V01 - PH Heidelberg

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Kapitel 1: Kongruenzabbildungen
Elementargeometrie
Skript zur gleichnamigen Vorlesung im WS 2008/2009
Michael Gieding
www.ph-heidelberg.de/wp/gieding
Kapitel 1: Kongruenzabbildungen
Der Begriff der Bewegung
Ein Märchen zur Einstimmung
Es war einmal ein Mathematiklehrer, der arbeitete an einer Schule, die über kein Kopiergerät
verfügte. Du magst jetzt vielleicht vermuten, dass die Schule sehr arm war. Weit gefehlt: Gar
wunderschöne teure Apparate zierten in großer Vielfalt den Physikraum der Schule. Sie hatte
sogar einen sehr großen, schönen Garten, in dem die Schüler ihr eigenes Gemüse zogen und
ihr eigenes Obst ernteten. Für die Schüler gab es eine Schulküche in der sie jeden Tag für 60
Pfennige der Landeswährung ihr Mittagessen bekamen.
Allein einen Kopierer gab es nicht. Vielleicht kam den Lehrern und Schülern die Schule auch
nur so reich vor, weil sie in einem armen Land lebten. Keine Schule des Landes hatte einen
Kopierer. Du wirst jetzt denken, aber wie soll man denn ohne Kopierer einen anständigen
Unterricht machen?
Abbildung 1: Lochschablone
Nun, bestimmt hast Du schon einmal den Spruch gehört, dass Not erfinderisch macht.
In Abbildung 1 siehst Du eine Erfindung dieser Not: die Lochschablone. Jeder Schüler hatte
eine und der Lehrer noch eine weitere extra für die Tafel. Die war natürlich größer und passt
damit eigentlich nicht in dieses einstimmende Realmärchen zu den Bewegungen.
Kapitel 1: Kongruenzabbildungen
Betrachten wir also nur die Schülerschablonen. In Abbildung 1 ist auch das Ergebnis einer
Schüleraufgabe zu sehen. Unser Mathematiklehrer hätte sie vielleicht so formuliert:
Zeichne mit der Lochschablone das Dreieck A(14)B(15)C(12).
Ohne, dass ein Kopiergerät von Nöten war, hatte jeder Schüler dasselbe Dreieck in seinem
Geometrieheft.
Bei näherem Betrachten ist die Notlösung eigentlich gar nicht so verkehrt. Wenn man
bedenkt, wie viele Tonnen Papier für Arbeitsblätter jeden Tag an deutschen Schulen durch
den Kopierer laufen... .
In Österreich scheint man sich derartige Überlegungen zu machen. Unter
http://www.gruenova.at/zeichengeraete.htm kann man sich die gute alte Lochschablone
bestellen.
Ob das Märchen mit dem armen Land nun gut oder böse ausgegangen ist, weiß mancher noch
nicht so recht. Diejenigen, die meinen, die Schulen hätten keine Kopierer gehabt, weil das
Land zu arm war, glauben, dass das Märchen ein böses Ende gefunden hat.
Andere halten dagegen, dass auf Kopierern auch Flugblätter hätten vervielfältigt werden
können, was sie zu einem Hilfsmittel der Demokratie gedeihen ließe. Nur wegen dieser bösen
Eigenschaft wäre es ein Herzenswunsch zweier älterer Männer, die beide auf den Namen
Erich hörten, gewesen, dass die Spezies der Kopierer in dem armen Land nicht heimisch
würde. Wegen ihrer großen Macht konnten sich die beiden Alten ihren Herzenswunsch
erfüllen.
Anno 1989 war es mit der Macht der beiden allerdings vorbei. Das Volk wollte endlich
Kopierer und Demokratie. Ein dicker Mann eilte flugs herbei und versprach dem Volk neben
den Kopierern und der Demokratie gleich noch, damit es sich lohnt, blühende Landschaften.
Heute sind die Kopierer da und die Demokratie auch. Die Schulgärten sind allerdings
weitestgehend verschwunden.
Zwei Grundideen der Bewegungen: Starrheit und Kopieren
In der Lochschablone kommen zwei grundlegende physikalische Ideen zum Tragen die dem
mathematischen Begriff der Bewegung zugrunde liegen:
 Starrheit
Wo die Schüler die Lochschablone auf ihr Blatt legen, ist egal. Die Abstände zwischen
den Punkten werden nicht geändert. Wegen der Robustheit der Schablonen können die
Schüler propädeutisch die Ideen der in der Schule zu behandelnden Bewegungen
Geradenspiegelung, Verschiebung und Drehung durch eigenes Handeln erfahren.
Abbildung 2 verdeutlicht diesen Aspekt am Beispiel der Drehung um einen Punkt Z.
Abbildung 2: Demonstration der Drehung um einen Punkt Z mithilfe der Lochschablone
Kapitel 1: Kongruenzabbildungen

Kopieren
Abbildung 2 zeigt einen gewissen zweiten Aspekt der Bewegung. Dem
Originaldreieck ABC wurde eine exakte Kopie '''CBA zugeordnet. Letztlich
allerdings nicht nur dem Dreieck. Jeder Punkt der Lochschablone findet sein Pendant
nach der Drehung. Diesbezüglich ist keiner der Punkte vor einem anderen
ausgezeichnet. Wir könnten unendlich viele Punkte einzeichnen und jeder wird nach
dem Drehen sein Bild finden.
Abstraktion von den physikalischen Gegebenheiten
Die Materie scheint schwer genug zu sein. Wir werden unsere Betrachtungen auf eine einzige
Ebene ε einschränken.
Die Lochschablone ist nichts anderes als das Modell unserer Ebene. Leider muss jedes
physikalische Modell, mit dem der Schüler auch noch konkret handelnd tätig werden soll,
flächenmäßig beschränkt sein.
Für den mathematischen Bewegungsbegriff abstrahieren wir von dieser Beschränktheit. Das
ist uns eigentlich schon länger klar, soll an dieser Stelle jedoch noch einmal besonders
hervorgehoben und betont werden.
Hinter der Idee des Kopierens steckt nichts anderes als der mathematische Abbildungsbegriff.
Jedem Original wird ein Bild zugeordnet.
Der Definitionsbereich für unsere Abbildungen ist die gesamte Ebene. Ihr Bild ist sie selbst.
Jeder Punkt der Ebene ε wird auf genau einen Punkt der Ebene ε abgebildet. Aus
mathematischer Sicht ist es egal, ob unser Ebenenmodell aus Plastik oder Glas ist. Aus
Gummi dürfte es allerdings nicht sein, denn Gummimatten1 sind mit Sicherheit nicht starr.
Die Starrheit bedeutet nichts weiter, als dass zwei Originalpunkte denselben Abstand haben
wie ihre Bildpunkte.
Der Mathematiker drückt das so aus: Der Abstand ist eine Invariante von Bewegungen. Oder
auch: Jede Bewegung ist abstandserhaltend.
Bewegungen
Definition 1.1: (Bewegung)
Eine Abbildung der Ebene auf sich heißt Bewegung, wenn sie invariant gegenüber den
Abständen beliebiger Punktepaare ist.
Aus der Eigenschaft der Abstandserhaltung kann man sofort folgern, dass die Bewegungen
eineindeutige Abbildungen von der Ebene auf die Ebene sind.
Satz 1.1:
Jede Bewegung ist eine Bijektion.
Beweis: Übungsaufgabe
Definition 1.2: (Menge aller Bewegungen)
Die Menge aller Bewegungen wird mit B bezeichnet.
1 Gummimatten werden wir in der Ähnlichkeitsgeometrie verwenden.
Kapitel 1: Kongruenzabbildungen
Spezielle Bewegungen
Die Identität
Mit Definition 1.1 haben wir festgelegt, was wir unter einer Bewegung verstehen wollen.
Definieren kann man viel, wenn der Tag lang ist. Es bleibt die Frage, ob wir nicht etwa in
anderer Form die leere Menge neu definiert haben. Anders ausgedrückt stellt sich die Frage,
ob es denn überhaupt Abbildungen der Ebene auf sich gibt, die abstandserhaltend sind.
Die Frage lässt sich schnell positiv beantworten:
Bilden wir jeden Punkt der Ebene auf sich selbst ab, so haben wir es mit einer Abbildung der
Ebene auf sich zu tun. Da Original- und Bildpunkte jeweils identisch sind, ändert diese
spezielle (triviale) Abbildung den Abstand zweier beliebiger Punkte nicht.
Definition 1.3: (identische Abbildung bzw. Identität)
Unter der identischen Abbildung bzw. der Identität versteht man die Abbildung der
Ebene auf sich, die jeden Punkt der Ebene auf sich selbst abbildet. Zeichen: id.
Geradenspiegelungen
Den Begriff der Geradenspiegelung bringt man den Schülern auf enaktivem Weg näher. Am
Ende der enaktiven Untersuchungen stehen die Eigenschaften bzw. eine
Konstruktionsvorschrift für die Konstruktion beliebiger Bildpunkte bei Geradenspiegelungen.
Variante 1: Klecksbilder
Die Schüler bringen einen Tintenfleck auf ein Blatt Papier und falten dieses dann einmal. Die
„Faltgerade“ entspricht der Spiegelachse.
 Variante 2: Originalpunkt und Bildpunkt durch „Durchstechen“ generieren.
Die Schüler falten ein Blatt Papier durchstechen es etwa mit der Zirkelspitze und falten
das Blatt wieder auseinander.
 Variante 3: Scherenbilder
Ein Blatt Papier wird gefaltet und im gefalteten Zustand in geeigneter weise zerschnitten.
 Variante 4: Halbdurchlässige Spiegel
Ein halbdurchlässiger Spiegel wird derart auf ein Blatt Papier mit Quadratraster gestellt,
dass er direkt auf einer der Rasterlinien steht. Auf dem Raster wir eine Figur gezeichnet.
Das Bild der Figur beider Geradenspiegelung erhält man unter Verwendung des Spiegels
und des Rasters.
 Variante 5: Koordinatenraster
Wie Variante 4 ohne Verwendung des Spiegels.
Folgende Eigenschaften werden dabei erkannt:
1. Jeder Punkt der Spiegelgeraden wird auf sich selbst abgebildet.
2. Liegt ein Punkt nicht auf der Spiegelgeraden, so steht die Gerade, die durch den Punkt
und seinen Bildpunkt geht, senkrecht auf der Spiegelgeraden.
3. Liegt ein Punkt nicht auf der Spiegelgeraden, so liegen dieser Punkt und sein Bild auf
verschiedenen Seiten bezüglich der Spiegelgeraden.
4. Jeder Punkt und sein Bild haben zur Spiegelachse ein und denselben Abstand.
Aus diesen Untersuchungen ergibt sich die folgende Konstruktionsvorschrift zur
Konstruktion des Bildes eines Punktes P bei einer Spiegelung an s.
Konstruktionsvorschrift:
Fall 1: P liegt auf s: Es ist nichts zu tun. P’ fällt mit P zusammen.
Fall 2: P liegt nicht auf s:
1. Fälle das Lot l von P auf s. L sei der Fußpunkt dieses Lotes auf s.
2. Trage die Strecke LP auf LP- ab. Der damit konstruierte von L verschieden Endpunkt
der abgetragenen Strecke ist der gesuchte Bildpunkt P’.
Kapitel 1: Kongruenzabbildungen
Diese Konstruktionsvorschrift entspricht einer genetischen Definition. Wir formulieren sie als
Realdefinition.
Definition 1.4: (Geradenspiegelung)
Es sei g eine Gerade der Ebene. Unter einer Spiegelung sg an der Geraden g versteht
man eine Abbildung der Ebene auf sich mit den folgenden Eigenschaften:
Für einen beliebigen Punkt P und sein Bild P’ bei dieser Abbildung gilt:
P=P’, falls Ps,
s ist die Mittelsenkrechte der Strecke PP' , sonst.
s heißt Spiegelachse der Geradenspiegelung.
Aus der Existenz und Eindeutigkeit Lotes von einem Punkt auf eine Gerade und die
Möglichkeit und Eindeutigkeit des Abtragens einer Strecke auf einem Strahl folgt, dass
Geradenspiegelungen wirklich existieren, bzw. Abbildungen der Ebene auf sich sind. (Zu
jedem Punkt der Ebene existiert bei gegebener Spiegelachse genau ein Bildpunkt bei einer
Spiegelung an dieser Achse.)
Wir wissen allerdings noch nicht, ob die oben definierte Abbildung der Ebene auf sich auch
wirklich eine Bewegung, also eine abstandserhaltende Abbildung der Ebene auf sich ist.
Satz 1.2:
Jede Geradenspiegelung ist eine Bewegung.
Beweis: Übungsaufgabe
Drehungen
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