Gott und Gewalt in Südosteuropa: Rituell-liturgische und zwischenkirchliche bzw. interreligiöse Aspekte Univ.-Prof. Dr. Basilius J. Groen 1. Einführung Sowohl Frieden und Gewalt als auch Religion sind existentielle Themen. Religion ist – weltweit betrachtet – eine der wichtigsten Dimensionen des menschlichen Daseins, für viele Menschen die wichtigste überhaupt. Das Leben in Afrika, Süd- und Nordamerika, in großen Teilen Asiens und Osteuropas ist ohne Religion kaum vorstellbar. In Westeuropa verlieren die traditionellen Kirchen zwar an Boden, aber gleichzeitig sehnen sich viele Westeuropäer nach neuen Formen von Spiritualität. Das Thema der Beziehung zwischen Gewalt und Frieden einerseits und Religion andererseits ist sowohl spannend als auch ambivalent und schwierig. Auf der einen Seite betonen fast alle Weltreligionen ihre Förderung von Frieden und Gerechtigkeit. Sie wollen Harmonie sowie das Verbunden-Sein aller Menschen forcieren. Andererseits sind Kriege des Öfteren im Namen einer bestimmten Religion geführt worden; an mehreren Orten geschieht das auch heute noch. Einige Religionen beanspruchen das exklusive Heil für die eigenen Anhänger und Anhängerinnen und viele ihrer Bekenner versuchten mit Gewalt, Andersgläubige zu konvertieren. Einerseits haben Kirchen Kriege oft als „gerechte Kriege“ legitimiert. Andererseits verurteilen manche Kirchen konsequent jegliche Form der Gewalt. Es ist unmöglich, hier alle Aspekte dieses Themas auch nur annähernd zu besprechen. Beschränkungen sind also notwendig. Die erste Beschränkung ist, dass ich nicht auf strukturelle Gewalt, auf psychische Gewalt, sexuelle Gewalt usw. eingehen werde, sondern mich auf Kriegen konzentriere. Die zweite Beschränkung ist, dass ich eine Fallstudie vornehmen und mich auf Südosteuropa fokussieren werde. Es handelt sich hier um die Gegend Europas, die ein wichtiger Forschungs- und Lehrschwerpunkt unserer Universität darstellt. In diesem Gebiet gibt es nicht nur viele Nationalitäten mit ihren unterschiedlichen Religionen und Konfessionen, sondern auch große Spannungen, Konflikte und bis vor kurzem Kriege, die von vielen Teilnehmenden als religiös empfunden wurden und sogar als solche legitimiert wurden. Den Zahlen nach sind die wichtigsten Religionen beziehungsweise Konfessionen in Südosteuropa heutzutage die Orthodoxie, der Katholizismus und der Islam. In Serbien, Montenegro, Mazedonien, Griechenland, Bulgarien und Rumänien ist die Orthodoxie die wichtigste Religion. Weil für die meisten Grazer Studierenden wahrscheinlich die orthodoxen Kirchen wenig bekannt sind, werde ich zunächst einige einführende Bemerkungen über sie machen. Die Orthodoxie ist ihrer Verwaltung und ihrer Organisationsstruktur nach eine Gemeinschaft, man könnte sagen ein Commonwealth, von größtenteils unabhängigen National- oder Ortskirchen, wie zum Beispiel die Patriarchate von Konstantinopel, Jerusalem, Moskau, Serbien, Rumänien und Bulgarien und die Kirchen von Griechenland und Zypern. Die orthodoxen Kirchen entstammen der Tradition des Byzantinischen/Oströmischen Reiches oder sind von dort christianisiert worden. Sie haben die gleiche offizielle Liturgie, dasselbe Glaubensbekenntnis und dieselbe Kirchenstruktur. Weil die orthodoxen Kirchen sich zusammen als die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche betrachten, als der Leib Christi und als das Bild der Trinität, könnte man auch von der Orthodoxen Kirche (im Singular) sprechen. Der gesellschaftliche Kontext der orthodoxen Kirchen ist aber sehr unterschiedlich. In manchen Ländern, wie zum Beispiel Russland, war die Orthodoxie Jahrhunderte lang Staatsreligion, dann wurde sie vom Sowjetstaat schwer unterdrückt und jetzt ist sie wieder frei. In Bulgarien und Rumänien hatte die Orthodoxie bis zum Zweiten Weltkrieg eine privilegierte Stelle inne, wurde dann von den 1 kommunistischen Regimes hart unterdrückt und jetzt ist sie wieder frei, auch wenn sie es noch schwierig findet, mit der neuen Freiheit umzugehen. In anderen Ländern, wie in Griechenland, ist die Orthodoxie auch heute noch die offizielle Religion des Landes. Besonders aufgrund von Auswanderungen von Russen, Griechen, arabischen Christen usw. – vor allem im zwanzigsten Jahrhundert – gibt es die Orthodoxie heutzutage überall in der Welt, auch in Österreich; sie ist mondial geworden. Zurzeit gibt es weltweit etwa 250 Millionen Orthodoxe. Beim Katholizismus handelt es sich um eine der größten Glaubensgemeinschaften auf der Erde. Es gibt über eine Milliarde Katholiken und Katholikinnen. In Kroatien und Slowenien stellt die Römisch-Katholische Kirche die vorherrschende Konfession dar. In Bosnien, Kosovo und im europäischen Teil der Türkei ist eine andere riesige Glaubensgemeinschaft, nämlich der Islam, die dominierende Religion. In Albanien finden wir sowohl den Islam als auch den Katholizismus und die Orthodoxie vor. Wichtige islamische Minderheiten gibt es in unter anderem Bulgarien und Griechenland. Bis zum Zweiten Weltkrieg existierten in Südosteuropa blühende jüdische Gemeinschaften, sie wurden jedoch von den Nazis und von den mit ihnen befreundeten Regimes großteils ausgerottet. In Thessaloniki zum Beispiel wohnten bis zum Krieg über 50.000 Juden und Jüdinnen, die fast alle in den Konzentrationslagern ermordet wurden. Aus Beschränkungsgründen werde ich nur den Katholizismus und die Orthodoxie besprechen. Ich werde regelmäßig zwischen diesen beiden christlichen Großkirchen hin und her pendeln. Dabei werde ich der Liturgie besondere Aufmerksamkeit geben. Der Grund dafür ist, dass in fast allen Religionen das rituelle Benehmen einen zentralen Platz einnimmt. Durch Rituale versuchen die Anhänger einer bestimmten Religion auf einer sinnlichen, also sichtbaren, hörbaren, fühlbaren Weise mit einer für ihre Sinne nicht wahrnehmbaren, höheren oder andersartigen Wirklichkeit – mit Gott – umzugehen, und zwar nicht einmalig, sondern in einer Wiederholung von vertrauten Handlungen, Gebärden, Wörtern. So zeigen Rituale ihnen diese Wirklichkeit, stellen sie dar. Rituale sind äußerst wichtig für die Vermittlung des Glaubens. Menschen sind eine Einheit von Körper und Seele, sie sind sinnlich und nehmen durch ihre Sinne wahr. Rituale beabsichtigen ebenfalls, dem menschlichen Leben – sowohl dem Leben des Alltags als auch dem religiösen Leben – Struktur und Rhythmus zu verleihen. Man denke hier zum Beispiel an die Rituale am Anfang des Tages beim Aufstehen und am Ende beim Zubettgehen. Noch eine letzte einführende Bemerkung: Natürlich ist „Südosteuropa“ ein sehr großes und diverses Gebiet. Es können nur einige Aspekte und Beispiele besprochen werden, viele Nuancierungen müssen außer Acht bleiben. Lasst uns nun zu unserem Thema kommen. Zunächst möchte ich einige Beispiele aus der Geschichte erwähnen. 2. Einige historische Beispiele Die ersten beiden Beispiele versetzen uns in das „katholische Lager“. Sie betreffen die Angst im christlichen Abendland vor den Türken und die bewaffneten Konflikte mit ihnen. Am 7. Oktober 1571 fand im Korinther Golf bei Naupaktos, Lepanto – heutzutage befindet dieses Gebiet sich in Griechenland, damals gehörte es zum islamischen Osmanischen Reich – eine große Seeschlacht zwischen einer westlichen christlichen und einer türkischen islamischen Flotte statt. Nach vier Stunden siegte die christliche Seearmee. Weil der 7. Oktober in jenem Jahr der erste Sonntag des Oktobermonats war, betete am gleichen Tag in Rom die dortige Rosenkranzbruderschaft den Rosenkranz. Maria wurde im Allgemeinen für die Patronin des christlichen Abendlandes gegen die Türkenangriffe gehalten. Der Sieg in der Schlacht von Lepanto wurde der Mutter Gottes zugeschrieben. Ein 2 neues Fest war geboren: Papst Pius V. führte für den 7. Oktober das Fest der ‚Seligen Jungfrau Maria in Bezug auf den Sieg’ (Festum Beatae Mariae Virginis de Victoria) ein. Weil im Jahre 1716 Prinz Eugen von Savoyen die Türken wiederum schlug, verordnete Papst Clemens XI. die Ausdehnung des Rosenkranzfestes, das inzwischen am ersten Oktobersonntag gefeiert wurde, auf die ganze Katholische Kirche. Heutzutage heißt das Fest „Gedenktag Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz“ und es wird wiederum am 7. Oktober gefeiert. In den heutigen liturgischen Texten ist von den kriegerischen Auseinandersetzungen nicht mehr die Rede. Im Breviarium Romanum jedoch, also im römischen Stundengebet aus der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965), wurde in einer Lesung während der Matutin (d.h. während des mitternächtlichen Gebetes) der militärische Ursprung des Festes dargelegt. Ich zitiere: „…der Sieg, den der hochheilige Papst Pius V. und die von ihm angefeuerten christlichen Fürsten … über den sehr mächtigen türkischen Despoten (Turcarum tyranno potentissmo) errangen. Denn genau am selben Tag kam dieser Sieg zustande, als die sehr frommen Rosenkranzbruderschaften auf der ganzen Welt ihre üblichen Fürbitten und festen Gebete verrichteten, so dass der Sieg mit Recht diesen Gebeten zugeschrieben wird.“ In den Responsorien (d.h. Antwortversen) nach dieser Lesung heißt es: „Deine Rechte, Gott, ist gewaltig an Kraft, deine Rechte hat die Feinde zerschmettert. Sie versanken in furchtbaren Fluten, das Meer hat sie bedeckt. Der Herr hat dich mit Seiner Kraft gesegnet, da Er durch dich unsere Feinde vernichtet hat. Sie versanken.“ Diese Texte waren lateinisch und wurden nur vom Klerus gebetet. Sie haben jedoch das negative Türkenbild im Abendland sowie die Überzeugung, dass Gott und Maria auf der christlichen Seite gegen die ungläubigen Muslime mitkämpfen, verstärkt. Das zweite Beispiel versetzt uns in die Donaumonarchie, die am Ende des neunzehnten und am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts auch Teile Südosteuropas umfasste. Zu denken ist hier vor allem an Siebenbürgen im heutigen Rumänien, an Slowenien, Kroatien und an die Annektierung Bosniens. Im Jahre 1683 belagerten die osmanischen Truppen, die damals schon den Großteil Südosteuropas beherrschten, zum zweiten Mal die Reichshauptstadt Wien. Dank der Hilfe polnischer Truppen wurden die Türken geschlagen. (Übrigens befanden sich damals im türkischen Heer viele christliche Söldner. Auch darum ist es nicht richtig, von einer Schlacht zwischen Muslimen und Christen zu sprechen.) Die Feier des bereits existierenden Festes „Mariä Namen“ wurde vom Papst Innozenz XI. für die ganze westliche Kirche als Pflichtfest angeordnet. Wie das gerade erwähnte Rosenkranzfest wurde also auch dieses Marienfest „globalisiert“. Vor allem in Österreich wurde das Mariennamenfest ein sehr wichtiges Fest. In Wien wird der 12. September auch heutzutage noch feierlich begangen und er ist im Wiener Diözesankalender sogar ein „F“ (Fest) statt „G“ (Gedächtnis). Österreich stoppte den Aufmarsch des Islams, davon sind viele überzeugt. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass im österreichischen kollektiven Bewusstsein die Türkenangst noch immer anwesend ist. Die österreichische Politik steht dem möglichen Türkeibeitritt zur Europäischen Union ablehnend gegenüber. Aus einer Umfrage im Juli 2005 ergab sich, dass nur 10 % der österreichischen Bevölkerung diesem Beitritt positiv gegenüber steht. Damit hat Österreich die niedrigste Score aller Mitgliedstaaten der EU. Eine wichtige Ursache dafür ist die Darstellung der eigenen Geschichte in den österreichischen Schulbüchern, die die türkische Aggression stark betont. In katholischen Kreisen leistet die besondere Akzentuierung der Feier des Mariennamenfestes vielleicht einen Beitrag zur heutigen Türkenangst. Diese Angst war von der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts bis zum Ende des siebzehnten Jahrhunderts sicher gerechtfertigt, weil türkische Truppen damals österreichische und ungarische Städte und Gegenden regelmäßig überfielen und brandschatzten (z.B. Feldkirchen in Kärnten und 3 die Oststeiermark). Aber die heutige politische und militärische Lage ist eine völlig andere als damals. Interessant in diesem Kontext sind auch viele Marienstatuen, die Maria mit dem Mond unter ihren Füßen darstellen. Ein Vers aus dem biblischen Buch der Offenbarung, auf dem diese Vorstellung basiert, beschreibt eine Frau mit „dem Mond unter ihren Füßen“ (Off 12,1). Die nicht namentlich genannte Frau wird mit Maria identifiziert. Der Mond wird oft als Halbmond dargestellt und dann mit dem Islam, der von der Gottesmutter zertreten wird, gleichgesetzt. In Klagenfurt wurde nach dem gerade genannten Sieg über die Türken bei Wien eine Säule mit dem „Gnadenstuhl“ angepasst und es wurde ein großes Kreuz, das über dem türkischen islamischen Halbmond triumphiert, darauf gestellt. Diese Säule steht noch immer in der Stadtmitte der Hauptstadt Kärntens. Für zwei weitere Beispiele versetzen wir uns in das „orthodoxe Lager“, zunächst auf die Insel Kreta. Im Jahre 1866 brach auf dieser Insel, die damals zum Osmanischen Reich gehörte, aufs Neue ein Aufstand gegen die Türkenherrschaft aus. Eines der wichtigsten Zentren des Widerstandes war das Arkadikloster, das in einer gebirgigen Gegend südlich der Stadt Rethymno liegt. Der Abt, Gavriïl (Gabriël) Marinakis, leitete eines der revolutionären Komitees. Verhandlungen zwischen der türkischen Armee und den Revolutionären über das Ende des Aufstandes führten zu keinem Ergebnis. Am 8. November 1866 gab der türkische Befehlshaber, Mustafa Pascha, das Kommando, das Kloster, worin auch über 600 Frauen und Kinder Zuflucht gesucht hatten, zu stürmen. Der erste Angriff wurde abgewehrt. Nachts feierten die Eingeschlossenen die Eucharistie. Ihre Kommunion würde gleichzeitig ihre Wegzehrung – also das Viatikum, das orthodoxe Sterbesakrament – sein. Im großen Sturmangriff am 9. November zerschossen die Türken den Haupteingang, der Abt fiel im Kampf. Die übrigen Aufständischen zogen sich zurück ins Munitionsdepot, wo sich bereits die Frauen und Kinder aufhielten. Noch einmal fragte der Pulvermeister, ob man zum Tode bereit war, um nicht in türkische Gefangenschaft gehen zu müssen. Wie viele in Todesangst statt Heldenmutes schwebten, erwähnen die Quellen nicht. Jedenfalls richtete der Pulvermeister seine Pistole auf den Munitionsvorrat und sprengte alles. In den gewaltigen Explosionen starben nicht nur Hunderte Griechen, sondern auch eine ebenso große Anzahl Soldaten der osmanischen Armee. Diese “Nationaltragödie” wurde später von griechischorthodoxen Kirchenführern und Politikern verherrlicht. Das “Arkadi-Opfer”, dieses kretische Masada, wurde und wird immer noch oft in den Himmel gehoben und mit einem selbstlosen Aufgeben des eigenen Lebens zugunsten der Freiheit identifiziert. Vergleiche mit dem Tod und der Auferstehung des Gottessohnes selber liegen auf der Hand. Alljährlich pilgern zahlreiche Kreter und andere Griechen zwischen dem 7. und 9. November nach Arkadi. Aber die Zeiten haben sich geändert. Als ich selber 2003 in Arkadi war, sah ich, dass es in der Cafetaria keinen echten griechischen – oder, wenn Sie wollen: türkischen – Kaffee mehr gibt, weil aufgrund der vielen ausländischen Touristen der Akzent zurzeit auf dem Espresso liegt. Auch sah ich, dass die Klosterkirche auf Kosten der Europäischen Union restauriert wird. (Die Kosten betragen über eine Million Euro). Zudem befürwortet die griechische Regierung den Zutritt der Türkei zur Europäischen Union und die weitere Verbesserung der Beziehungen mit der Türkei gehörte zu den Schwerpunkten der vorherigen Simitis-Regierung und gehört auch zu denen der heutigen Karamanlis-Regierung. Die Arkadigeschichte zeigt klar die unterschiedlichen Perspektiven der beiden Kriegsparteien. Für den Abt und die Mönche von Arkadi sowie für viele andere Kreter war der Aufstand gegen die Türken ein Gebot Gottes selbst. Während der Karwoche konnten die Griechisch-Orthodoxen sich mit den Foltern Jesu identifizieren. Die römischen Soldaten und den jüdischen Hohen Rat konnten sie mit den türkischen Tyrannen gleichsetzen. Am 4 Osterfest konnten sie nach ihrer eigenen Befreiung trachten. “Freiheit oder Tod” (eleutheria thanatos) war eine Kernlosung. Wir finden diese Losung übrigens auch vor im Titel der deutschen Übersetzung eines wichtigen Romans von Nikos Kazantzakis, der griechisch Ho Kapitan Michalis heißt. In diesem Roman verewigte der kretische Schriftsteller nicht nur seinen Vater, sondern auch das Streben nach Freiheit auf Kreta während der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Wie war aber die Perspektive für die türkischen Behörden? Für sie stellte der Aufstand einen Verstoß gegen Gottes Ordnung dar. Gott verwaltete sein Reich, worin der Islam natürlich die vorherrschende Religion war und Christen sowie Juden als „Religionen des Buches“ toleriert wurden, zwar oft als zweitrangige Bürger und Bürgerinnen, aber immerhin mit klaren Rechten. Darum wurde der gefallene Abt Gavriïl von der osmanischen Armee nachträglich enthauptet und sein Kopf wurde, wie der eines subversiven Aufrührers, triumphierend gezeigt. Gleichzeitig mit dem kretischen Kampf für Unabhängigkeit, war das Königreich Griechenland im Griffe der „Großen Idee“ (Megalê Idea). Darunter versteht man die Bestrebung, alle Gebiete, wo Griechen wohnen, in einem Staat zu vereinigen und gleichzeitig das Byzantinische, Oströmische Reich neu zu beleben. Konstantinopel würde dann ebenfalls wiederum als Hauptstadt und die Orthodoxie als Staatsreligion dienen. Die ersten Ergebnisse dieser Idee schienen versprechungsvoll, weil der griechische Staat enorme Gebietserweiterungen dazu gewann. Im Jahr 1922/23 erlitt die Idee jedoch einen dramatischen Schiffbruch aufgrund der Niederlage beim Feldzug der griechischen Armee in Kleinasien und des darauf folgenden Zwangsaustausches der Bevölkerungen. Nachdem die griechische Armee mehrere Gräueltaten an türkischen Zivilisten verübt hatte, war nun die griechische Bevölkerung Kleinasiens dran. Smyrna, das heutige Izmir, ging in Rauch und Flammen auf. Metropolit Chrysostomos von Smyrna wurde vom Balkon in den Tod gestürzt. Mit ihm wurden viele griechischen Bürger und Bürgerinnen ermordet. Im Zwangsaustausch mussten die meisten in Kleinasien wohnenden Griechen nach Hellas abreisen und die meisten Türken, die auf den griechischen Inseln, zum Beispiel auf Kreta, und auf dem griechischen Festland wohnten, die Ägäis überqueren und sich in der Türkei niederlassen. Dabei diente die Religion als Kriterium dieses „Austausches“: die Griechisch-Orthodoxen mussten die Türkei verlassen und die Muslime Griechenland. Ein paar Ausnahmen, wie die Griechen in Istanbul und die Muslime in Westthrakien, durften an ihren Wohnorten bleiben, aber nach Diskriminierungen und Krawallen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren zogen die meisten Griechen aus Konstantinopel nach Griechenland. Andererseits befindet sich heutzutage ein Großteil der Muslime in Westthrakien, trotz Verbesserungen, noch in bedürftigen Umständen, auch weil diese Gruppe, in der sich übrigens auch Pomaken und Roma befinden, lange mit dem feindseligen türkischen Staat identifiziert wurde und die griechische Regierung sich daher nicht genug um diese Gruppe kümmerte. Die „Große Idee“ wurde nicht nur von Bischöfen und Politikern, sondern von fast allen Griechen begeistert unterstützt. Im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts waren wir auch Zeugen des Schiffbruches der Großbulgarischen Idee sowie der Großserbischen Idee, geschweige der Großdeutschen Idee. Mit dem dramatischen Konkurs der Großserbischen Idee befinden wir uns auf dem Balkan während der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts. Wir werden hier kurz stehen bleiben. Gleichsam beispielhaft möchte ich den Blick auf das orthodoxe Patriarchat von Serbien und auf das katholische Kroatien lenken, um zu verdeutlichen, wie dort die Beziehung zwischen Kirche und Volk betrachtet wird, auch im Lichte der letzten bewaffneten Konflikte im ehemaligen Jugoslawien. 5 3. Die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien. A: das serbisch-orthodoxe Patriarchat und das katholische Kroatien In vielen Schriften der serbisch-orthodoxen Hierarchie schlägt sich die Überzeugung nieder, Serbe-Sein und Orthodox-Sein gehören wesentlich zusammen. Das serbische Volk sei von der Orthodoxie geprägt worden und die Orthodoxie fände ihre schärfste Profilierung innerhalb der serbischen Tradition. „Serbentum“ und Orthodoxie seien zwei Existenzweisen desselben Wesens. Nach Auffassung dieser Schriften ist es die Orthodoxie, welche die serbische Identität im Laufe der Jahrhunderte bewahrt hat, vor allem während der Türkenherrschaft. Man betont, dass das serbische Volk immer verfolgt worden ist und gelitten hat, sowohl von türkischer und islamischer als auch von westlicher, katholischer Seite. Die Erinnerung an das große serbische Leiden im Zweiten Weltkrieg und das Bemühen um ein Groß-Serbien wurden von zahlreichen serbischen kirchlichen Amtsträgern und Theologen kultiviert und gefördert. Man könnte sagen, dass der Zweite Weltkrieg sich im kollektiven Gedächtnis als ein „Genozid am serbischen Volk“ festsetzte. Dafür wurde nicht nur das Regime von Ante (das kroatische Ustaša-Regime während des Zweiten Weltkrieges), sondern wurden auch das kroatische Volk und die Römisch-Katholische Kirche im Allgemeinen verantwortlich gehalten. Andererseits machten während der jüngsten Balkankriege serbische Bischöfe, namentlich Patriarch Pavle, auch dringliche Aufrufe zum Frieden und zur Gerechtigkeit, wie z.B. die nächste Passage zeigt: „Wir anerkennen und respektieren die Rechte aller Menschen, mit denen wir leben, und rufen sie auf, darüber nachzudenken, wie wir wieder gute Nachbarn werden können. Dieselbe Sonne wird uns wärmen, dasselbe Land wird uns ernähren, wir werden uns mit derselben Zunge verständigen, und derselbe Gott wird auf uns schauen und uns richten.“ Weiters appellierte der orthodoxe Patriarch, gemeinsam mit der katholischen Kirchenführung und mit Vertretern des Islams, regelmäßig an die Bevölkerung des ehemaligen Jugoslawiens, religiöse Gefühle nicht für nationalistische Zwecke einzusetzen. Auch bei den gewalttätigen Unruhen im März 2004, wobei viele serbische Kirchen in Kosovo zerstört wurden, hat Patriarch Pavle sich sehr für Versöhnung zwischen Albanern und Serben, Muslimen und Orthodoxen in Kosovo und Serbien engagiert. In Kosovo unterstützte der serbische Bischof Artemij lange Zeit die serbischen Ansprüche, plädiert jetzt jedoch für ein Kosovo, das weder exklusiv serbisch ist, noch exklusiv albanisch. Er verteidigt die serbischen Traditionen Kosovos sowie die dortige serbische Bevölkerung. Sein Eintreten für eine multi-ethnische Lösung für Kosovo ist lobenswert und braucht Unterstützung. Es ist jedoch auch bedauerlich, dass diese Bekehrung des bedeutenden serbischen Hierarchen erst jetzt passiert und nicht schon vor der Katastrophe stattfand. Die enge Beziehung zwischen Kirche und Nation ist gewiss kein orthodoxes Privileg. Es ist an sich richtig, dass für die Gebiete, wo die Orthodoxie schon seit Jahrhunderten die wichtigste Religion ist, die enge Beziehung zwischen der Orthodoxie und dem Vaterland, dem religiösen und dem nationalen Element ein bedeutendes Merkmal ist. Man könnte sagen, dass in den orthodoxen Ländern die Religion das nationale Element sakralisiert und das nationale Element die Religion ethnisiert. Dieses Phänomen bestimmt übrigens oft auch, wer die Feinde der jeweiligen Nation und Kirche sind; oft waren und sind das der Islam und die Römisch-Katholische Kirche (oder – für katholische Nationen – die Orthodoxe Kirche). Auch im katholischen Kroatien finden wir ein ähnliches Phänomen vor. In jenem Land wurden und werden Kroate-Sein und Katholizismus nicht selten miteinander identifiziert. Die tiefe Verbundenheit des kroatischen Volkes mit der Katholischen Kirche wird gerne betont. Der 6 echte Kroate ist ein Katholik. Auch in Kroatien finden wir eine starke nationale Leidensmystik vor. Es wird akzentuiert, dass das kroatische Volk schwer gelitten hat, dass die Liebe dieses Volkes für das Vaterland und die Kirche oft auf eine harte Probe gestellt worden ist. Viele nicht-kroatische Katholiken, unter anderem nicht wenige Österreicher und Österreicherinnen, unterstützten während des Krieges zwischen Kroatien und Serbien sowie während des Bosnienkrieges Kroatien mit dem Argument, diese katholische, für seine Unabhängigkeit kämpfende Nation brauche ihre Hilfe und Solidarität. Trotz guter Absichten handelte es sich hier gelegentlich um eine unkritische Hilfe. So wurden beispielsweise die serbischen Gräueltaten ausgemalt, während die kroatischen verschwiegen wurden. Ich werde nun auf einige rituell-liturgische Aspekte eingehen. 4. Waffensegnungen, Sondergebete und Messen in Kriegszeiten bzw. Messen um Frieden Sowohl auf katholischer als auch auf orthodoxer Seite sind Waffen gesegnet worden. In der katholischen Tradition gab es im früheren, vorkonziliaren Pontifikale Romanum – das ist das liturgische Buch mit den Feiern, denen ein Bischof vorsteht - eine benedictio armorum, eine Waffensegnung. Laut dem Segensgebet dieses kurzen Rituals dienen die Waffen dazu, die Gerechtigkeit zu schützen. Der Träger dieser Waffen soll wie David gegen Goliath kämpfen. Er soll die Mutterkirche sowie die Waisen und Witwen verteidigen. Aber, wenn auch in diesem Text die Gerechtigkeit betont wird, wer weiß, wie die Krieger, die Heeresführer und die Fürsten, die Gerechtigkeit in der Praxis aufgefasst haben?! Zwischen Gerechtigkeit und eigenen Interessen wird es für nicht wenige wohl kaum Unterschiede gegeben haben. Weiters gibt es im genannten Pontifikale eine benedictio vexilli bellici, eine Segnung der Kriegsfahne. Diese war wichtig. Die Fahne war ja das Symbol für die Truppen, worauf oft auch der Eid von Treue an Fürst, Vaterland und Gott geleistet wurde. Unter ihr sollte man siegen oder sterben. „Fahnenflucht“ wurde mit dem Tod bestraft. Zudem gab es in den Ritualbüchern einiger Bistümer Segnungen für Gewehre, Kanonen, Kugeln und so weiter. Wie sieht es in der orthodoxen Tradition aus? Im heutigen griechisch-orthodoxen Euchologion – so heißt das liturgische Buch für die Priester, das die Texte des Stundengebetes, der Eucharistie und der meisten übrigen Sakramente sowie zahlreicher Segnungen enthält – findet sich keine Waffensegnung. Es gibt jedoch serbische Ausgaben des Euchologions aus dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, worin es noch ein solches Ritual gibt und das auch im Bosnienkrieg verwendet worden ist. Im heutigen orthodoxen Euchologion begegnen wir anderen Ritualen für Kriegszeiten. Im „Bittkanon für die Hochheilige Mutter Gottes, wenn Krieg erwartet wird“ wird Maria gebeten, die Feinde niederzuwerfen. Wie Gott einst Pharao zerstörte, so sollten auch jetzt die „gottlosen Barbaren“ zerschmettert werden. Zudem gibt es im Euchologion acht lange Sondergebete. Darin wird Gott zunächst angefleht, endlich die Sünden seines Volkes zu vergeben. Diese Gebete stellen also einen Kausalverband zwischen den eigenen Sünden und dem von außen kommenden Elend fest. Weiters wird Gott hier gebeten, als Zeichen seines Erbarmens die Feinde zu unterwerfen und zu vernichten. Außerdem werden im (sich im Kleinen Euchologion befindlichen) „Gedächtnisgottesdienst für die im Krieg Gefallenen“ der Soldaten gedacht, „die in ihren heiligen Kämpfen für unseren Glauben und unser Vaterland ruhmreich kämpften und heroisch fielen“. In blumenreicher Sprache sagt der Priester unter anderem, dass Gott „unser Volk von einem Sieg zum anderen führt, von der einen Herrlichkeit bis zur nächsten leitet“, und dass die Gefallenen nicht nur bei den Menschen geehrt sind, sondern dass Gott sie auch als Heiligen im Himmel annehmen sollte. Kehren wir zur katholischen Tradition zurück. Im tridentischen römischen Messbuch, das 7 bis 1970 in der Katholischen Kirche verwendet wurde, finden wir zwei interessante Messformulare. Das erste heißt „Messe in Kriegszeiten“ (Missa tempore belli), das zweite „Messe um Frieden“ (Missa pro pace). In beiden Formularen wird um die Niederlage der Feinde und die Wiederherstellung des Friedens gebetet. Ein Gebet beinhaltet die Bitte um Schutz der christlichen Gebiete vor jedem Feind. Gott selber wird angerufen als derjenige, der Kriege vernichtet und diejenigen, die gegen die auf Gott Vertrauenden kämpfen, besiegt (Deus, qui conteris bella et impugnatores in te sperantium … expugnas). Gott wird auch als der Urheber und Liebhaber des Friedens dargestellt (auctor pacis et amator). Das Hauptanliegen dieser Messformulare ist zwar die Bitte um Frieden, sie setzen jedoch die eigenen Interessen und die Hoffnung auf den Militärsieg der eigenen Seite voraus. Im römischen Rituale ist ebenfalls die Möglichkeit einer Prozession in Kriegszeiten vorgesehen. Der Tenor der sich hier befindenden Texte ist ähnlich wie im Messbuch, einige Texte sind sogar wörtlich dieselben. Es wird hier jedoch auch ausdrücklich gebetet, dass, falls der Krieg gegen die „Feinde der heiligen Kirche“ (contra inimicos sanctae Ecclesiae) geführt wird, Gott diese Feinde erniedrigen wird. Es wäre relevant, auch die christliche darstellende Kunst, die liturgischen Hymnen und andere Kirchenlieder sowie die Predigtliteratur in Bezug auf unser Thema zu erforschen. Da würde man sowohl in der katholischen als auch in der orthodoxen Tradition noch vieles finden. Ein interessantes Beispiel betrifft das Te Deum Laudamus. Dieser an Gott gerichtete altchristliche Hymnus ist jahrhundertlang nicht nur für die Erhaltung von politischen Machtverhältnissen – vor allem in Bezug auf die Monarchie – sondern auch in militärischem Kontext – als Dankeslied nach einem Sieg, als Verherrlichung einer Schlacht – verwendet, ja missbraucht worden. Ähnliches gilt für die bekannte Liedfassung des Te Deum: „Großer Gott, wir loben dich.“ Weiters, als ich selber am Anfang der Achtzigerjahre an der orthodoxen Theologischen Fakultät in Thessaloniki studierte, erlebte ich einmal, dass zwei große politische Faktionen der Theologiestudierenden einander heftig mit Fäusten und Feuerwehrspritzen bekämpften und dass die siegende Seite – die Orthodox-Konservativen – nachher singend durch die Fluren der Fakultät marschierte. Das Lied, das dabei gesungen wurde, war eine bekannte Christushymne. 5. Die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien. B: Das orthodoxe Griechenland und das orthodoxe Patriarchat von Konstantinopel Lasst uns zu den jüngsten Balkankriegen zurückkehren. Aufgrund des Fernsehens und anderen Massenmedien sind übrigens diese Kriege mit ihren schrecklichen Details über die ganze Welt bekannt geworden und mit Schauder verfolgt worden. Auch dies ist ein wichtiger Aspekt der heutigen Globalisierung. Im orthodoxen südlichen Nachbarland Griechenland hegten viele griechische Bischöfe, Priester, Mönche, Nonnen und Theologen große Sympathie für Serbien und die serbischen Kriegsopfer. Als wichtigste Gründe dafür gab man die gemeinschaftliche orthodoxe Religion und den gemeinsamen Kampf gegen das Osmanische Reich an. Es wurden Hilfsaktionen organisiert und Güter, wie Decken und Nahrung, in die Notleidenden Gebiete gebracht. Radovan wurde in Griechenland als ein Held empfangen und er bekam von einigen Bischöfen hohe kirchliche Auszeichnungen. Eine breite Strömung in der griechischen Kirche betrachtete den Krieg, in dem Maße wie er seinen Verlauf nahm, immer mehr als einen Religionskrieg zwischen Katholiken, Muslimen und Orthodoxen. Die westeuropäische Presse wurde in der griechischen Presse bezichtigt, anti-serbische Gefühle sowie pro-islamische, pro-albanische und pro-kroatische Vorurteile zu entwickeln. Die Muslime von Bosnien und Kosovo wurden von zahlreichen Griechen oft für Handlanger ihres „Erbfeindes“, der Türkei, gehalten. Erzbischof Christodoulos von Athen nannte die NATO-Bombardierungen 8 serbischer Ziele im Frühling des Jahres 1999 “unmenschlich”, “hypokritisch” sowie ein Zeichen von “Hass gegen das heroische serbisch-orthodoxe Volk”. Manche Griechen, unter anderem Athosmönche, behaupteten, dass das römische Papsttum und die Türkei konspirierten, um den orthodoxen Balkan zu unterwerfen. Sie fürchteten, dass eine zahlenmäßig mächtige Türkei mit seinen angeblichen Verbündeten, nämlich den Muslimen in Albanien, Kosovo, Bosnien, Bulgarien und im griechischen Westthrakien, Hellas in die Enge treiben und schließlich verschlucken würde und dass die internationale Gemeinschaft, die nicht eingegriffen hatte bei der Besetzung Zyperns, auch Griechenland im Stich lassen würde. Es gab jedoch auch andere, kritische Stimmen. Verschiedene Priester und Theologen wiesen in Bezug auf den Balkan-Brandherd darauf hin, dass die Orthodoxie eine Herzenssache ist, dass es sich um den spirituellen Weg von Reinigung, Erleuchtung und Vergöttlichung handelte und nicht um den bewaffneten Kampf für nationale Interessen; dass es sich um Enthaltung und Askese handelte und nicht um Leidenschaften für zeitliche nationale Grenzen. Weiters betonten Professoren der Gesellschaft für Ökumenische Studien und Interorthodoxe Information (Hetairia Oikoumenikôn Meletôn kai Diorthodoxês Plêroforêsês) in Thessaloniki die interkonfessionellen und interreligiösen Kontakte und suchten den Dialog mit der muslimischen Gemeinschaft in Westthrakien. Welche Rolle spielte das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel bei den gewalttätigen und nationalistischen Feuerherden auf dem Balkan? Im Prinzip messen ja sämtliche orthodoxe Kirchen Konstantinopel einen Ehrenprimat bei. Auch aufgrund des heutigen Selbstverständnisses von Konstantinopel - nämlich, dass es der „erste Stuhl“ (prôtothronos) innerhalb der universellen Orthodoxie ist, dass es Einheit stiftet, Initiativen ergreift und bei Problemen versucht zu vermitteln – wäre die Erwartung berechtigt, dass dieses Patriarchat sich zu Wort melden würde. Ich nenne hier einige wichtige Beispiele. Schon vor vierzehn Jahren, nämlich im März 1992, hatte das Patriarchat im Phanar in Istanbul eine synaxis der Primaten der orthodoxen Kirchen organisiert. Der Ausdruck synaxis bedeutet sowohl Versammlung als auch liturgische Zusammenkunft. Dort bedauerten die Primaten den Bruderzwist zwischen den Serben und den Kroaten und wiesen auf die Notwendigkeit von Wachsamkeit und Weisheit für sich selbst und für die Leiter der Römisch-Katholischen Kirche hin, um zu vermeiden, dass religiöse Gefühle für politische und nationale Zwecke missbraucht würden. Zwei Jahre später, im Februar 1994, veranstaltete das Patriarchat in Istanbul eine internationale Konferenz über Frieden und religiöse Toleranz. Vertreter von Christentum, Islam und Judentum beteiligten sich. Das Ziel dieser Konferenz war es zu zeigen, dass die drei monotheistischen Religionen für den Erhalt von Frieden und Toleranz in einer Welt von nationalistischen Konflikten zusammenarbeiten können. Im „Bosporusmanifest“, das ein Ergebnis dieser Konferenz war, wurde ausgesagt, dass ein Verbrechen im Namen der Religion in Wirklichkeit ein Verbrechen gegen die Religion und dass „ ... der Krieg im ehemaligen Jugoslawien kein Glaubenskrieg ist und dass Appelle und Ausnutzung von religiösen Symbolen, um einen aggressiven Nationalismus zu fördern, die Universalität des christlichen Glaubens verraten.“ Man rief zur Unterstützung der Flüchtlinge, vor allem der Kinder, auf. Krieg, Mord, Vergewaltigungen und ethnische Säuberungen wurden verurteilt. Auch bei einer zweiten synaxis der orthodoxen Kirchenführer, diesmal auf der Insel Patmos im September 1995, wollten sie der westlichen Kritik erwidern, dass die enge Beziehung in der Orthodoxie zwischen Kirche und Volk in reichem Maße zum Balkankrieg beigetragen hatte, und sagten: „ ... wir möchten allen deutlich machen ..., dass die orthodoxe kirchliche Auffassung von der ‘Nation’ keineswegs das Element des Angriffs und des Zusammenstoßes zwischen den Völkern enthält. Vielmehr bezieht es sich auf die 9 Besonderheiten eines jeden von diesen Völkern, auf deren heiliges Recht, den Reichtum ihrer Tradition zu bewahren und zu pflegen … Aus diesem Grund verurteilen wir jeglichen nationalistischen Fanatismus, der zur Spaltung und zum Hass unter den Menschen, zur Verfälschung oder Vernichtung kultureller und religiöser Besonderheiten anderer Völker der Erde … führen kann.“ Während der Kosovokrise rief Patriarch Bartholomaios – seit Juni 2004 Ehrendoktor der Universität Graz – alle Parteien zu Verhandlungen auf und warnte sie, Religion und Nation nicht miteinander zu verwirren. Weiters rief er – gemeinsam mit anderen christlichen Kirchen und Weltreligionen – im so genannten „Brüsselermanifest“ aus dem Jahr 2001 zu Toleranz und Frieden auf. Alles in allem stellen der Balkankonflikt sowie das Verhältnis zwischen Kirche und Nationalismus äußerst schwierige Aufgaben dar, deren Lösung zugleich außerordentlich dringlich ist. Man könnte sich auch fragen, ob Kirchen in der heutigen Zeit überhaupt noch in der Lage sind, wesentliche Beiträge zum Frieden in Konflikten zu leisten und ob diese Beiträge von der übrigen Gesellschaft ernst genommen werden. Verschiedene nichtkroatische und nicht-serbische Gelehrte sind der Meinung, dass die christlichen Kirchen im ehemaligen Jugoslawien zu wenig aufgeschlossen füreinander waren. Sie legen dar, dass, obgleich es wiederholte Begegnungen der Kirchenführer gab und schöne und friedfertige Erklärungen abgefasst worden sind, diese den Ablauf des Kampfes nicht beeinflussen haben können. Der amerikanische Politologe Samuel Huntington legt in seinem viel besprochenen Buch The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order dar, dass es selbstverständlich ist, dass die orthodoxen Länder sich während der jüngsten Balkankriege solidarisch mit Serbien erklärten, weil sie alle zur gleichen orthodoxen Kultur gehören. Wenn diese Bemerkung auch größtenteils richtig ist, ergibt es sich doch, dass es in den orthodoxen Reaktionen zu diesen Kriegen auch erhebliche Unterschiede gibt. Es existiert eine Linie interorthodoxer Solidarität im Kampfe, und es existiert eine Linie, welche die universelle Dimension der Religion, ohne jedwede Diskriminierung, betont. Einige Orthodoxe akzentuieren die enge Beziehung zwischen Kirche, Vaterland und Volk. Andere betonen den inneren Weg des Herzens und verwerfen den Nationalismus auf Grund seiner Exklusivität. Es gibt aber auch asketische und spirituelle Kirchenleiter, die die Kriegsgewalt rechtfertigten. Kehren wir nun wiederum zur Liturgie zurück. 6. Heutige liturgische Texte über Frieden und Gewalt In der heutigen byzantinischen Liturgie gibt es auf der einen Seite zahlreiche Texte, die auf den Frieden stiftenden Charakter dieser Liturgie hinweisen. Am Anfang jeder Eucharistiefeier betet die Orthodoxe Kirche in ihrer „Friedenslitanei“ um “den Frieden von oben” sowie um “Frieden für die ganze Welt”. Es gibt Fürbitten um Bewahrung vor dem Krieg und für die Befreiung von Kriegsgefangenen. Der Hauptzelebrant wünscht der Gemeinde wiederholt den Frieden („Frieden für alle“). Der Liebesgruß wird heutzutage leider nur noch von den Zelebranten vorgenommen. (Bis zum mittelbyzantinischen Zeitalter war der Liebesgruß auch für das Volk üblich, aber dann verschwand dieser schöne Brauch.) Es gibt spezielle Bittgottesdienste um Frieden. Gott wird als der Friedenskönig und Schenker von Versöhnung angerufen. In der orthodoxen Liturgie handelt es sich um Reinigung, Umgestaltung des Inneren und Teilnahme am himmlischen Gastmahl, am Reich Gottes der Gerechtigkeit und Liebe. Der langmütige Gott wird wiederholt um Erbarmen angefleht: Kyrie eleïson, schon 40 Mal, sogar – wie es in den liturgischen Büchern heißt – “nochmals und 10 abermals…”. Auf der anderen Seite wurde jahrhundertlang ebenfalls um Siege der Kaiser und des “Christusliebenden” Heeres (filochristos stratos) gebetet. Illustrativ dafür ist ein Vers, der auch heutzutage noch gesungen wird, im Besonderen bei Segnungsfeiern – nämlich bei der „Kleinen Wasserweihe“ – und an den Festen der Kreuzerhöhung (am 14. September) und der Kreuzverehrung (am dritten Sonntag der Großen Vierzigtagezeit). Der Vers lautet: “Rette, Herr, dein Volk und segne dein Erbe [Psalm 27, 9; Septuaginta]. Schenke den Kaisern Siege über die Barbaren und behüte deinen Staat durch dein Kreuz.” Heutzutage wird das Wort ‘Kaisern’ (basileusi) oft durch das Wort ‘Frommen’ (eusebesi) ersetzt. Die Silbenzahl ist dieselbe und die beiden Wörter hören sich ziemlich gleich an. Es handelt sich jedoch um eine kreative Notlösung. Der Pazifismus steht beim griechischen Episkopat zum Beispiel bestimmt nicht in Gunst. Gewissenswehrdienstverweigerer werden oft als Vaterlandsverräter betrachtet. Und der griechische Verteidigungsminister bespricht große Waffenankäufe meistens auch mit dem Athener Erzbischof. Wie steht es mit unserem Thema in der heutigen katholischen Liturgie? Im nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil erneuerten Pontifikale gibt es keine Texte zur Segnung von Waffen mehr. Sie sind gestrichen worden. Weiters sind im neuen römischen Messbuch die beiden schon genannten Messformulare völlig überarbeitet worden. Das erste Formular heißt nun „Messe für die Bewahrung von Frieden und Gerechtigkeit“ (Missa pro pace et iustitia servanda), das zweite heißt noch „Messe in Kriegszeiten“. Die Ausrichtung der Gebete ist jetzt, es solle Frieden für alle Menschen geben, nicht nur für die Katholiken oder die Christen. Alle Menschen sind ja miteinander verwandt. Zudem kann Frieden nur durch Gerechtigkeit, nicht durch Waffen zustande kommen. Bezeichnend ist hier folgender Satz aus einem der Gebete: „Gib uns (Gott) die Bereitschaft, immer und überall für die Gerechtigkeit einzutreten, die allein den wahren Frieden schafft.“ Laut dem Messbuch tauschen in jeder Eucharistiefeier die Teilnehmenden mit einander den Friedensgruß aus. (In Nordeuropa geschieht dies jedoch kaum.) Danach wird zum „Lamm Gottes“ gebetet, sich zu erbarmen und den Frieden zu schenken. Nicht nur in ihrer Liturgie, sondern auch in anderen Bereichen betont die Führung der Katholischen Kirche zurzeit den Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden, wie dies in päpstlichen Enzykliken und in Organisationen, wie zum Beispiel Iustitia et Pax und Pax Christi, zum Ausdruck kommt. Statt des gerechten Krieges wird der gerechte Frieden betont. Der Rüstungswettlauf wird verurteilt. Der von den USA geführte Irakkrieg ist scharf abgelehnt worden. Am ersten Fastensonntag im Jahre 2000 erklärte Papst Johannes Paul II. öffentlich in einem Schuldbekenntnis und einer Vergebungsbitte: „Oft haben die Christen das Evangelium verleugnet und der Logik der Gewalt nachgegeben. Die Rechte von Stämmen und Völkern haben sie verletzt, deren Kulturen und religiösen Traditionen verachtet.“ Zudem bat dieser Papst bei seinem Griechenlandbesuch im Mai 2001 – ich war selber als Berichterstatter dabei – in Anwesenheit der orthodoxen Kirchenführung, Gott um Vergebung für die von Katholiken an Orthodoxen verübten Missetaten. Im Jahr 2004 bat er wiederum die Orthodoxen um Vergebung, nun für die Einnahme und Plünderung Konstantinopels achthundert Jahre zuvor, nämlich im Jahre 1204, durch westliche Kreuzfahrer. Im Herbst 2004 wurden die Reliquien der bedeutenden Heiligen und Erzbischöfe von Konstantinopel, Johannes Chrysostomus und Gregorius von Nazianz, die bei der gerade erwähnten Plünderung von den Kreuzfahrern gestohlen worden waren und sich in Rom befanden, vom Papst dem Ökumenischen Patriarchen zurückgegeben. Zudem initiierte die katholische Kirchenführung die interreligiösen Friedensgebete von Assisi, wo Vertreter der großen Weltreligionen einander begegnen. 11 Natürlich ist auch in der Katholischen Kirche nicht alles eitel Wonne, was das Thema von Frieden und Gewalt betrifft. In den Neunzigerjahren wurden auch in Kroatien zum Beispiel noch Panzerwagen unter lauter Beifall gesegnet. Ebenso wenig ist es richtig, zu behaupten, dass im Gegensatz zur Katholischen Kirche, die Orthodoxe Kirche eine Kirche der Gewalt ist. In beiden Kirchen finden wir sowohl Einsatz für Frieden als auch die religiöse Legitimierung von Gewalt vor. Was auf der einen Kirchenebene schon üblich ist, ist auf der anderen noch überhaupt nicht rezipiert worden. 7. Schluss Ich komme zum Schluss. Das rituell-liturgische „Benehmen“ und die zwischenkirchlichen Beziehungen lassen sich vom gesellschaftlichen Kontext nicht isolieren. Wenn die Gesellschaft gewalttätig ist, soll man sich nicht wundern, wenn sich das in den kirchlichen Riten niederschlägt. Die Liturgie und die Ökumene sollten dennoch auch kritische Funktionen ausüben. Sie sollten die biblischen Visionen von Frieden und Gerechtigkeit fördern. Wie gesagt, nehmen in fast allen Religionen Riten einen zentralen Platz ein. Wenn das Zweite Vatikanische Konzil darlegt, die Liturgie sei „Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“, dann wird damit religionswissenschaftlich nichts Außergewöhnliches gesagt. Gerade weil der Gottesdienst so wichtig war und in unserer modernen Gesellschaft teilweise noch immer ist, haben Aussagen in der christlichen Liturgie, die Gewalt forcieren, eine verheerende Wirkung auf Haltung und Benehmensmuster der Christen und Christinnen. Aber die Verteufelung der „Feinde der Kirche“ im Gottesdienst ist gewiss nicht die Lösung. Die Lösung liegt eher im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich, zum Beispiel in Armutsbekämpfung, Bildung, zwischenstaatlichen Freundschaften, Aufhebung von Diskriminierung usw. Die christlichen Riten sollen die Begegnung der Gläubigen mit dem unsichtbaren, lebenden Gott ermöglichen sowie die Vision von der Befreiung durch Gott aus dem Sklavenhaus vermitteln, die Vision von Freiheit, Essen und Unterkunft für alle, Leben in Frieden und Gesundheit, Erbarmen und Versöhnung, die Vision einer neuen Welt und einer ständigen Aktualisierung des Bundes Gottes mit den Menschen. Diese Vision, die Utopie der Schalom sprengt alle Ausgrenzungen von zu Unrecht Verfolgten und Unterdrückten. So kann die Liturgie statt Unrecht Frieden forcieren. Jesus selber wurde gewalttätig umgebracht. Die christliche Kirche glaubt, dass Gott ihm trotzdem die Treue hielt. Die Überzeugung, dass in der Ohnmacht auch Kraft liegen kann, sollte auch die Liturgie und die Ökumene inspirieren. 12