Artikel erschienen am 10.02.2007 SACHBUCH Alles drängt zur Demokratie Demokratie ist nach Volker Gerhardt nicht nur die bestmögliche Staatsform, sondern auch die einzig logische: Der Philosophie-Professor der Freien Universität Berlin entwirft eine Politiktheorie, nach der alles auf die Demokratie hinausläuft - und hinauslaufen muss. Von Julian Nida-Rümelin Partizipation - das Prinzip der Politik" Dies ist der programmatische Titel des neuen Buches von Volker Gerhardt. Es stellt die systematische Frage nach dem Spezifikum der Politik: Was ist Politik und wie verhält sie sich zum Recht und zur Moral? Das Prinzip der Partizipation grenzt laut Gerhardt die Politik sowohl von der Moral wie vom Recht ab - so eng die Verbindungen zwischen diesen drei Dimensionen in der Geschichte des politischen Denkens und der politischen Praxis auch sind. Dieses von Umfang und Inhalt her gewichtige Werk steht in engem systematischen Zusammenhang mit Volker Gerhardts Ethik der "Selbstbestimmung"(1999) und mit seinen Überlegungen zur "Individualität" (2000). Es streift durch die politische Ideengeschichte von der Antike bis zur Gegenwart - fast keiner der großen Denker des Politischen bleibt unerwähnt. Aber der Duktus ist nicht historisch, sondern systematisch. Es geht um die Kernfrage, was das Politische eigentlich ausmacht, und die Antwort Gerhardts lautet: Es ist die Partizipation, die Teilhabe des Einzelnen am politischen Körper, an der politisch konstituierten Gemeinschaft. Die Autonomisierung des Politischen wird in immer neuen Facetten und unter unterschiedlichen Perspektiven nachgezeichnet. Ihr Fundament liegt in der Eigenständigkeit des Individuums. "Wir sind überzeugt, dass sie (die Politik, d. Red.) es im liberalen Parlamentarismus auf der Grundlage des Menschenrechts endlich gefunden hat, ohne damit jedoch in ihrer Entwicklung an ein Ende gekommen zu sein", schreibt Gerhardt in der Einleitung. Er spricht von einer "Linearität", die alle Zeitalter trägt und verbindet: "Mag sich die Zeit im Großen und Ganzen in kosmischen Kreisen drehen, der Mensch nimmt sich das Kontinuum seiner eigenen Geschichte heraus, um es in aufsteigender Linie zu deuten. Nur so kann sich der Mensch in seiner Ursächlichkeit begreifen." Eine Form skeptischer Geschichtsteleologie, existenziell notwendig, wenn auch empirisch möglicherweise unbegründet. Man kann Gerhardts Geschichtsteleologie auch als eine humanistische Perspektive charakterisieren, die ohne historizistische Unterfütterung bestehen könnte. Das Buch Gerhardts zeugt von einer immensen Belesenheit. Von Xenophons "Anabasis" bis zu Rawls' politischem Liberalismus - so gut wie alle Klassiker des politischen Denkens werden an der einen oder anderen Stelle in den Gedankengang eingewoben, fast alle Themen der politischen Philosophie scheinen auf: von der anthropologischen Grundlegung aller Politik in Individualität und Selbstbestimmung bis zum Laboratorium Europa. Diese historische und theoretische Tiefendimension verbindet sich bei Gerhardt mit einer rational gezügelten, aber doch existenzialistischen Haltung. Er kritisiert das Ausbleiben einer philosophischen Rehabilitierung der Gegenwart. Heidegger, Jaspers, auch Hannah Arendt seien der "Gegenwart des individuellen Daseins", der "punktuellen Spitze der Zeit im Augenblick der Gegenwart" nicht wirklich gerecht geworden. Dieser existenzialistische Impuls führt bei Gerhardt weit über Nietzsche hinaus, er endet nicht in der bloßen Selbstbehauptung des Einzelnen, sondern führt in die Konfrontation mit der Wahrheitsfrage in der Politik. Das Werk ist einem strengen Strukturprinzip unterworfen. Es gliedert sich in zehn Kapitel, die sich jeweils mit dem Verhältnis zweier Grundbegriffe der Theorie der Politik befassen. "Autonomie und Partizipation": Hier werden die leitenden Gedanken exponiert. "Idee und Realität": Hier wird die Methode zwischen Normativität und Empirie erläutert. "Physis und Nomos": Hier wird auf rund 50 Seiten die Geschichte des politischen Denkens in der Spannung von Setzung (nomos) und Natur (physis) geschildert. "Koexistenz und Korrespondenz": Hier wird die Angewiesenheit der Politik auf die Natur, die menschliche Natur einschließlich ihrer kulturellen Ausprägungen und die natürlichen Lebensbedingungen dargestellt. "Kooperation und Organisation": Hier wird die Gesellschaft als eine Form von Natur charakterisiert, in der die wechselseitige Erhaltung und Entfaltung eigenständiger Individuen möglich ist und schließlich politische Institutionen ermöglicht. Gerhardt wendet sich in diesem Zusammenhang gegen die vermeintliche Opposition von praxis und poesis, wie sie in Anschluss an Hannah Arendt sowohl in der Ritter-Schule wie in der kritischen Theorie verbreitet ist. Die technische Rationalität wird als unverzichtbarer Teil entwickelter gesellschaftlicher Organisation rehabilitiert. Auch für die politische Partizipation spielt das Selbstbewusstsein, der Wechsel von Objektivität und Subjektivität, der dem Menschen erlaubt, von "Ich" zu sprechen, die zentrale Rolle. "Das Ich grenzt sich gegenüber seinesgleichen von seinesgleichen ab. Insofern erfolgen Individualisierung und Sozialisierung in einem einzigen Akt." Gerhardt greift auf die Metapher der polis als makroanthropos, als "großgeschriebener Mensch" zurück: "In der Gesellschaft nimmt sich der Handelnde daher auch nach Art eines organischen Ganzen des Organismus wahr, der selbst wiederum nur nach dem Modell einer arbeitsteiligen Gesellschaft begriffen wird." Individualität und Selbstbewusstsein sind keine Erfindung der Moderne, sie haben ihre Anfänge in der Autarkie-Orientierung der griechischen Klassik. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Personen und Institutionen, der das sechste Kapitel nachgeht und dessen zentrale These lautet: "Die Person versteht sich nach Art einer Institution, die ihrerseits nur nach Art einer Person zu begreifen ist." Die Person wird als diejenige Instanz charakterisiert, "über welche die Vernunft praktisch werden kann" - dies macht ihre spezifische Würde aus. Politische Institutionen gehen aus absichtsvollen Handlungen hervor, sie sind als thesis zu verstehen, die lediglich aufgrund ihres Alters gelegentlich für physis gehalten werden. Über Institutionen repräsentiert sich die politische Ordnung. In der institutionellen Repräsentation entsteht im günstigen Fall die innere Kohärenz und die existenzielle Verbindlichkeit, ohne die sich die Einzelnen nicht identifizieren könnten und keine Verpflichtungen - in Grenzfällen auf Leben und Tod - eingehen würden. Obwohl Gerhardt sich erstaunlich scharf gegen den wohl einflussreichsten politischen Philosophen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, John Rawls, wendet, dessen späte Ausformung der Theorie der Gerechtigkeit als eine Rekonstruktion öffentlichen Vernunftgebrauchs in westlich-liberalen Gesellschaften zu verstehen ist, betont Gerhardt die zentrale Rolle der Gründe in der Politik. Die dort entwickelten Bestimmungen im Einzelnen machen Gerhardt zu einem Vertreter deliberativer Demokratie, was diejenigen überraschen mag, die die immer wiederkehrenden Bezugnahmen auf das antike Politikmodell als anti-modern missverstehen. Gründe haben "die Funktion der Herstellung allgemeiner Geltung im öffentlichen Raum, und ihr Spezifikum liegt in ihrem Bezug auf ein als handlungsfähig angesehenes gesellschaftliches Ganzes, von dem die Wahrung einer kulturellen Form des Lebens erwartet wird. Es gibt keinen anderen Bereich der menschlichen Realität, der in so umfassender Weise auf Gründe angewiesen ist, wie den der Politik." Die Institutionalisierung des Politischen verbindet Recht und Politik in untrennbarer Weise und gründet beides auf die Prämissen der Freiheit, der Gleichheit und der Eigenständigkeit der Personen. Aufgabe der Politik ist die Erhaltung und Entfaltung einer kulturellen Lebensform, und diese Aufgabe kann sie nur erfüllen, wenn sie sich als Schutzmacht des Rechts erweist. Dies ist jedenfalls die zentrale These des achten Kapitels "Legalität und Repräsentativität". Etwas überraschend reiht sich hier Gerhardt in die gegenwärtig die öffentliche Debatte dominierende Sozialstaatskritik ein. Überraschend deswegen, weil die zeitgenössische Form der Sozialstaatskritik nicht mehr nur die von konservativen Theoretikern immer betonte natürliche Ungleichheit der Menschen betont, sondern den Primat des Ökonomischen in Anschlag bringt. Dies sei das eigentlich zentrale System, die Politik müsse lediglich die Rahmenbedingungen bereit, und sie tendiere in ihren partizipatorischen Ansprüchen dazu, die Effizienz des Marktes durch die Logik der Teilhabe aller auch an den Früchten der Kooperation zu ersetzen. Das von Gerhardt mit überzeugenden Gründen dargestellte Primat der Politik erscheint ohne die Option einer politisch gestalteten Teilhabe an den Kooperationsgewinnen, unvollständig. Zumindest in Mittel- und Nordeuropa hat erst der Ausbau sozialstaatlicher Teilhabe die Identifikation der gesamten Bürgerschaft mit dem sozialstaatlich und demokratisch verfassten Institutionengefüge ermöglicht. Partizipation als Prinzip der Politik kann die sozialstaatliche Gestaltung der Teilhabe nicht ausklammern. Überlegungen, wie sei von Ökonomen gerne angestellt werden, dass die über den idealen Markt herzustellende Pareto-Effizienz in Abhängigkeit von Nutzen- und Produktionsfunktionen, von politischen Institutionen und Interventionen möglichst freizuhalten sei, lassen sich in ein pragmatisches und holistisches Politikverständnis, wie es im neunten Kapitel überzeugend entwickelt wird, nicht integrieren. Die Politik kann sich aus der Umklammerung durch "szientifische oder biologische Systeme" nur über die eigenständige Leistung der Urteilskraft lösen. Die normative Perspektive, in der für Gerhardt das Prinzip der Partizipation steht, kommt erst im letzten Kapitel "Moralität und Humanität" zur vollen Entfaltung. Es handelt sich um eine normative Theorie des Politischen, für die die Demokratie, wie wir sie heute kennen, als gemischte Verfassung die beste aller Staatsformen ist, deren institutionelle Repräsentationen auf den moralischen Prinzipien der Humanität beruhen. Ihre zentrale Tugend ist die Wahrhaftigkeit. Die Prinzipien der Humanität beruhen auf der menschlichen Fähigkeit, sich Zwecke der Vernunft zu setzen. Vernunft hat der Mensch allerdings nur, sofern er als Individuum zur menschlichen Kultur gehört. Dieses universelle Merkmal der Menschennatur rechtfertige es, Humanismus als Leitkultur des global handelnden Menschen zu verstehen. Gegen die Humanitätsskepsis eines Nietzsche oder Sloterdijk setzt Gerhardt die sich in der abendländischen Geistesgeschichte immer wieder zur Geltung bringende Orientierung an Humanität seit der Antike in den unterschiedlichen Humanismen. Aber erst mit der "Erhebung des Menschenrechts in den Verfassungsrang wird die Humanität zu einer politischen Realität, die auf den ganzen Erdkreis bezogen ist". "Der jahrhundertelang nur gedachte, nur im persönlichen Umfeld oder im regionalen Kontext praktizierte Begriff der Humanität" solle endlich eine bewusst betriebene weltweite Reichweite erhalten. Gerhardts und meine Auffassungen stimmen hier in einem Maße überein, welches angesichts der ganz unterschiedlichen philosophischen Prägungen verwundern muss. Gemeinsam ist uns auch die Opposition gegen den Mainstream in der politischen Philosophie der Gegenwart, wonach die Wahrheit in der Demokratie jedenfalls keinen Ort habe und Wahrheitsansprüche diese gefährdeten Ein deutscher Universitätspräsident habe unlängst den Geisteswissenschaftlern geraten, sie sollten endlich davon ablassen, Monografien zu schreiben. Wenn er ein zusätzliches Motiv benötigt hätte, dann wäre "die Rede dieses sehr weit über den Wissenschaften stehenden Herrn ein zusätzlicher Grund gewesen", schreibt Volker Gerhard im "Beschluss" des Buches, um dann so knapp wie möglich seine wesentlichen Gedanken auf sieben Seiten zusammenzufassen. Wie wichtig es ist, dass Geisteswissenschaftler nach wie vor Monografien schreiben, zeigt dieses Buch. Es traktiert eine Thematik, die in kurzen Aufsätzchen nicht angemessen zu behandeln ist und die selbst in dieser fast 500 Seiten benötigenden Form noch immer an manchen Stellen kursorisch wirkt. Das Werk ist bei allen Exkursen in die Geschichte politischen Denkens und politischer Praxis, bei der Vielfalt der Bezüge zu philosophischen Theorien und literarischen Texten zusammengehalten durch die eine leitende Idee der Partizipation als Prinzip der Politik. Es ist kompakt, wie nur wenige Bücher dieses Umfangs, und es fällt schwer, die Lektüre zu unterbrechen, wenn man einmal damit begonnen hat. Es widerlegt eindrücklich die Empfehlungen des genannten Universitätspräsidenten. Artikel erschienen am 10.02.2007 WELT.de 1995 - 2007