine Schrägfahrt über (ängstliche Anfänger, Hang queren, Ruhephase etc.), so sprechen wir von einer azyklischen Bewegung (Einzelschwung, bei Aufrichten in Mittelstellung). Mehrfache Ausholbewegungen (Erfühlen des Krafteinsatzes) methodischen Gründen, aber auch aus Angst und Unsicherheit. erfolgen manchmal aus 5 Folgerung für die Unterrichtspraxis: Die Kenntnis der Funktionsphasen ermöglicht uns gezieltes Schulen einzelner Aktionen. Es erweist sich als vorteilhaft, mit der Schulung der Hauptfunktionsphase zu beginnen, da dem Anfänger der Drehwiderstand und das Umkanten Schwierigkeiten bereiten. Für die Praxis bedeutet dies: Planes Gelände - feste Schneeunterlage – nahe der Falllinie. 4. Bewegungsfluss ist die Fähigkeit, mit Hilfe von Muskel- und Gelenkeinsätzen Bewegungen möglichst fließend zu gestalten.(Elastizität, Ausgleichsvermögen, Bewegungsbereitschaft, Bodenformen, Kontrastlernen). 5. Bewegungsgenauigkeit Betrifft im Skilauf die Wiederholungsgenauigkeit (Bewegungskonstanz). Training im Geländegarten. 6. Bewegungsumfang Räumliche Ausdehnung der Bewegung. Im Skilauf relativ geringe Bewegungsumfänge. Je geringer die Fahrtwucht (großer Drehwiderstand) , desto höher ist der Umfang. 7. Bewegungsstärke Wesentlich ist die Abstimmung des Krafteinsatzes mit den anderen Einflussgrößen wie Richtung und Zeitpunkt. Anfangs sind die Impulse meist zu hoch. 8. Bewegungstempo ist die Bewegungsgeschwindigkeit der Gesamtbewegung oder der Einzelbewegung. Z.B. abruptes Ausstemmen des Bergskis, zu langsames Abstoßen bei der Vertikalbewegung. Bewegungsprinzipien 1. Koordination ist das Zusammenwirken von Zentralnervensystem und Skelettmuskulatur innerhalb eines gezielten Bewegungsablaufs. Bewegung lernen - motorisches Lernen der Grobform (Grobkoordination) Bewegung verbessern - motorisches Üben der Feinform (Feinkoordination) Motorische Theorie: Physiologisch gesehen bedeutet Koordination das geeignete Innervieren (Reizübertragung durch Nerven) der zweckmäßig zu verwendenden Muskulatur. Dieser Vorgang läuft unbewusst ab (zentralnervöse Automatismen im Rückenmark). Einen direkten Einfluss des Großhirn (Bewusstsein des Menschen) gibt es nicht, die Automatismen sind immer dazwischen geschaltet. 6 Um absichtsgemäß und ökonomisch zu handeln erstellt das Gehirn sogenannte Schaltmuster, das motorische Gedächtnis. Dieses Gedächtnis sammelt Erfahrungen durch Einprägung (Engrammierung) aller einmal ausgeführten Innervationen in Form von Erinnerungsbilder, die auf Abruf bereit liegen. Liegt kein Erinnerungsbild vor (z.B. Bremsschwung), so kann diese Bewegung in einem bestimmten Augenblick nicht ausgeführt werden (z.B. Hindernis in der Piste wird überfahren). Folge für den Unterricht: Bewegungserfahrungen sammeln durch Aufgabenstellungen. Erinnerungsbilder nicht nur schaffen, sondern auch festigen. Sensorische Theorie: Das Gehirn weiß beim Erlernen einer Bewegung von vornherein nicht, wohin und in welcher Stärke Impulse zu senden sind. Hierzu sind Kontrollmeldungen (sensorische Rückmeldung – Augen, Ohren, taktiler Sinn etc.) nötig, die dem Gehirn laufend zugehen. D.H. die Auswahl der Muskeln wird dadurch getroffen, dass anfänglich mit innervierte Partien als hemmend bzw. überflüssig ausgeschaltet werden. Lernprozess - Feinform – Minimum an Muskeleinsatz. Die überflüssigen Bewegungen drücken sich im Skilauf durch unnötige Oberkörper- und Armaktionen aus. Relative Koordination: Das Lernen neuer Bewegungsabläufe geht sprunghaft vor sich (Einschnappen). Beim Durchexperimentieren (Versuch-Irrtum) aller Möglichkeiten erfolgt die Zuordnung plötzlich („AhaErlebnis“). Folgerung für die Unterrichtspraxis: Die induktive Lehrmethode läßt breiten Erfahrungs- und Erprobungsspielraum. Explizit falsche Bewegungsausführungen rechtzeitig korrigieren (oft schwer umzuformen). Korrigierte Bewegung (Leistungsminderung). Forderung nach ausgebildeten Lehrkräften im Fach Skilauf und Snowboard. Kein zu langes und umfangreiches Üben von Vorstufen (Grundformen). Dies führt häufig zu führt oft zu Störung des gesamten Bewegungsablaufs stabilen Bewegungsmustern (z.B. Stemmstellung), die sich nur mit vieler Mühe Weiterformen lassen. Prinzip der gleichgerichteten Bewegung Unsere Motorik hat die Tendenz zu gleichgerichteten Bewegungen. Beispiele: Rolle vw – Beine gebeugt, wenn Kopf auf der Brust. Kopf – Augenbewegung, Muskelzeigen. Skilauf: Orientierungshilfen (Stangen, Pilze etc.) fordern zum Blickkontakt und damit zur Richtungsänderung heraus. 7 2. Zweckmäßigkeit und Ökonomie Zweckmäßig ist eine Bewegung dann, wenn sie zum Erreichen des gesteckten sportlichen Zieles beiträgt (optimale Situationsmeisterung). Z.B. Ausgleichen in der Buckelpiste ist zweckmäßig. Zweckmäßig ist auch das Schulen unter erschwerten Bedingungen. Ein Pflugbogen ist zweckmäßig aber unökonomisch. Ein Kurven mit Talstemme kann bei schlechter Sicht zweckmäßig sein, letztlich aber durch zuviel Kraftaufwand unökonomisch. Die Ökonomie der Bewegung ist durch das Verhältnis von Energieaufwand und geleisteter Arbeit (Wirkung) bestimmt. Kindliche Bewegungen zeigen häufig einen Reichtum an überflüssigen Bewegungen (Bewegungsluxus) und sind daher unökonomisch, für ihre Fahrweise und ihren Körperbau jedoch zweckmäßig. 3. Konstante Figurzeit Jede Bewegung hat eine bestimmte Ablaufsform = Figur. Dieser Figur fällt eine bestimmte Zeit zu ihrer Realisation zu = konstante Figurzeit. Zur u vermeintlichen Erleichterung darf diese Figurzeit nicht verändert werden. Beispiele: Kreiszeichnen schnell – gute Ausführung Handstützüberschlag langsam beim Turnen misslingt Hochbewegung langsam beim Kurvenfahren – geringer Entlastungseffekt. Slowmotion Video zur Verlangsamung des Bewegungsablaufs einsetzbar. Das isolierte Üben von Sequenzen beim Erlernen der Grobform verfälscht häufig den zeitlichen Ablauf und die Gesamtbewegung bei der Sequenzkoppelung. Figurierte Bewegungen im Lernstadium nicht unter sportlichen Gesichtspunkten (Wettkampf) ausführen lassen. 4. Mitüben einer Bewegung liegt vor, wenn eine Lernhandlung einen positiven Einfluss auf eine andere Lernhandlung hat (Transfer einer Lernaktivität). Beispiele: Beim Pflugbogen übe ich die Außenbeinbelastung und das Beindrehen für andere Schwünge mit. Die Vertikalbewegung kann ich bei allen Schwüngen gebrauchen (auch zur Rhythmusschulung und zur Kapilarisierung) Die Mitübung kann auch eine funktionelle Verbesserung der Spiegelseite und in der gesamten Motorik hervorrufen, z.B. Schwung zum Hang rechts verbessert dabei auch den nach links (z.B. auch beim Hochsprung von links auf rechts wechseln). 8 Bei beabsichtigter Kräftigung der Agonisten werden auch die Antagonisten mit geübt (Antagonistenmitübung). Eine Sonderform besteht im „Carpenter-Effekt“. Beim Beobachten und miterleben fremder Bewegungsvollzüge kommt es (insbesondere bei Interesse) zu einem Mitvollzug der betreffenden Bewegung von seiten des Betrachters. Beispiele: „Beinheben“ der Zuschauer beim Hochsprung im Augenblick des Sprungansatzes. Wettkampfspiele bei Kindern (Staffelspiele). Dieser Effekt tritt auch bei Bewegungsvorstellungen auf (mentales Training), z.B. Betrachten eines Skivideos. 5. Seitigkeit Unter Seitigkeit versteht man die eigenartige funktionelle Bevorzugung einer Seite beim Menschen (am auffälligsten die Händigkeit). Die Bevorzugung einer Richtung (Wendigkeit) ist auf die Leistungsfähigkeit der Gleichgewichtsorgane zurückzuführen. Bemerkenswert sind Beispiele von Rechts-Links-Wechsel (Hochsprung – V. Brummel von li auf re nach Verkehrsunfall). Beim Skilauf/Snowboard geringe Bedeutung, da ohnehin beidseitig geschult wird. 6. Bewegungsvorausnahme (Antizipation) Antizipation ist ein psychischer Vorgang, in dem voraussehbare Bedingungen und Veränderungen der Umwelt zur Sicherung des Bewegungszieles im Bewegungsentwurf berücksichtigt werden. Im Skilauf bedeutet dies Vorausschauen (Gelände) und Vorausdenken (Sicherheit).