Die Stellungnahme als Word-Dokument zum

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Zur allgemeinen Lebenssituation
von Frauen mit Behinderung
– hier vorrangig Frauen
mit Körper- und Sinnesbehinderungen –
Stellungnahme des
Netzwerks Frauen und Mädchen mit Behinderung NRW
für die Enquetekommission
„Zukunft einer frauengerechten Gesundheitsversorgung in NRW“
des Landtags Nordrhein-Westfalen
2001-2002
Inhaltsübersicht
1.
Vorwort ......................................................................................................................... 2
2.
Zur gesundheitlichen Lebenssituation behinderter und chronisch erkrankter
Frauen in NRW und die zukünftigen Anforderungen an einen
geschlechterspezifischen Landesgesundheitsbericht NRW .................................... 2
3.
Daten zu gesundheitlichen Lebenssituation behinderter und chronisch
erkrankter Frauen ........................................................................................................ 3
4.
Anforderungen an eine zukünftige Gesundheitsberichterstattung ......................... 5
A Defizite bei der Gesundheitsversorgung von Frauen mit Behinderung und
/oder chronischen Erkrankungen ............................................................................... 7
1. Herz- und Kreislauferkrankungen .......................................................................... 7
2. Medizinische Versorgung ....................................................................................... 7
3. Hilfsmittel ............................................................................................................... 7
4. Kurmaßnahmen und Prävention ............................................................................ 8
5. Orthopädie und Gynäkologie ................................................................................. 8
6. Beratung ................................................................................................................ 9
7. Mädchen ................................................................................................................ 9
B Gesundheitliche Versorgung von Frauen mit Behinderung nach (sexualisierter)
Gewalterfahrung .......................................................................................................10
C Pflege und Assistenz unter Berücksichtigung des gesundheitlichen Aspekts für
Frauen mit chronischer Erkrankung und/oder Behinderung ......................................11
D Die Situation von Müttern mit Behinderung unter Berücksichtigung des
gesundheitlichen Aspekts .........................................................................................13
1
1. Vorwort
Das Netzwerkbüro organisierte und nicht organisierte Frauen und Mädchen mit
Behinderungen NRW und das Netzwerk von Frauen und Mädchen mit Behinderungen NRW
arbeiteten im Jahr 2001 vorrangig zur gesundheitlichen Lebenssituation von Frauen mit
Behinderungen und chronischen Erkrankungen NRW. Dieser Themenschwerpunkt wurde
gewählt, da die gesundheitliche Lebenssituation behinderter und schwer chronisch
erkrankter Frauen, die in der Mehrheit im Netzwerk von Frauen und Mädchen mit
Behinderungen vertreten sind, in Wissenschaft und Forschung aber auch in Politik und
Verwaltung ungenau oder gar nicht erfasst und von daher nicht bekannt sind.
Der Wunsch vieler betroffener Frauen und auch Mädchen nach Transparenz und Struktur in
diesem umfassenden Lebensbereich ist enorm hoch, sind doch die gesundheitlichen
Lebensbedingungen, im ganzheitlichen Sinne, bei behinderten und chronisch erkrankten
Frauen um ein vielfaches komplexer und von daher auch differenzierter zu handhaben.
Was wirkliche Hilfe und Unterstützung ist, was sie wirklich brauchen – in welcher Zeit und zu
welcher Zeit – wissen die meisten Frauen und auch Mädchen, wenn sie mit entscheiden
könnten und gut beraten wären, meistens selbst. Nach unseren Erfahrungen beschweren
sich die betroffenen Frauen nicht generell über eine schlechte Versorgung im
Gesundheitswesen, sondern eher über eine Unter-, Über- und Fehlversorgung, die in der
Regel besonders bei behinderten und chronisch erkrankten Frauen langfristig vermehrt
Kosten nach sich ziehen.
Die gemeinsame Klage der betroffenen Frauen ist, in der Regel, gegen die
Unverständlichkeit - und auch Unzumutbarkeit - von gesetzlich festgelegten
Verwaltungsentscheidungen gerichtet, wie z.B. der von Krankenkassen, den
Rentenversicherungsträgern etc. die vermehrt eine wirksame Unterstützung und Hilfe zu
spät, falsch oder im schlimmsten Fall gar nicht bewilligen. Hier sei besonders der Mangel an
Unterstützung für Präventionsmaßnahmen wie Rehabilitationsmaßnahmen deutlich benannt.
Die Frauen des Netzwerks sind verstärkt daran interessiert an der entstandenen
gesellschaftspolitischen Diskussion über die gesundheitliche Lebenssituation von Frauen
mitzuarbeiten und die speziellen Belange vorzutragen. Auf der Plenumssitzung des
Netzwerks im November 2001 wurde deutlich, wie wichtig gesellschaftliche Teilhabe und
auch Mitbestimmung in dieser Diskussion sind.
2. Zur gesundheitlichen Lebenssituation behinderter und
chronisch erkrankter Frauen in NRW und die zukünftigen
Anforderungen an einen geschlechterspezifischen
Landesgesundheitsbericht NRW
Im Frühjahr 2001 veröffentlichte das Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und
Gesundheit NRW seinen ersten Geschlechter differenzierten Gesundheitsbericht. In dieser
umfangreichen Analyse sind unterschiedliche Lebensbereiche auf ihre gesundheitlichen
Bedingungen hin untersucht worden.
Die Analysen und Daten sind unseres Erachtens sehr aufschlussreich, auch sehr zutreffend
und geben einen guten Eindruck von der gesundheitlichen Lebenssituation von Frauen
wieder.
2
Jedoch: Leider sind in dem Gesundheitsbericht die Gruppen der behinderten Frauen
und der chronisch erkrankten Frauen nicht aufgegriffen worden. Im
Gesundheitsbericht ist diese Lücke in der Berichterstattung positiverweise auch
selbstkritisch formuliert worden.
Wie anzunehmen war, wurde dieser Themenkomplex aus Gründen fehlender empirischer
Untersuchungs- und Forschungsergebnisse und fehlender geschlechterspezifischer
Theorieansätze zur gesundheitlichen Lebenssituation behinderter Frauen und Männer
ausgespart. Sie soll jedoch in eine zukünftige Gesundheitsberichterstattung eingeplant
werden.
Aufgrund dieser Tatsachen hat das Netzwerkbüro/Netzwerk eine Stellungnahme für eine
zukünftige Gesundheitsberichterstattung verfasst und die, anlässlich einer Anhörung im
Landtag im Frühjahr 2001, den dort anwesenden Personen zukommen lassen. Der
vollständige Text ist in der letzten Zeitung „mittendrin“ nachzulesen.
3. Daten zu gesundheitlichen Lebenssituation
behinderter und chronisch erkrankter Frauen
Während der Vorbereitungen zum Thema haben wir feststellen müssen, dass leider nur
einige Forschungsarbeiten, wie die Untersuchung der Lebenssituation
contergangeschädigter Frauen der WWU Münster sowie auch die LIVE Studie, Anteile
enthalten, die die gesundheitliche Lebenssituation analysieren und wichtige Daten aufzeigen
können. Breiter angelegte Untersuchungen sind tatsächlich leider nicht vorzufinden.
Zuallererst werden jetzt einige Daten aus den Untersuchungen aufgezeigt, die relevant
sind und Anknüpfungspunkte für weitere Untersuchungen sein können. Vorab
möchten wir hier die Darstellung der typischen – in der Live Studie – befragten
Profilfrau skizzieren. Sie ist hauptsächlich mit den Frauen vergleichbar, die das
Netzwerk von Frauen und Mädchen mit Behinderungen in NRW vertritt.
Bei den beiden genannten Untersuchungen ist zu beachten, dass in den Studien
ausschließlich körper- und sinnesbehinderte Frauen zum Teil mit einem geringeren Grad der
Behinderung befragt wurden und leider schwerstbehinderte Frauen sowie geistig behinderte
Frauen nicht Gegenstand der Untersuchungen sind. Von daher bezeichnen wir die LIVE
Studie auch als „nicht repräsentativ“ für die Gesamtlage behinderter Frauen.
Jedoch:
Laut Aussage der LIVE Studie gibt es offenkundig für behinderte Frauen keinen
Lebensbereich, in dem sich niemand „stark“ beeinträchtigt fühlt. Es zeigt sich, dass die
schwierigsten Lebensbereiche diejenigen sind, die mit Mobilität, körperlicher Beweglichkeit,
verbunden sind. Diese sind: Beruf, Fortbewegung, Freizeitgestaltung, Reisen. Eingeschränkt
fühlen sich auch viele Frauen in den Bereichen Mutterschaft, Ausbildung und soziale
Kontakte. Als problematisch wird dabei die Arbeitssituation, die Arbeitssuche und die
finanzielle Lebenslage benannt. Denn die finanzielle Lebenssituation ist bescheiden, liegt
doch das monatliche persönliche Nettoeinkommen durchschnittlich bei ca. 1.785.- DM (ca.
912.-Euro) Dabei ist mit Abzügen von durchschnittlichen Kosten für behinderungsbedingte
Abgaben in Höhe von durchschnittlich ca.150.-Euro im Monat zu rechnen. 87% dieser
Frauen müssen diese zahlen.
Besonders problematisch wird die Lebenssituation dann, wenn behinderte Frauen
gesundheitliche Krisen erleiden, denn dann wird die Abhängigkeit von Hilfe und
Unterstützung deutlich. Behinderte Frauen brauchen vermehrt Hilfen beim Haushalt,
3
Einkaufen, Kinderversorgung, Ausgehen etc. Assistenz bis hin zur körperlichen Pflege
werden dann schnellstens und oft dauerhaft notwendig. Wie zu ersehen ist, gehören
helfende Personen in der überwiegenden Mehrheit zum eigenen privaten Familienkreis. Nur
ca. 6 % werden von professionellem Pflegepersonal unterstützt.
Laut LIVE Studie ist es auch so, das Selbsthilfegruppen und Beratungsangebote als
Bewältigungshilfen von behinderten Frauen kaum in Anspruch genommen werden..
Gesellschaftlicher Rückzug, starke Einschränkungen im Berufsleben und soziale Isolation
sind oft die Konsequenzen.
Die Live Studie zeigt vor allem durch die persönlichen und zeitintensiven Interviews mit
behinderten Frauen auf:
 dass behinderte Frauen ihren Gesundheitszustand schlechter als nicht behinderte
Frauen einschätzen. Nur 16 % beurteilen ihren Gesundheitszustand als „gut“ im
Vergleich zu 43 % der Frauen allgemein,
 dass mit zunehmenden Alter der Anteil der Frauen steigt, die sich „schlecht“ oder
„sehr schlecht“ fühlen, fast alle befragten Frauen (93,5 %) hatten im halben Jahr vor
der Befragung häufig gesundheitliche Beschwerden. Dabei handelt es sich vor allem
um: Erschöpfungszustände, Schlafstörungen, Schmerzen, Herz-Kreislaufstörungen
und Depressionen,
 dass besonders Frauen mit chronischen Erkrankungen hohe Anforderungen zu
bewältigen haben. Plötzlicher Einbruch von schweren Erkrankungen, die bis zur
Behinderung führen können, bedürfen spezieller gesundheitlicher und psychosozialer
Bedingungen um die Erkrankungen bewältigen zu können. Besondere
Präventionsmaßnahmen, wie Kuren, besondere Ernährung, körperliche Schonung
oder Fitness etc. sind dabei spezielle Bewältigungsstrategien.
 dass viele Frauen mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung erschwerend
zusätzlich psychische Problematiken vorweisen können die gesonderte Therapien
erforderlich machen;
Ebenso ist laut LIVE STUDIE bekannt:
 dass bei behinderten Frauen negative Erfahrungen mit ärztlichen Behandlungen und
Krankenhausaufenthalten zum Alltag gehören;
 dass behinderte Frauen zum Teil nur unter Inkaufnahme gesundheitlicher Risiken,
oftmals gegen den Rat der Ärzte, ihre Kinder zu Welt gebracht haben;
 dass ca. 12 % der Frauen schon einmal demütigende Erfahrungen bei
FrauenärztInnen gemacht haben, die im Zusammenhang mit Verhütungsfragen oder
Kinderwunsch standen;
 dass fast jeder zehnten behinderten Frau eine Abtreibung nahegelegt wurde; 8,2 %
wurden als Verhütung die Sterilisation empfohlen. Der Anteil von behinderten
Frauen, die sterilisiert sind (35,9 %), ist zehnmal so hoch wie in der entsprechenden
Altersgruppe nicht behinderter Frauen.
 dass 18,3 % der Frauen demütigende Erfahrungen im Rahmen medizinischer,
pflegerischer oder technischer Untersuchungen, Behandlungen oder Maßnahmen im
Zusammenhang mit ihrer Behinderung gemacht haben.
Das Fazit der LIVE STUDIE ist simpel und scheint doch so problematisch zu sein:
Um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, ist für Frauen mit Behinderung und
chronischer Erkrankung u.a. auch Selbstbewusstsein, Optimismus, Selbstgestaltung
verbunden mit einer optimalen medizinischen Versorgung und einer gesunden
Lebensführung (Prävention und Rehabilitation) der Schlüssel für ein gesundes Leben.
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Auch die Untersuchung zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität von
contergangeschädigten Frauen der Westfälischen Wilhelms Universität Münster zeigt
auf:
 dass 46 % der befragten Frauen sich zum Zeitpunkt der Befragung aufgrund
behinderungsbedingter Probleme in medizinischer Behandlung befanden;
 dass 43 %, fast jede zweite Frau, zunehmende Probleme äußern, kompetente Ärzte
oder Ärztinnen zu finden, die in der Lage sind, behinderungsbedingte Probleme zu
behandeln;
 dass 41% der Frauen berichteten, dass sich ihr Gesundheitszustand aufgrund ihrer
Behinderung in den letzten zwölf Monaten verschlechtert habe. Dabei stehen mit 83
% degenerative Veränderungen der Wirbelsäule an erster Stelle.
4. Anforderungen an eine zukünftige
Gesundheitsberichterstattung
Diese Untersuchungen zeigen auch sehr deutlich auf, dass die reale gesundheitliche
Lebenssituation behinderter Frauen sich wesentlich von der nicht behinderter Frauen
unterscheidet und wie vor allem der Lebenswunsch und die Umsetzung nach einem
selbstbestimmten Leben mit der gesundheitlichen Verfassung im Zusammenhang steht.
Bereits in diesen Untersuchungen ist zu erkennen, dass für eine zukünftige
Gesundheitsberichtserstattung die Daten repräsentativ sein müssen. Sie müssen alle
Gruppen behinderter und chronisch erkrankter Frauen in gleichem Maße berücksichtigen,
und vor allem müssen die Daten über die Lebenssituation geistig behinderter Frauen und
schwerstpflegebedürftiger Frauen erfasst werden.
Die Notwendigkeit von differenzierten Untersuchungen ergibt sich auch aus den sehr
unterschiedlichen Beeinträchtigungen und chronischen Erkrankungen, die ja auch in ihren
Auswirkungen und Bedürfnissen sehr unterschiedlich sind.
Allein um zu verdeutlichen, wie unterschiedlich die Bedürfnisse sind, ist hier kurz die
besondere Lage geistig behinderter Frauen skizziert. Dazu ist auch zu sagen, dass
keine konkreten Daten zur gesundheitlichen Lebenssituation von geistig behinderten Frauen
vorliegen, es ist jedoch allgemein bekannt, dass die gesundheitliche Versorgung sich
äußerst kompliziert gestaltet.
Wie man sich vielleicht denken kann, sind große Mängel in der ärztlichen Versorgung
vorhanden, da es so gut wie keine Fachärzte gibt, die sich mit den speziellen
Krankheitsbildern und den Behinderungen gleichzeitig auskennen. So muss z.B. die
Medikationen mit Schlafmitteln, Antidepressiva und Beruhigungsmittel in Frage gestellt
werden. Auch die Einbeziehung der geistig behinderten Frauen in eine Diagnostik gestaltet
sich als sehr schwierig, da die Sprach- und Ausdrucksmöglichkeiten sehr eingeschränkt
sind. Im Rahmen gynäkologischer Beratung und Untersuchungen sind ebenfalls Probleme
zu erwarten. Dass geistig behinderte Frauen zwangssterilisiert werden, ist bekannt. Dazu
kommen Versorgungsprobleme in Heimen und die besondere Arbeitssituation in den
Werkstätten.
Welche Auswirkungen die besonderen Lebenssituationen auf geistig oder auch auf
psychisch behinderte Frauen haben, ist weiterhin nur in einzelnen Punkten durch kleinere
Untersuchungen deutlich gemacht worden, der große Zusammenhang liegt jedoch noch im
Dunkeln.
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Auch die spezielle Lebenssituation schwerstbehinderter Frauen, die auf Pflege und
Assistenz angewiesen sind, bedarf einer gesonderten Betrachtung, macht sich doch
gerade an ihnen die Realität und der Wunsch einer gesundheitlichen Versorgung im
Verhältnis zur Selbstbestimmung, zum selbstbestimmten Leben, deutlich.
Behinderte und chronisch erkrankte Frauen haben Angst vor ihrer Zukunft.
Wie dem Gesundheitsbericht deutlich zu entnehmen ist, ist die soziale Lebenssituation
mitentscheidend und mitverantwortlich für die gesundheitliche Lage der betroffenen Frauen.
So stecken besonders in der – auch auf dem Kongress „NRW GLOBAL“ benannten –
sozialen Problemlage große Gefahren für die betroffenen Frauen. Nicht nur schlechte
Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt und die dementsprechende wenig vorhandene soziale
Integration sondern insbesondere die gesundheitliche Lebenssituation, die jetzt schon nicht
stabil ist und in der Entwicklung problematisch, könnte sich verschlechtern.
So zeigt auch die Untersuchung der Westfälischen Wilhelms Universität auf, dass ein
Großteil der contergangeschädigten Frauen mit Sorge in die Zukunft blickt:
 Zwei Drittel der Befragten befürchten, dass sich ihr körperlicher Zustand in den
nächsten zwei Jahren aufgrund der Behinderung verschlechtert. Dadurch wiederum
erwarten die meisten Frauen mit Sorge so weitreichende negative Auswirkungen auf
ihr Leben, wie beispielsweise mehr Abhängigkeit von Dritten und weniger
Möglichkeiten, den Alltag zu bewältigen. Auch Einschränkungen in der beruflichen
Leistungsfähigkeit, in den Freizeitaktivitäten und in der Mobilität werden befürchtet.
Auch nach der kleinen vorgezogenen Auswertung der Fragebogenaktion des
Netzwerkbüros/Netzwerks können diese Ängste und diese Sorgen betroffener Frauen
bestätigt werden. Unter der „Rubrik Befürchtungen für die Zukunft“ haben z.B. 71 % der
Frauen angegeben, dass sie Befürchtungen haben, den Alltag nicht mehr wie bisher
bewältigen zu können. So befürchten 61 % finanzielle Einbußen, 62,5 % Einschränkungen
der Leistungsfähigkeit, 47,4 % den Verlust sozialer Kontakte, 74 % befürchten
Einschränkungen bei Freizeitaktivitäten, und 42 % der Frauen haben Angst, ihr Leben
weiterhin nicht selbstbestimmt leben zu können.
Von Bedeutung ist auch, dass die Frauen bemängeln, dass sie in ihrer Selbstwahrnehmung,
ihre körperliche und seelische Gesundheit betreffend, oft durch den äußeren
Anpassungszwang und aufgrund der Fremdbestimmung durch Fachkräfte, Versicherungen
und Krankenkassen stark eingeschränkt und behindert werden. Die Folgen davon sind, dass
die Eigenverantwortung und der eigene Handlungsspielraum für sie selbst stark
eingeschränkt werden. Unzureichende Beratung und Unterstützung wirken sich zusätzlich
negativ aus.
Insgesamt ist aus den vorliegenden Analysen klar ersichtlich, dass eine zukünftige
Gesundheitsberichterstattung und ebenso eine zukünftige Gesundheitsreform sich stärker
an den Belangen behinderter und chronisch erkrankter Frauen und auch Mädchen
orientieren müssen, sie müssen auch aktiver in die Gestaltung zukünftiger
Gesundheitspolitik mit einbezogen werden. Dieses ist nicht nur gesellschaftlich
wünschenswert, sondern gesellschaftlich notwendig, um ein Leben in Selbstbestimmung und
gleichberechtigter Teilhabe zu ermöglichen.
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A
Defizite bei der Gesundheitsversorgung
von Frauen mit Behinderung und /oder chronischen Erkrankungen
1.
Herz- und Kreislauferkrankungen
Häufigkeit und Ausprägung koronarer Herzkrankheiten werden bei Frauen immer noch
unterschätzt. Herzinfarkte werden zu spät oder gar nicht erkannt, da die
Krankheitssymptome unterschiedlich wahrgenommen werden. Da die Beschwerden sich oft
als Magenschmerzen, Übelkeit oder/und Schmerzen in der Schulter und im Nacken äußern,
werden oft psychische Ursachen vermutet oder auf Orthopäden verwiesen.
Die bekannten Risikofaktoren (Alter, Übergewicht, Diabetes, Bluthochdruck) erhalten gerade
bei Frauen mit Behinderungen eine andere Bedeutung: Häufig sind die entsprechenden
Vorsorgemöglichkeiten nicht gegeben. Aufgrund der körperlichen Beeinträchtigung ist es
beispielsweise schwierig, Bewegungsmangel auszugleichen. Hilfsmittel – wie ein Dreirad –
werden von der Gesetzlichen Krankenversicherung nicht bewilligt, der Zutritt zu öffentlichen
Bädern ist oft erschwert, die Möglichkeit, sein Gewicht zu kontrollieren ist nicht gegeben, da
es kaum Sitzwaagen gibt.
2.
Medizinische Versorgung
Die Arzneimittelforschung erfolgt noch immer überwiegend an Männern, was häufig zu
Fehldosierungen bei Frauen führen kann. Auch bestehen deutliche Unterschiede bei der
Verordnung hinsichtlich der Art und der Menge von Medikamenten gegenüber Männern.
Frauen erhalten öfter Schmerzmittel, Antidepressiva und andere Medikamente mit hohem
Abhängigkeitsrisiko. Die Wirkung der Arzneimittel ist zum Teil sehr unterschiedlich, der
biologische Unterschied findet keine angemessene Berücksichtigung.
Viele Frauen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen sind auf Medikamente
angewiesen, um das tägliche Leben erträglich und weitgehend schmerzfrei zu meistern. Oft
ist Ärzten die Wechselwirkung von bestimmten Medikamenten in Verbindung mit der
Behinderung nicht bekannt. Zum Beispiel verstärkt die Einnahme von Cholesterin
senkenden Medikamenten eine bestehende Spastik. Hier wäre ein weiter Forschungsansatz
gegeben und eine bessere Information und Ausbildung der Ärzte erforderlich.
Über das Zusammenwirken von Folgen von Behinderungen oder chronischen Erkrankungen
und dem normalen Abbauprozess im Alter ist nur wenig bekannt. Auch weiß man bisher
wenig über Spätfolgen von Behinderungen oder chronischen Erkrankungen. Erste
Untersuchungen zeigen, dass die Lebenserwartung von Frauen, die ihre Behinderung in der
Kindheit bekamen, etwa um 10 Jahre geringer ist als die Lebenserwartung der Frauen mit
gleicher Behinderung, die im Erwachsenenalter erworben wurde. Unklar ist hierbei, ob
soziale Stressfaktoren den biologischen Abbauprozeß beschleunigt haben. (Schweden
1999)
Ein weiteres Problem: Alternative Heilmethoden und Naturheilmittel werden von den
Gesetzlichen Krankenkassen nicht übernommen. Sie sind oftmals erfolgreich, verschaffen
Linderung und sorgen so für weniger Medikamenteneinnahme. So gibt es beispielsweise
positive Erfahrungen mit Naturheilmedikamenten bei Asthma, die anders als bei der
schulmedizinisch üblichen Gabe von Kortison nicht zu Schwerhörigkeit und Osteoporose
führen.
3.
Hilfsmittel
Die Hilfsmittelversorgung für chronisch Kranke und Behinderte muss verbessert werden. Oft
erfolgt durch Ärzte, Behörden und Krankenkassen wenig konkrete Beratung, welche
Hilfsmittel in Anspruch genommen werden können. Der Zeitraum für die Bewilligung ist
7
vielfach extrem lang. In der Praxis ist es aber so, dass das entsprechende Hilfsmittel jetzt
benötigt wird und nicht erst in zwei Monaten.
Frauen mit Behinderungen benötigen oft Entlastung im Alltag, z.B. Haushaltshilfen und Hilfe
bei der Kinderbetreuung. Der Anspruch auf Hilfsmittel muss für behinderte und chronisch
kranke Frauen auch alle erforderlichen Hilfen zur Bewältigung der Haushaltstätigkeit und der
Betreuung der Kinder umfassen. Die Hilfsmittelforschung und die Hersteller sollten den
Gesamtbereich der Hilfsmittel einschließlich der orthopädischen Hilfsmittel auf
frauenspezifische Bedürfnisse prüfen und weiterentwickeln.
Die Hippotherapie hat sich gerade bei Frauen mit Körperbehinderung als sehr erfolgreiche
Therapie herausgestellt. Sie fördert das Gleichgewicht und lockert die Muskulatur. Obwohl
von vielen gefordert, wird dies von den Krankenkassen nicht gefördert und bezahlt. Die
Übernahme dieser Therapie wäre ein gutes Hilfsmittel zur Bewältigung der Behinderung und
gleichzeitig eine Präventionsmaßnahme.
4.
Kurmaßnahmen und Prävention
In Therapie- und Rehabilitationsmaßnahmen sind Frauen mit Behinderung deutlich
unterrepräsentiert. Kuren werden oftmals ohne ausreichende Begründung abgelehnt. Der
Zeitraum von vier Jahren zwischen den Rehamaßnahmen ist zu lang. Für Frauen mit
Behinderung ist die wohnortnahe Rehabilitation dringend erforderlich, damit gerade bei
beruflicher Reha die Familie mit einbezogen werden kann. Laut einer Umfrage des
Netzwerkes Frauen und Mädchen mit Behinderung NRW wünschen sich behinderte Frauen
mehr Erholungsmaßnahmen und Vorbeugekuren, damit sie die Dreifach-Belastung –
Behinderung, Familie, Beruf – bewältigen können.
Im Gesundheitsbericht des Landes NRW 2000 zur gesundheitlichen Lage von Frauen und
Männern wird zu Recht die Bedeutung der Vorbeugung innerhalb der gesundheitlichen
Versorgung hervorgehoben.
Frauen mit Behinderungen können an den angebotenen Präventionsmaßnahmen nur selten
teilhaben, da ihre Bedürfnisse kaum berücksichtigt werden. Es fehlen nicht nur
entsprechend aufbereitete Informationen für blinde, lernbehinderte oder geistig behinderte
Frauen. Auch sind weder die Untersuchungsmethoden noch die Handlungsempfehlungen an
typische Erscheinungsformen von Behinderungen (z.B. Bewegungsmangel) angepasst.
Dabei ist bekannt, dass gerade bei chronischen Erkrankungen Vorbeugung wichtig ist, um
zusätzliche Krankheiten zu vermeiden.
5.
Orthopädie und Gynäkologie
Es gibt zu wenig kompetente Fachärzte, die die Behinderung richtig einschätzen.
Beschwerden werden oft ignoriert und auf die Behinderung bezogen. Die Behinderung ist
aber nicht die Ursache jeder Erkrankung. Die Wartezeiten bei den Ärzten, gerade bei
Orthopäden sind extrem lang, die Praxis ist oft schlecht erreichbar wegen Stufen und/oder
zu enger Aufzüge, und die Umkleidekabinen sind oft sehr klein und für Rollstuhlfahrerinnen
nicht benutzbar. Zeit ist für die Ärzte ein Kostenfaktor, intensive Gespräche finden selten
statt.
Gynäkologische Praxen sollten generell mit höhenverstellbaren Untersuchungsliegen
ausgerüstet sein, das heißt barrierefrei – für jeden zugänglich. Auch ältere Frauen haben
Probleme, den Stuhl zu erreichen.
Schwangerschaft bei Frauen mit Behinderung und chronischer Erkrankung ist für viele
FrauenärztInnen noch immer ein Tabu-Thema. In vielen Fällen wird zur Abtreibung geraten,
Behinderung und Mutterschaft sei nicht oder nur mit gesundheitlichen Risiken vereinbar, die
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Erkrankung oder Behinderung sei erblich und dies dürfe frau weder dem Kind noch der
Gesellschaft zumuten. Als beste Verhütungsmethode wird vielfach nur die Sterilisation
gesehen (siehe LIVE-Studie). Die verbreitete Unkenntnis über die Auswirkungen von
Schwangerschaft und Geburt bei behinderten Frauen könnte beseitigt werden, wenn das
Medizinstudium um den Themenbereich „Frauen mit Behinderungen“ erweitert würde.
Bei den Krebserkrankungen steht bei Frauen Brustkrebs an oberster Stelle. Die Sterberate
ist hoch. Für die Früherkennung wären ein flächendeckendes und qualitätsgesichertes
Mammographie-Screening nach den Europäischen Leitlinien sowie ein flächendeckendes
Brustkrebsregister erforderlich.
6.
Beratung
Im Handlungsprogramm des Landes NRW „mit gleichen Chancen leben wird betont, dass
der Bereich Beratung für Menschen mit Behinderungen eine besondere Bedeutung hat;
denn durch die Beratung werden nicht nur existenzielle Hilfs- und
Kompensationsmaßnahmen gesichert, sondern sie ist zugleich ein wichtiges Mittel, die
persönliche und soziale Kompetenz für die Bewältigung des Alltags zu stärken.
Frauen mit Behinderungen beklagen die unübersichtlichen Zuständigkeiten im
Beratungssektor und die damit verbundene Uneinheitlichkeit der Zugangswege zu Hilfen und
Diensten, Therapiemaßnahmen oder Rehabilitationsleistungen.
Das Netzwerk von Frauen und Mädchen mit Behinderungen NRW fordert daher den Aufbau
eigener Beratungsangebote für Menschen mit Behinderungen, die ganzheitlich, kompetent
und ressourcenorientiert beraten und informieren. Professionelle Beratung für Frauen und
Mädchen mit Behinderungen wird meistens von Mitarbeiterinnen ausgeführt, die vielleicht
Wissen „über“ Behinderungen und chronischen Erkrankungen erworben haben, jedoch
nicht/oder nur sehr selten über eigene Erfahrungen „mit“ Behinderungen und ihrer konkreten
Überwindung im Alltag verfügen.
Die Beratungsstellen müssen nach den Methoden des peer support und peer
counseling ausgerichtet werden, denn gerade die Modellfunktion behinderter
Beraterinnen und Berater kann Ratsuchenden eine Vorstellung von den
Möglichkeiten vermitteln, mit einer Behinderung oder chronischen Krankheit
selbstbestimmt zu leben.
7.
Mädchen
Während die therapeutische Frühförderung behinderter Kinder meistens gesichert ist, weist
ihre soziale Integration immer noch große Mängel auf und führt nicht selten zu
psychosomatischen Erkrankungen als Folge von Vereinsamung und Isolation. Integrativer
Schulbesuch ist in Deutschland immer noch die Ausnahme
Von Geburt an behinderte Mädchen entwickeln andere Vorstellungen vom Körper und ein
anderes Selbstbild als nicht behinderte Mädchen. Jugendliche, die ihren Körper nicht
behindert erlebt haben, da sie ihre Behinderung erst später erworben haben, müssen nach
dieser Veränderung ein neues Körper- und Selbstbild aufbauen. Dabei richtet sich die
eigene Einstellung zur Behinderung nach den Einstellungen, die Eltern und das soziale
Umfeld vermitteln. Aufgrund der erlebten Vorurteile und Abwertungen ist es für die Mädchen
schwer, ein positives Körper- und Selbstbild zu entwickeln. Sexualität, Partner- und
Mutterschaft sind schwer vorstellbar.
Untersuchungen haben gezeigt, dass ihr Wissen über die Veränderungen ihres Körpers
während der Pubertät äußerst lückenhaft sind. Es entsteht der Eindruck, dass das Wissen
über die sexuelle Entwicklung des Menschen nur „halbherzig“ vermittelt wird; die
9
Entwicklung zur Frau wird von der Umwelt negiert, sexuelle Erfahrungen durch die Umwelt
unterbunden. Der gesellschaftliche Druck nicht dem geltenden Schönheitsideal zu
entsprechen, führt oftmals zu autoaggressiven Verhalten und Essstörungen – wie bei nicht
behinderten Mädchen auch – wird aber bei ihnen seltener erkannt und behandelt.
B
Gesundheitliche Versorgung von Frauen mit Behinderung nach
(sexualisierter) Gewalterfahrung
Gewalterfahrungen von Frauen mit Behinderung, insbesondere sexualisierte
Ausbeutung(Nötigung) und/oder Vergewaltigung wurden bis Mitte der 90er Jahre nicht
thematisiert (Degener 1993, 26). Untersuchungen in Amerika und Großbritannien zeigen,
das Frauen mit Behinderung besonders häufig Opfer sexualisierter Gewalt sind (Kennedy
1989, Stimpson/Best 1991). Bedingt durch ein hohes Maß von Abhängigkeiten von Familie,
Assistenz oder dem Personal in Einrichtungen sind Frauen mit Behinderung häufig Opfer
sexualisierter Gewalt. Seit 1996 gibt es erste Zahlen aus dem deutschsprachigen Raum
(Österreich Aiha Zemp). 64 % der befragten Frauen, mit Körper und sogenannter geistiger
Behinderung, sowie Frauen mit Mehrfachbehinderung gaben an, eigene sexualisierte
Gewalterfahrungen gemacht zuhaben. Rund 41 % der befragten Frauen hatten mehrfach
sexualisierte Gewalt erfahren müssen.
Gewalt gegen Frauen mit Behinderung ist aber alltäglich und findet unvorstellbar oft
statt, in Institutionen, Betreuten Wohnformen, in Pflegeabhängigkeit, in der Familie, bei
Therapien, in Rehabilitationseinrichtungen, in Krankenhäusern, usw. Gewalt gegen Frauen
mit Behinderung ist unabhängig von der Art der Behinderung, von Bildung, Nationalität, Alter
oder Religion. Gewalt gegen Frauen ist ein Verhalten des Täters, das darauf abzielt, Macht
und Kontrolle über eine Frau mit Behinderung auszuüben und sie zu demütigen.
Grundsätzlich sind fünf Formen von Gewalt zu unterscheiden:
1. Physische Gewalt: Dazu gehören Ohrfeigen, Tritte, Schläge, Stöße; Fesseln,
Würgen, bis hin zum Mord. (Frauen mit Behinderungen begreifen dies am ehesten
als Gewalt.)
2. Sexualisierte Gewalt: Handlungen, die dem sexuellen Selbstbestimmungsrecht
entgegen handeln, sexualisierte Gewalterfahrung in der Kindheit, Nötigung,
Vergewaltigung,(Ausnutzen hilfloser Lage)
3. Psychische Gewalt: Einschüchterung, Essensentzug, Demütigung, einflößen von
Schuldgefühlen, Schlafentzug, Bedrohung von Leib und Leben, Androhung des
Entzugs von Hilfsmitteln wie Rollstuhl, Gehstützen, Prothese usw.
4. Ökonomische Gewalt: z.B. Entzug von Geld
5. Strukturelle Gewalt: keine barrierefreien Zugänge zu ÄrztInnen und TherapeutInnen
eigener Wahl.
Gewalt stellt einen massiven Angriff auf die körperliche, geistige und seelische Integrität von
Frauen mit Behinderung dar. Gewalterfahrungen wirken auf die Gesundheit von Frauen mit
Behinderung sehr vielfältig.
(Sexualisierte) Gewalterfahrungen und Misshandlungen haben für alle Frauen mit
Behinderungen heftigste gesundheitliche Folgen:
 Es können unmittelbare körperliche Schäden sowie körperliche Spätfolgen
entstehen, die sich negativ auf eine Behinderung auswirken, oder sogar die Folge
davon sind, aber nicht als solche diagnostiziert werden, Hämatome, Frakturen,
Stichverletzungen, usw.
 Posttraumatische Belastungsstörungen. Schlafstörungen, Selbstverletzendes
Verhalten, Angst, Panik, Depression, Magersucht,
 Suchtmittel und Beziehungsabhängigkeiten
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Forderungen an eine gesundheitliche Versorgung von Frauen mit Behinderung und
(sexualisierter) Gewalterfahrung:
Rehabilitationseinrichtungen, Krankenhäuser/Kliniken und öffentliche
Gesundheitseinrichtungen, sowie Praxen usw. müssen Maßnahmen und Methoden
entwickeln und umsetzen:
 Zur Verbesserung der Versorgung von Frauen mit Behinderungen nach
(sexualisierten) Gewalterfahrungen
 Zur Ausbildung und Qualifizierung von ÄrztInnen, Schulung von
Krankenhauspersonal Inhalte zu Themen Behinderung - Frausein - und
(sexualisierte) Gewalt
 Zur Identifizierung von(sexualisierter) Gewalt als Ursache gesundheitlicher Probleme
bei Frauen mit Behinderung
 Zur Differenzierung und zum Transfer zwischen der Einschränkung durch die
jeweilige Behinderung und den Folgen (sexualisierter) Gewalt
 Zur Sensibilisierung für besondere Abhängigkeitsstrukturen und
Ohnmachtserfahrungen im Alltag von Frauen mit Behinderungen – Kenntnisse zur
Bewältigung von Behinderung und zur Förderung der Philosophie der
Selbstbestimmung
 Zur Entwicklung geeigneter Behandlungssettings,
barrierefreier Zugang zu allen Einrichtungen des Gesundheitswesens
längere Behandlungssettings, wenn durch die Behinderung ein höherer Zeitaufwand
nötig wird, nicht der Begleitperson zuwenden.
 Mitsprache im Behandlungsplan
 Zur Information über Beratungs-, Hilfs- und Schutzmöglichkeiten
Forderungen an eine gerechte Gesundheitspolitik:
 Oualitätsstandards
Entwickeln von überprüfbaren Standards
Gewaltfreie Einrichtungen als Qualitätsmerkmal
 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen mit den Zielen
EnTABUisierung von Behinderung und Gewalt gegen Frauen im
Gesundheitssystem.
 Abhängigkeiten durchbrechen (auch strukturelle), beseitigen des sozialen Dilemmas:
Eine barrierefreie Umwelt ist die Voraussetzung für Chancengleichheit, ebenso die
Flankierung von Behinderung, die eine individuelle Kompensation von
Funktionsausfällen, eingeschränkter Belastbarkeit und Bewältigung von
Umweltbarrieren im Alltag ermöglicht.
C
Pflege und Assistenz unter Berücksichtigung des gesundheitlichen
Aspekts für Frauen mit chronischer Erkrankung und/oder Behinderung
In dem Aktionsprogramm der Landesregierung „Mit gleichen Chancen leben“, in dem
Abschnitt Ambulante Dienste, Hilfen und Beratung setzt sich das Land NRW selbst für
„Persönliche Assistenz“ und „Selbstbestimmt Leben“ ein und unterstützt somit einen ganz
wesentlichen Schwerpunkt unserer Arbeit des Netzwerkes von Frauen und Mädchen mit
Behinderung NRW und der übrigen politischen Selbsthilfe.
Selbstbestimmung muss im Sinne von Autonomie verstanden werden, meint also das Recht
seine Angelegenheiten selbst zu ordnen. Selbstbestimmt handelt jede, die mit oder ohne
Persönliche Assistenz ohne Fremdbestimmung ihren Handlungsrahmen festlegt.
Selbstbestimmung grenzt sich damit sehr deutlich von Fremdbestimmung ab, ist quasi ein
11
Gegenbegriff zu jeglicher Fremdbestimmung (vergl. Steiner, „Selbstbestimmt Leben mit
Persönlicher Assistenz“, Dortmund 2001, S. 33).
Die Pflegeversicherung bzw. das Pflegeversicherungsgesetz ist das in der Regel vorrangige
Leistungsgesetz für Menschen mit Pflege- und Hilfebedarf. Es weist jedoch erhebliche
Leistungslücken auf und ist nur unzureichend für die Realisierung „Persönlicher Assistenz“
und somit auch für ein „Selbstbestimmtes Leben“, insbesondere von Frauen mit chronischer
Erkrankung und/oder Behinderung möglich.
Das Problem wird schon in den Definitionen der drei Pflegestufen genannten Bereiche
„Körperpflege“, „Ernährung“, „Mobilität„ und „Hauswirtschaft“ deutlich. Sie enthalten
insgesamt 21 im Gesetzestext definierte Verrichtungen. Nur diese Verrichtungen sind
pflegestufenrelevant und werden bei der Einstufung berücksichtigt.
Der Bereich „Körperpflege“ beinhaltet die Verrichtungen „Waschen“, „Duschen“, „Baden“,
„Zahnpflege“, „Kämmen“, „Rasieren“ und „Darm- und Blasenentleerung“. Der Bereich
„Mobilität“ enthält die Verrichtungen „Aufstehen und Zu-Bett-Gehen“, „An- und Auskleiden“,
„Gehen“, „Stehen“, „Treppensteigen“ und „Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung“.
Im Bereich der „Ernährung“ sind die Verrichtungen „mundgerechte Zubereitung der
Nahrung“ und „Aufnahme der Nahrung“ genannt und im Bereich „Hauswirtschaft“ die
Verrichtungen „Einkaufen“, „Kochen“, „Reinigen der Wohnung“, „Spülen“, „Wechseln und
Waschen der Wäsche und Kleidung“ und „Beheizen“ aufgeführt. Die einzelnen
Verrichtungen beziehen sich in der Regel auf Aktivitäten in der Wohnung.“ (zit. Marrenbach,
„Selbstbestimmt Leben“...a.a.O. S. 123)
Die frauenspezifischen Verrichtungen, wie Hilfen bei der Monatshygiene, dekorative Pflege
und Haar- und Nagelpflege werden nicht berücksichtigt, sowie Mobilität außerhalb der
Wohnung. Diese Nichtberücksichtigung der frauenspezifischen Verrichtungen und die
Sicherung der Mobilität außerhalb der Wohnung (gilt auch für Männer), setzt die
aufstockenden Leistungen nach dem BSHG voraus, hierzu zählen die Eingliederungshilfe
und die Hilfe zur Pflege.
Dieses erfordert gerade für Frauen, die sowieso aus ihrer weiblichen Sozialisation
heraus schlecht Hilfe erfragen und annehmen können, erneute Antragsstellung und
Erklärungsbedarf gegenüber den zuständigen Behörden. Diese Tatsache bedeutet für
viele der Frauen einen zu hohen Kraftaufwand und Resignation. Notgedrungen greifen sie
auf familiäre Hilfe zurück oder helfen sich selber, was häufig zu totalen
Erschöpfungszuständen führt (siehe auch LIVE-Studie).
Wir fordern deshalb:
 eine Gleichstellung oder Mitberücksichtigung der frauenspezifischen Verrichtungen
im bestehenden Modulsystem der Pflegeversicherung sowie die Erweiterung des
Moduls „Hilfen außerhalb der Wohnung“.
 eine Gesetzesinitiative des Landes NRW zur Erweiterung des
Bundespflegeversicherungsgesetzes, damit das Modell der persönlichen Assistenz
als Regelleistung in das Pflegeversicherungsgesetz aufgenommen wird.
 Dies bedeutet darüber hinaus, dass die Geldleistung (Pflegegeld) der Sachleistung
angeglichen wird, um so auch längerfristig eine „Qualitätssicherung“ der ambulanten
Pflegedienste zu fördern im Sinne der Persönlichen Assistenz und des
Selbstbestimmten Lebens.
 Die Vergütung für die Persönliche sowie die Indirekte Assistenz sollte nicht über das
bestehende Modulsystem abgerechnet werden, sondern über ein zeitbezogenes
Abrechnungssystem. Ein derartiges Vergütungs- und Abrechnungssystem ist auf
Basis der aktuellen Gesetzeslage möglich.
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
 Assistenznehmerinnen sollen grundsätzlich gleichberechtigt die Möglichkeit
haben, aus bestehenden Assistenzangeboten auswählen zu können.
 Arbeitgebermodell (selbstorganisierte Assistenz)
 Assistenzorganisationen / Assistenzverein oder -genossenschaft (Indirekte
Assistenz)
 die Inanspruchnahme ambulanter Pflegedienste.
Aufgabe der nach SGB IX eingerichteten Servicestellen sollte die Förderung der
Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Kostenträgern sein, die bei
Persönlicher Assistenz auftreten können, muss aber auch deren Überwachung
sicherstellen.
eine Ausführungsverordnung zu erlassen, damit eine Gleichbehandlung in der
Bewilligungspraxis der örtlichen Sozialhilfeträger bezüglich notwendiger Hilfen, die
nicht zu den im Pflegeversicherungsgesetz definierten 21 Verrichtungen zählen,
erfolgt, um eine einheitliche Lebensqualität von Assistenznehmerinnen zu sichern.
Diese Forderungen wurden unter anderem in Anlehnung an das Fazit der Grenzen und
Möglichkeiten der Finanzierung von Persönlicher Assistenz (Marrenbach, „Selbstbestimmt
Leben“...a.a.O. S. 184) entwickelt.
Literaturnachweis: „Handbuch Selbstbestimmt Leben mit Persönlicher Assistenz“
Herausgeber MOBILE – Selbstbestimmt Leben Behinderter e.V., Verlag AG SPAK Bücher,
Dortmund 2001.
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Die Situation von Müttern mit Behinderung unter Berücksichtigung des
gesundheitlichen Aspekts
Das in der LIVE-Studie typisierte Stichprobenprofil der „typischen“ erwachsenen körperund/oder sinnesbehinderten Frau beinhaltet unter anderem das „Muttersein“. Trotzdem
werden Mütter mit Behinderung nicht wahrgenommen, weder in der gesellschaftlichen
Akzeptanz noch in der deutschen Gesetzgebung. Will eine Frau mit Behinderung Mutter
sein, muss sie ihre Behinderung möglichst vergessen. Sie kann nur trotz der Behinderung
eine gute Mutter sein, jedoch nicht wegen. Beruft sie sich hingegen auf die Notwendigkeit,
Hilfestellung zu bekommen, verletzt sie diese Spielregel. Sie wird dann die Unvereinbarkeit
dieser beiden Rollen am eigenen Leib zu spüren bekommen: „Mussten Sie denn auch noch
Kinder kriegen!?“, hallt ihr der Vorwurf aus dem öffentlichen Mund entgegen.
Frauen mit Behinderung setzen sich dem Vorwurf der Unverantwortlichkeit aus, wenn sie
sich dazu entschließen, Mutter zu werden oder eine Familie zu gründen. Schon die
Sexualität – besonders von Frauen mit geistiger Behinderung – wird mit dem Hinweis auf
eine mögliche Fortpflanzung reglementiert und kontrolliert. Oft wird an Sterilisation gedacht,
was die Frau somit unter Rechtfertigungsdruck setzt. Die Behinderung wird nur sehr
eingeschränkt akzeptiert. Ihre Fähigkeiten, Mutter zu sein, eine Familie zu gründen und
Kinder zu erziehen, werden ihr abgesprochen.
Dahinter steht das Problem, dass es Mütter mit Behinderung im öffentlichen
Erscheinungsbild einfach nicht gibt. Die rechtliche Lage von Müttern mit Behinderung ist
daher unzureichend. Keines der bestehenden Gesetze wird der Situation von Müttern mit
Behinderung gerecht, nämlich eine Assistenz für Kinder und Haushalt. Dies ist unter
anderem auch dadurch bedingt, dass es keine speziellen technischen Hilfen für eine
selbständige optimale Versorgung der Kinder gibt. Die meisten Hilfsmittel sind noch immer
selbst gemacht und selbst finanziert. Da technische Hilfen fehlen, wird Persönliche Assistenz
z.B. als Transporthilfe zur Versorgung der Kinder benötigt, jedoch nicht als Erziehungshilfe.
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Dieser Tatbestand macht es so schwer, den individuellen Hilfebedarf der Mütter mit
Behinderung optimal zu gestalten.
Mütter mit Behinderung müssen daher die bestehenden Leistungsgesetze akribisch
durchforsten und für ihre Situation passend machen. Z.B. die Nutzung des
Kinderhilfejugendgesetzes mit dem Abschnitt Förderung der Erziehung in der Familie und
Hilfen zur Erziehung, worüber eine Teilfinanzierung Persönlicher Assistenz möglich wäre,
werden häufig nicht genutzt aus Angst, dass das Jugendamt sich zu sehr in die
Erziehungssituation und die Familienstruktur einmischt. Hilfen aus dem
Pflegeversicherungsgesetz und die Hilfen nach dem BSHG sichern auch nur vorwiegend
den eigenen Pflege- und Hilfebedarf und berücksichtigen die Rolle der Mutter überhaupt
nicht. Hilfebedürftige Mütter tragen die Lasten zum Großteil allein. Sie müssen ihre
Behinderung aufgrund unzureichender gesetzlicher Verankerung permanent vergessen
lassen.
Hinzukommen die baulichen Barrieren in Kindergarten, Schulen, Familienbildungsstätten
usw. all jene Orte, die man als Mutter im Alltag mit Kindern aufsucht, die die Überwindung
mit Kind erforderlich machen und einen erhöhten Kraftaufwand bedeuten und letztendlich die
Sozialisation als Frau, die am schwersten Hilfe erfragen und annehmen kann, besonders in
der Rolle als Mutter. Die Folge sind oftmals extreme körperliche Belastungen, die dann zu
Hüftschädigungen, Wundschaben in der Prothese und Verschleißerscheinungen bei den
gebrauchsfähigen Extremitäten und totalen Erschöpfungszuständen führen, was letztendlich
der Familie erneut zum Nachteil gereicht und ihre Situation weiter verschärft.
Es lassen sich folgende Forderungen ableiten:
 ein Assistenzmodell zu schaffen, das die Bedürfnisse von Müttern mit Behinderung
berücksichtigt.
 die Einkommensgrenze bei der Festlegung des Erziehungsgeldes ist für Mütter mit
Behinderung höher zu setzen, um den spezifischen Mehrbedarf für Versorgung und
Pflege Rechnung zu tragen.
 auch die generelle Finanzierung des Umbaus technischer Hilfen auf Rezept muss
ermöglicht werden.
 eine Berücksichtigung von Eltern mit Behinderung bei der baulichen Gestaltung von
Kindergärten, Schulen und Familienbildungsstätten (barrierefreier Zugang ist
notwendig)
 zur Unterstützung der besonderen Situation von Müttern mit Behinderung ist ein
Beratungskonzept nach dem Prinzip des „Peer Counseling“ in die Praxis umzusetzen
Erstellt von der Arbeitsgruppe des Netzwerkes:
- Petra Stahr (Referentin des Netzwerkbüros)
- Renate Bernards (Sprecherin des Netzwerkes)
- Gertrud Servos (stellv. Sprecherin des Netzwerkes)
- Claudia Seipelt-Holtmann (Forumsfrau)
- Beate Holstein (Forumsfrau)
- Birgit Edler ( Mitarbeiterin der „Contergan-Studie“ der WWU-Münster)
- Elisabeth Fischer (AK Frauen mit Behinderung der BAGH)
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