Der Rheingau zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik von Walter Hell 1. Vorbemerkung Mit dem militärischen Zusammenbruch des deutschen Heeres, der Abdankung Kaiser Wilhelms II. und der Ausrufung der Weimarer Republik kam es Ende 1918/Anfang 1919 zu einem bis dahin beispiellosen Systemwechsel in Deutschland.1 Das „lange, bürgerliche Jahrhundert“ ging unweigerlich seinem Ende entgegen und das „Zeitalter der Extreme“ (Eric J. Hobsbawm) nahm seinen Lauf. Auch der Rheingau blieb von der historischen Umwälzung nicht verschont. Im Folgenden sollen die Gemeinsamkeiten mit den Entwicklungen im Deutschen Reich, aber auch die Rheingauer Besonderheiten während dieses Umschwungs in vier Aspekten herausgearbeitet werden. 2. Der militärische Zusammenbruch Bis zum 10. November 1918 erschien unter der Rubrik „Der Krieg“ in dem „Geisenheimer Lokalanzeiger“ täglich ein schönfärberischer Bericht der Obersten Heeresleitung (OHL) über das Kriegsgeschehen und die Kriegslage. Noch Anfang des Monats war die neunte Kriegsanleihe2, mit der die Fortführung des Krieges finanziert werden sollte, gezeichnet worden. In Geisenheim brachten 535 Zeichner einen Betrag von zwei Millionen Reichsmark für diese Kriegsanleihe auf. Allein an der dortigen Volksschule kamen vor allem durch die Werbetätigkeit der Lehrer 93.971 RM zusammen. Der Rektor bemerkte dazu: Die IX. Kriegsanleihe zeigte schon viel Kriegsmüdigkeit. Das Werben war schwieriger und das Ergebnis blieb hinter dem der XIII. Kriegsanleihe um ein Erhebliches zurück 3 Am Lehrerseminar in Allgemein zum Begriff des „Systemwechsels“ und im Speziellen zum Systemwechsel 1918/19 vgl. Eckhard JESSE: Systemwechsel in Deutschland. Köln 2010. 2 Durch ein Gesetz vom 4. August 1914 wurde die Reichsregierung ermächtigt zur Finanzierung des Krieges ohne Einschränkungen Geld zu leihen. Solche Kriegsanleihen zeichneten die deutschen Staatsbürger, die auf Zinsgewinne und die Rückzahlung ihrer Anleihen hofften, im Wert von 99 Milliarden Reichsmark,. Die Rückzahlung und Verzinsung hätte aber einen Sieg der deutschen Waffen und immense Reparationszahlungen der Besiegten vorausgesetzt. Da der unbegrenzten Geldschöpfung keine adäquaten volkswirtschaftlichen Werte entgegenstanden, führte dieser Weg direkt in die Hyperinflation von 1923. Die Kriegsschulden von mindestens 156 Milliarden Reichsmark wurden auf die Reichsbürger umgewälzt, die für ihre Kriegsanleihen nach dem Krieg keinen Gegenwert erhielten und deshalb mitunter verarmten. Dies war eine entscheidende wirtschaftliche Hypothek für die Weimarer Republik. 3 Geisenheimer Lokalanzeiger (im Folgenden zitiert als LA) Nr. 131 vom 7.11.1918 und Chronik der Volksschule Geisenheim, Bd. 2. Dort auch das Zitat. Die Chronik ist unveröffentlicht und befindet sich im Besitz der dortigen Grundschule. 1 Eltville waren Anfang November noch einmal 106.700 RM als Kriegsanleihe gezeichnet worden.4 In der kleinen Volksschule Hattenheim kamen bei der neunten Kriegsanleihe nur noch 2.540 RM zusammen, nachdem man bei der zuvor gezeichneten Kriegsanleihe noch 20.940 RM zusammen gebracht hatte. Dabei wurde dort auch hemmungslos die Schulsparkasse geplündert.5 In Lorch „spendierte“ die örtliche Schulsparkasse bei der vorletzten 2.000 RM, während von den Lehrern noch einmal 52.600 RM vermittelt wurde. Dazu kamen noch Anteilscheine von 4.220 RM. Die Schüler bekamen dafür einen Tag schulfrei (sic!).6 Was musste die Bevölkerung denken, als die deutsche Reichsregierung am 11. November ein Waffenstillstandsangebot der Kriegsgegner annehmen musste? Darin wurde u. a. binnen 15 Tagen die Räumung Frankreichs, Belgiens, Luxemburgs und Elsaß - Lothringens durch die deutschen Truppen gefordert. Außerdem sollten die deutschen Truppen vom linken Rheinufer und von den Brückenköpfen der Alliierten um Köln, Koblenz und Mainz, die mit einem Radius von 30 Kilometern auf das rechte Rheinufer hinübergriffen, zurückgezogen und dort Besatzungstruppen binnen 25 Tagen stationiert werden. Entlang der Rheines sollte ein entmilitarisierter Gebietsstreifen von zehn Kilometern verlaufen. Die jüdische Binger Bürgerin Mathilde Mayer hält in ihren Lebenserinnerungen fest: Wir wurden von dem plötzlichen Ende (des Krieges, W.H.) sehr überrascht. Und sie fährt fort: (...) für uns dumme Binger war es ein plötzlicher Schock, als wir das Ende vernahmen. Sie schildert auch ein kurzes, dramatisches Zwiegespräch mit ihrer Tante: Hast Du schon von Wilsons 14 Punkten gehört, die wir zu erfüllen haben? Ich war ganz entsetzt. Meine Antwort war: „Wir haben doch gesiegt, wir haben doch nichts abzugeben, das ist unmöglich.“ Und sie folgert rückblickend: So dumm war die Bevölkerung, dass wir von nichts wussten, obwohl in ihrem bürgerlichen Haushalt täglich die „Frankfurter Zeitung“ gelesen wurde. Selbst nach der Niederlage sei der Bevölkerung nur das gesagt worden, was angenehm ist, vieles sollte das Volk nicht wissen.7 Abbildung 1: Das französische Besatzungsgebiet am Mittelrhein (Karte) Bei der Einrichtung der Brückenköpfe um Mainz und Koblenz entstand ein kleiner Gebietsstreifen zwischen dem Bodenthal bei Lorch und dem Rossstein bei Kaub, der die Form eines Flaschenhalses hatte und in dem die Besatzungsmächte keine Kommandogewalt inne hatten. Das Gebiet blieb Teil des unbesetzten Deutschen Reiches und erklärte sich selbst inoffiziell zum 4 Vgl. Rheinische Volkszeitung Nr. 263 vom 11.11.1918. Chronik der Volksschule Hattenheim. Bd. 2. Die Chronik ist unveröffentlicht und befindet sich im Besitz der örtlichen Grundschule. 6 Vgl. Chronik von Lorch 1866-1918. Abgeschrieben und zusammengestellt von Albert ZELL. Assmannshausen 2007, S. 78. 7 Mathilde MAYER: Die Alte und die Neue Welt. Erinnerungen meines Lebens. Bingen 2003, S. 95-96. 5 Freistaat, in dem auch eigenes Notgeld gedruckt wurde.8 Die Notwendigkeit Notgeld wie auch andernorts in Deutschland zu drucken, ergab sich, weil viele Bürger seit 1916 Münzen mit höherem Münzwert aus Silber und Gold angesichts der unsicheren Zeiten horteten und es deshalb zu einer Münzgeldknappheit gekommen war. Über den „Flaschenhals“ schrieb der kommandierende General der französischen Rheinarmee (30. Armeekorps), General Mordacq (1868-1943), in seinen Memoiren: Man hatte beim Inkrafttreten des Friedensvertrages (Januar 1920) den schlimmen Fehler begangen, einige Hektar Land in der neutralen Zone zu belassen, anstatt die beiden Brückenköpfe vollständig zu vereinigen. Dieser Lapsus gestaltete die Verbindung zwischen den Brückenköpfen sehr schwierig, was zu fortwährenden Klagen Anlaß gab.9 Unterstützt wurde diese Position durch den Wiesbadener Regierungspräsidenten Karl Wilhelm von Meister (1863-1935), der den Gebietsstreifen der französischen Zone zuschlagen wollte. Selbstverständlich sah dies die deutsche Reichsregierung ganz anders: Für das Deutsche Reich bestand hier am Mittelrhein der einzige Zugang zu dem Fluss. Für ihre Unabhängigkeit plädierten auch die Bürgermeister der in dem Gebiet liegenden zwei Städte und 30 Landgemeinden mit 17.363 Einwohnern. Zum Sprecher dieser Gemeinden wurde der Lorcher Bürgermeister Edmund Pnischek (1883-1954).10 Vom 22. November 1919 bis Ende Juni 1920 unterstand die Verwaltung des Flaschenhalses dem Landrat von Limburg im Auftrag des preußischen Oberpräsidenten in Kassel. Da die Besatzungsmächte die Grenzen für den Waren- und Durchgangsverkehr geschlossen hatten, wurden die Güter aus dem unbesetzten Teil Deutschlands über Land oder über den Rhein nach Lorch gebracht und von dort in den Rheingau geschmuggelt. Lorch wurde zum Sammelplatz der ehrsamen Schmuggler, wie der Chronist der Lorcher Volksschule zynisch schrieb. Manche dunklen, arbeitsscheuen Existenzen mit sehr weitem Gewissen und keckem Galgenmute hat sich durch dies ehrsame Schiebergewerbe in kurzer Zeit ein großes Vermögen erworben, denn unglaubliche Summen wurden hier täglich umgesetzt und als Wucherpreise den Menschen im unbesetzten Deutschland aufgebürdet. Auch Lorcher Bürger, die 8 Vgl. Ulrich KLÖPPEL: Notgeld aus dem Flaschenhals. Eine Facette der Geldgeschichte Deutschlands 19141924. In: Rheingau Forum. Heft 2/2009, S. 29-34. 9 General H. MORDACQ: Die deutsche Mentalität. Fünf Jahre Befehlshaber am Rhein. Wiesbaden 1927, S. 45-46. Mordacq trat am 10. Januar 1920 sein Kommando an, aus dem er fünf Jahre später auf eigenen Wunsch ausschied, da er mit der französischen Deutschlandpolitik nicht einverstanden war. Seine Einstellung war extrem deutschfeindlich. 10 Zu Pnischek vgl.: Nassauische Parlamentarier 1868-1933. Bearbeitet von Barbara BURKHARDT und Manfred PULT. Wiesbaden 2003, S. 257-258. Alle Darstellungen zur Geschichte des „Flaschenhalses“ basieren im Wesentlichen auf einem Bericht Pnischeks, der abgedruckt ist im: Rheingauer Heimatbrief, Folge 38/1962: Vgl. auch: Ernst FICK: Vor 50 Jahren: Der Flaschenhals , ein Kaufmannsweg ins unbesetzte Deutschland. In: Rheingauer Heimatbrief Folge 67/1969, S. 5-7 und Stephanie ZIBELL und Peter Josef BAHLES: Der Freistaat Flaschenhals. Historisches und Histörchen aus der Zeit zwischen 1918 und 1923. Frankfurt/Main 2009, S. 91121. Vgl. auch den Bericht des Regierungspräsidenten in Kassel vom 30. November 1919. Abgedruckt in: Karlheinz MÜLLER: Preußischer Adler und Hessischer Löwe. Wiesbaden 1966, S. 214-215. Vgl. auch die ergänzenden Zeitzeugennotizen von Lorenz Keiper. zuvor fast zahlungsunfähig waren, hätten dabei ihr Schäfchen ins Trockene gebracht.11 Andererseits trieben Rheingauer Bauern ihr Vieh in den unbesetzten Gebietsstreifen, damit es nicht unter die Zwangsabgabe an die Besatzungsbehörde fiel. Wein aus Weinbergen des besetzten Gebiet wurden aus demselben Grund in Lorch gelagert. Auch um das in Lorch herausgegebene Notgeld gab es Streit, da die Druckerei den anlässlich eines Steinschlags aufgelegten Geldschein mit folgendem provokanten Aufdruck versah: Als der Franzmann zog zum Rhein, kam vom Nollig12 viel Gestein. Der Geldschein musste nach Intervention der Besatzungsbehörde aus dem Verkehr gezogen werden. An Schikanen der französischen Besatzungsmacht gegenüber der Bevölkerung des „Flaschenhalses“ fehlte es nicht, um diese mürbe und bereit für den beabsichtigten Anschluss zu machen. So wurden z. B. die Telefon- und Telegrafenverbindungen sowie der Briefverkehr in die Besatzungszonen unterbunden. Bestehende Verkehrswege wurden blockiert. Bis zum 1. September 1919 hielten keine Züge an den im „Flaschenhals“ gelegenen Stationen. Den Postverkehr zwischen Lorch und Limburg übernahm Fuhrmann Perabo für ein Entgeld von 35 RM je Fahrt. Die Versorgungslage in der Region blieb prekär. Der Pfarrer von Lorchhausen nannte das von seiner Umgebung abgeschnittene Gebiet eine Falle, denn ein Pass, mit dem man in das besetzte Gebiet gelangen konnte, war nur unter Schwierigkeiten zu erlangen.13 Im April 1920 wurden Limburg, das für die Verwaltung und Versorgung des „Flaschenhalses“ Bedeutung erlangt hatte, und der „Flaschenhals“ selbst von französischen Truppen zum ersten Mal besetzt. Auf Druck der anderen Alliierten mussten sich aber die Franzosen wieder zurückziehen. Die zum Teil schikanösen und provokanten Grenz- und Kontrollregelungen für den „Flaschenhals“ wurden aufgehoben. Im Rahmen der französischen Besetzung des Rheinlandes wurde der „Flaschenhals“ ab dem 25. Februar 1923 ebenfalls besetzt und damit in die französische Besatzungszone einbezogen. Damit war der „Freistaat Flaschenhals“ an sein Ende gelangt. Deutsche, die sich der französischen Besatzung entgegen stellten, wurden ausgewiesen. Abbildung 2 und 3: Notgeld aus dem so genannten „Freistaaat Flaschenhals“. Schon ab dem 13. November 1918 zogen sich deutsche Etappenformationen von der Westfront nach Osten zurück, Fronttruppen folgten zwischen dem 28. November und dem 4. Dezember mit einem Höhepunkt am 1. Dezember. Diese Truppen durchzogen auch den Rheingau. Insgesamt mussten über drei Millionen Soldaten zurückgezogen werden. Der Rückmarsch der Truppen über den Rhein ist eine fast übermenschliche Tätigkeit, meinte die Chronik der Volksschule Lorch. 1. Weltkrieg – 2. Weltkrieg. Hrsg. von Albert ZELL. Rüdesheim 2005; S. 1920. 12 Berg oberhalb von Lorch. 13 Vgl. Kirchenchronik Lorchhausen. Auszugweise abgedruckt in: Lorchhausen. Hrsg. vom Heimatverein Lorchhausen. Memmingen 2011. Die Äußerung des Pfarrers S. 304. 11 Lorcher Schulchronik.14 Hauptlehrer Becker (Amtszeit 1901-1930) aus Hallgarten beschrieb den Rückzug ausführlich: Beim Zurückfluten unserer tapferen Heere aus Feindesland benützte ein großer Teil derselben die Hindenburgbrücke bei Geisenheim. Die Eisenbahn konnte den Abtransport dieser Truppen nur zum kleinsten Teil bewältigen, und da der im Waffenstillstand festgelegte Brückenkopf von Mainz (30 km Radius) bald von unseren Truppen geräumt werden musste, waren viele Truppenteile genötigt, von Geisenheim aus zu Fuß weiter zu marschieren.15 Ein anderer Augenzeuge berichtet: Stundenlang kamen die Transporte durch: Autos mit aller erdenklichen Last, Infanterie, Pioniere, Artillerie, Kavallerie, endlose Züge von Bagagewagen.16 Am 26. November passierte die 15. bayrische Division die Region. Allein Hallgarten hatte im November/Dezember 1.340 deutsche Soldaten und 200 Pferde zeitweise unterzubringen und zu verpflegen. In der Neudorfer (Martinsthaler) Pfarrchronik ist zu lesen: Das deutsche Heer musste in aller Eile demobilisiert werden, und auf seinem Rückmarsche bekam Neudorf wie der ganze Rheingau zahlreiche Einquartierung.17 Zerlumpt, zerfetzt, moralisch auf der niedrigsten Stufe, ohne Disziplin – so kamen sie zurück, die einst so siegreichen deutschen Truppen.18 Dies war die raue Wirklichkeit. Der öffentliche Nahverkehr besonders über die Hindenburgbrücke bei Rüdesheim wurde durch den Rücktransport der Truppen, der 5. Armee des Generals von Marwitz , bis zum 2. Dezember stark eingeschränkt. Pioniere mussten über den Rhein zusätzliche Pontonbrücken schlagen, um das Übersetzen der Truppen zu gewährleisten. Geisenheimer Einwohner kauften bei dem durchziehenden Militär Effekte und Waffen. In Rüdesheim überließen die Soldaten der einheimischen Bevölkerung gegen eine geringe Bezahlung ihre abgemagerten Pferde. So erstand zum Beispiel ein Lorcher Fuhrmann von der geschlagenen Armee zwei Pferde für 125 RM. Der Hattenheimer Hauptlehrer beschrieb die Situation so: Durch die Demobilisierung der Truppen nach dem 9. November spielte sich auf dem hiesigen Bahnhofe bei den ankommenden Zügen aus dem Etappengebiete der reinste Jahrmarkt ab. Alle möglichen Dinge von der Front wurden von den herbeiströmenden Männern, Weibern und Kindern gekauft oder gegen Milch, Wein, Kartoffeln etc. eingetauscht, sogar Pferde, Betten, Tische , Stühle, Klaviere, Grammophone, Kleider, Schuhe, Decken. In ihrer großen Habgier vergaßen sich einzelne soweit, dass sie verschlossene Eisenbahnwagen erbrachen u. daraus Mehl, Conserven, Tabak entwendeten und fortschleppten. Endlich - leider zu spät - wurde durch Verbot den Bahnsteig zu betreten dem Skandal, weil ein Ärgernis, ein Ende 14 wie Anm. 11, S. 15. Chronik der Elementarschule Hallgarten. Bd. 2, S. 36-37. Die Chronik ist unveröffentlicht und befindet sich im Besitz der dortigen Grundschule. 16 Chronik der Volksschule Geisenheim. Die Chronik ist unveröffentlicht und befindet sich im Besitz der dortigen Grundschule. 17 Zitiert nach: Patrick KUNKEL: Martinsthal 1363-1988. Martinsthal 1988, S. 152. 18 MORDACQ (wie Anm. 9), S. 73. 15 gemacht.19 Ähnliches beschreibt der auch der Chronist Herber für Bad Schwalbach: (...) Bauern kauften ganze Feldküchen mit Pferd für 150 Mark. Und: ( ) alles Mögliche sonst wurde billig losgeschlagen.20 Die Autorität der kaiserlichen Offiziere war dahin, gegen den Ausverkauf ihrer Armee konnten sie nichts mehr unternehmen. Die örtliche Presse rief die Geisenheimer Bevölkerung dazu auf, die „ruhmreichen“ Truppen feierlich zu begrüßen. Anfang Dezember wurde in der Stadt ein Festausschuss gebildet, der sich um die Ausrichtung einer solchen Feier kümmern sollte. Am 3. Adventsonntag wurde ein Festgottesdienst abgehalten, am Sonntag darauf ein Dankamt und am 23. ein Seelenamt für die Gefallenen. Von den Kanzeln wurde ein Willkommensgruß der deutschen Bischöfe an die Truppen verlesen. In Niederwalluf und andernorts wurden Triumphbögen für die deutschen Truppen errichtet. In Geisenheim empfing man die Soldaten als Sieger mit Fahnen und Triumphbogen. Alle Orte (des Rheingaus, W.H.) waren mit Fahnen, Girlanden und Ehrenpforten mit Willkommensgrüßen aufs festlichste geschmückt.21 Sogar die Landstraße durch den Rheingau war mit Tannengrün und Blumen herausgeputzt. Den Soldaten wurde alles, was Küche und Keller bot, gebracht. Der Weinhändlerverband in Wiesbaden bewilligte eine Weinspende für die zurückkehrenden Soldaten, und auch der Pfarrer von Lorchhausen spendierte nach einem Dankgottesdienst den heimgekehrten Kriegern am Neujahrstag 100 Liter Wein.22 Durch diesen Empfang konnte leicht der Eindruck entstehen, als ob der aufgezwungene Waffenstillstand eigentlich der Beginn eines für Deutschland vorteilhaften Friedens sei. In der Lorcher Chronik heißt es Ende Oktober 1918 noch in gut monarchistischer Gesinnung: Kriegsmüdigkeit und Flauheit hinter der deutschen Front wirken auch nicht vorteilhaft auf die auf die Tatkraft unserer Truppen. Und so gewinnt die Demokratie an Boden, ja sogar an Macht.23 Die Soldaten kamen, wie die Tageszeitungen der Bevölkerung weismachten, schließlich unbesiegt von der Front zurück, sie seien ungeschlagene, unbesiegte Helden24 wurde verkündet. In diesem Sinne äußerte sich auch der Rektor der Volksschule Geisenheim: Er sprach von dem bedauerlichen Rückzug unseres unvergleichlichen Heeres. Wir sind dem Feinde zwar gewichen, aber nicht von ihm von ihm besiegt (...).Das deutsche Heer habe sich nur mit Widerwillen dem neuen Regiment (dem Rat der Volksbeauftragten, W.H.), das sich auch gar zu würdelos benahm, gebeugt.25 In solchen Äußerungen ist der Ursprung der so verhängnisvollen „Dolchstosslegende“ zu sehen. Allein in Wiesbaden sollen sich bis 1920 nicht weniger als etwa 2.000 ehemalige kaiserliche 19 wie Anm. 5. Herber-Chronik, S. 249. 21 Ebenda. 22 Kirchenchronik von Lorchhausen (wie Anm. 13), S. 303.. 23 Lorcher Chronik (wie Anm. 6), S. 65. 24 So zum Beispiel der „Mainzer Anzeiger“ vom 28.11.1918. 25 wie Anm. 16. 20 Offiziere niedergelassen haben26, von denen nicht wenige diese Legende pflegten. Am 7. Dezember war der Durchmarsch des deutschen Militärs durch den Rheingau beendet, nachdem sogar Feldmarschall von Hindenburg (18471934) sich mit seinem Stab einige Tage zuvor durch diese Region zurückgezogen hatte. Die deutschen Truppen verabschiedeten sich vom Rheingau mit dem „Großen Zapfenstreich“. Am 10. Dezember wurde in Geisenheim im Hotel „Germania“ eine Feier zur Ehre der heimgekehrten Soldaten der Stadt abgehalten. In der Chronik der Volksschule Hallgarten heißt es: Sämtliche Truppen wurden hier gastfreundlich aufgenommen und so gut bewirtet als es die Zeitverhältnisse erlaubten.27 Vor allem russische und ukrainische Kriegsgefangene, die im Rheingau während des Krieges in der Landwirtschaft aushelfen mussten, wurden schon Ende November in ihre Heimatländer zurückgeschickt. In Espenschied wurden z.B. zwölf kriegsgefangene Franzosen, zwei Engländer und ein Russe wieder in ihre Heimatländer entlassen. Darüber war man recht froh, denn seit dem Waffenstillstand waren die Kriegsgefangenen schier unerträglich und unbotmäßig geworden.28 Zurückkehrende Soldaten, die nun keine Arbeit hatten und sich nur sehr schwer wieder in das Zivilleben eingewöhnen konnten, wurden im „Geisenheimer Lokalanzeiger“ durch einen Aufruf für die in Schlesien und Posen kämpfenden Freikorps angeworben.29 3. Der politische Umsturz Mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens am 11. November 1918 war das Deutsche Kaiserreich an sein unrühmliches Ende gelangt. Der Kaiser dankte am 28. November ab und ging ins holländische Exil, nachdem am neunten des Monats in Berlin die Republik ausgerufen worden war. In der Lorcher Chronik heißt es dazu: Der 9. November ist der Geburtstag einer neuen Zeit in unserem Vaterlande. 30 Schon seit einiger Zeit hatten sich in dem total demoralisierten deutschen Heer revolutionäre Gedanken breit gemacht. In der Nacht vom 8. auf den 9. November trafen einige aufständische Marinesoldaten, die von Köln bzw. Kiel kamen, mit der Eisenbahn in Wiesbaden ein. Dort schloss sich zuerst die Bahnhofswache ihrer Meuterei an. Ein Zeitzeuge berichtet: Sie rissen sich selbst die Achselklappen von den Schultern, ihren Offizieren die Epauletten und nahmen ihnen die Säbel ab. Die sich Widersetzenden wurden misshandelt. 31 Gemeinsam machte man sich auf den Weg zu den Kasernen des in der Kurstadt 26 Vgl. MORDACQ (wie Anm. 9), S. 65. wie Anm. 15, S. 37. 28 Lorcher Chronik (wie Anm. 6), S. 81. 29 Vgl. LA Nr. 9 vom 23.1.1919. 30 Lorcher Chronik (wie Anm. 6), S. 66. 31 Herber - Chronik; S. 246. 27 stationierten Ersatzbatallions des Landwehrregiments 80, wo die Mannschaften mit Kameraden aus dem Füsilierregiment 80, einen Soldatenrat bildeten. Ihm gehörten Leutnant und Assessor Schlitt (1886-1960), der spätere Landrat des Landkreises Wiesbaden (Amtszeit 1918-1928)32, Vizefeldwebel Geißler sowie die Füsiliere Hambach, Augenweich und Bolz an. Mittags gegen 12 Uhr des 9. Novembers übernahm dieser Soldatenrat das Kommando über die Garnison Wiesbaden. Die Wache vor der Kaserne erschien jetzt geschmückt mit einer roten Schleife.33 Achselstücke, Epauletten wurden auch hier den Offizieren abgenommen, um zu zeigen, dass es jetzt keine Rangunterschiede mehr gäbe. Alle Waffen waren bei dem Soldatenrat abzuliefern. In einem ersten Aufruf forderte der Rat die Bevölkerung auf Versammlungen zu vermeiden und weiterhin ihren gewohnten Beschäftigungen nachzugehen. Dessen hätte es eigentlich nicht bedurft, denn von Niedergeschlagenheit und Trauer unter der Bevölkerung war nichts zu merken. Man nahm den Umsturz als eine gegebene Tatsache hin (...).34 Im Gegenteil: Der Soldatenrat bedankte sich bei der Bevölkerung, weil diese bisher mustergültige Ordnung und Ruhe bewahrt habe.35 Am Sonntag, den 10. November, verließen viele Soldaten unerlaubt ihre Kasernen, um in ihre Heimat zurückzukehren. Am Abend zuvor hatte die linke „Unabhängige Sozialdemokratische Partei“ (USPD) im Gewerkschaftshaus in der Wellritzstraße und in der „Wartburg“ jeweils eine Versammlung einberufen, auf der man beschloss mit den gemäßigten Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) einen Arbeiterrat für die Stadt und den Landkreis Wiesbaden ins Leben zu rufen, der sich mit dem Soldatenrat verbünden sollte. Am nächsten Morgen tagten um 9.30 Uhr beide Räte zu ersten Mal als Vollausschuss zusammen. Dem vereinigten Arbeiter- und Soldatenrat gehörten von Seiten des Soldatenrates Leutnant Schlitt als Kommandant des Stadt- und Landkreises Wiesbaden, Sergeant Lindig und Matrose Spieß sowie von Seiten des Arbeiterrates Otto Haese und Franz Gröbner an. Abordnungen des Rates wurden jetzt zu allen Verwaltungsstellen der Stadt geschickt, um dort die Macht zu übernehmen. Für den 10. wurde auf dem Marktplatz zu einer Volkskundgebung aufgerufen. Daraufhin besetzten Demonstranten den Schlossplatz und die benachbarten Straßen. 50 Revolutionären gelang es, in das Schloss und den sich anschließenden Kavaliersbau einzudringen, um sich dort gelagerte Güter anzueignen. Am 17. des Monats wurde durch den Arbeiter- und Soldatenrat, der inzwischen seine Büros im Parterre des Kavaliershauses eingerichtet hatte, die Errichtung einer deutschen Republik begrüßt. Die Abschaffung des Adels und seiner Vorrechte wurden gefordert, ein Staatsgerichtshof sollte eingerichtet werden. Der Rat installierte ein Standgericht gegen Plünderer. Ein 32 Schlitt wurde zwischen dem 12. Februar und dem 1. Oktober 1924 durch die Interalliierte Rheinlandkommission ausgewiesen, da er mit einem öffentlichen Anschlag in Wiesbaden auf eine amtliche Mitteilung der Kommission geantwortet und die Reichstreue der deutschen Beamten beschworen hatte. Dies wurde als Insubordination und Auflehnung gegen die Besatzungsbehörden gewertet. 33 wie Anm. 5. 34 Ebenda. 35 Ebd. Bürgerausschuss sollte die Verwaltung übernehmen, nachdem der preußische Landrat des Landkreises Wiesbaden, von Heimburg (1859-1935), Ende November abgesetzt worden war.36 Die städtischen Behörden und der preußische Regierungspräsident von Meister (1863-1935) konnten den Arbeiterund Soldatenrat von radikaleren Maßnahmen mit dem Argument abbringen, dass revolutionäre Verhältnisse nur die erwarteten Badegäste abschrecken würden, von denen doch ein nicht unbeträchtlicher Teil der Wiesbadener Bevölkerung lebte. Noch im November vereinigten sich in der Kurstadt der Arbeiter- und Soldatenrat mit dem Vereinigten Frauenverein und dem Nassauischen Heimatdank. In Wiesbaden ereigneten sich zur Zeit der Revolution (November 1918) keinerlei ernste Unruhen, wie, General Mordacq, in seinen Erinnerungen schrieb. Er verspottete die Novemberrevolution in Wiesbaden sogar als eine pflaumenweiche Revolution (...) eine Revolution, die eben auch nur eine Vortäuschung war.37 Der Publizist Gorrenz bestätigt diesen Eindruck, wenn er schreibt, dass sich die Revolution in Wiesbaden in Formen vollzog, die nicht zahmer und harmloser sein konnten. Im Gegenteil wirkte insbesondere das wichtigtuerische Gebaren einiger Matrosen und sonstiger A- und S-Räte operettenhaft. Leutnant Schlitt bescheinigte er, dass er redlich bemüht war, die gröbsten Ausschreitungen zu verhindern.38 In den Rheingaugemeinden entstanden ebenfalls Arbeiter- und Bürgerräte neben der offiziellen Verwaltung und den Gemeindevertretungen, so zum Beispiel in Rüdesheim unter dem Vorsitz von Andreas Rückert mit fünf, in Geisenheim unter Martin Scholl mit 15 Mitgliedern sowie in Kiedrich unter Peter Krams und Johann Schwed und in Aulhausen unter Peter Schröder.39 In Lorch kam ein Arbeiter- und Bauernrat unter dem Ingenieur Josef Diel zu Stande. Zum Schutz der Bürger rief er eine Bürgerwehr ins Leben. Zunächst wurde das örtliche Lebensmittellager inspiziert und dabei Unregelmäßigkeiten festgestellt, die der Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden. Auch gegen die Wilderei ging der Rat energisch vor. Dem Lorcher Arbeiterrat war kein langes Leben beschieden, da eine solche Einrichtung in der neutralen Zone nicht geduldet wurde.40 In Niederwalluf wurde ebenfalls ein Arbeiterrat gebildet und in Presberg ein Bauernrat ins Leben gerufen. Über den letzteren heißt es: Man konnte sich nicht einigen. Zwei Parteien gerieten sich in die Haare. Es schien bald Blut zu fließen.41 In Hattenheim machte sich der Hauptlehrer sogar über den dort gebildeten Arbeiter- und Bauernrat lustig: Die Revolution in den ersten Tagen im November 1918 nahm in Hattenheim einen formlosen Verlauf. Die Sonntagsurlauber aus den Garnisionen in Wiesbaden , Mainz u. 36 Vgl. Wiesbadener Zeitung vom 27.11.1918. MORDACQ (wie Anm. 9), S. 198 und 200. 38 Heinz GORRENZ: Die Franzosenzeit in Nassau und in Frankfurt am Main. Frankfurt/Main 1930, S. 5. Die Broschüre muss kritisch gelesen werden, da es sich um eine Kampfschrift handelt. 39 Vgl. Chronik Aulhausen. Hrg. von der STADT RÜDESHEIM. Rüdesheim 2009, S. 403-404. Dort ist auch das Programm des Rates abgedruckt, dem ein wenig revolutionärer Charakter bescheinigt wird (S.404). 40 Vgl. wie Anm. 11, S. 16. 41 Chronik der Volksschule Presberg. Bd. 2, S. 72. Die Chronik ist unveröffentlicht. Eine Kopie befindet sich im Besitz des Verf. 37 Darmstadt erschienen ohne Kokarde u. Achselklappen, die ihnen halbwüchsige Jungen abgeschnitten hatten. Eine Versammlung in der Gastwirtschaft Noll zwecks Wahl eines Soldaten- und Arbeiterrates war nur sehr schwach besucht u. verlief in ulkigster Weise wie das Hornberger Schießen. Die Anwesenden wählten zwar einen Arbeiter- und Bauerrat, von dessen Existenz man aber nicht weiter gemerkt hat.42 Die Räte wurden auch im Rheingau in Versammlungen durch Zuruf oder Abstimmung, meist in offener Wahl gewählt, oder die SPD benannte die Mitglieder, in ländlichen Gebieten wurden auch Bauern und Bürgerliche gewählt, schreibt Heinrich August Winkler. Zu ihrer Zusammensetzung heißt es: Die Mehrheit der örtlichen Arbeiter- und Soldatenräte neigte der SPD zu, und zwar in Hessen und im Rheinland eindeutig der Mehrheitssozialdemokratie. In Geisenheim überwog in dem Rat mit zwei Dritteln industrieller und landwirtschaftlicher Arbeiter durchaus das proletarische Element. Der Wiesbadener und die Rheingauer Räte waren politisch eher gemäßigt und strebten keine Umgestaltung Deutschlands nach dem Vorbild der sowjetischen Rätebewegung an. Sie betrachteten sich als reine Übergangsorgane, die die Verwaltungen so lange kontrollieren mussten, bis es aus Wahlen demokratisch legitimierte, aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene Volksvertretungen gab.43 Ihnen ging es in erster Linie um die praktische Gestaltung des schwierigen Nachkriegsalltags im Sinne der arbeitenden Bevölkerung. So kontrollierten die Räte zum Beispiel die Lebensmittelverteilung an die Bevölkerung. Norbert Brühl beschreibt die Aktivitäten des Arbeiterrates in Niederwalluf: Die Mitglieder des Arbeiterrates erschienen am 11. November morgens 9 Uhr auf dem Rathaus (...) und erklärten dem Bürgermeister Jansen (...), dass die Verwaltung der Gemeinde von jetzt an durch sie geschehe, und dass er nur ihre Anweisungen zu befolgen habe. Ihr Hauptaugenmerk richteten sie auf die Verteilung der noch vorhandenen Lebensmittel. Auch die aus- und eingehende Post wurde von ihnen in abendlichen Sitzungen erledigt. Nach reichlich acht Tagen Die Franzosen erkannten überhaupt keine „Räte“ mehr an und fegten sie im Besatzungsgebiete alle weg.44 Die Besatzungsmacht wollte auf keinen Fall mit revolutionären Forderungen konfrontiert werden oder sich mit einem unbekannten Machtfaktor auseinander setzen, weshalb sie die Räte auch rasch auflöste. Der französische Kommandant des Rheingaus, Graf Percin, war geradezu vor einer irrationalen Bolschewistenfurcht besessen. Allerdings gingen aus diesen Arbeiter- und Bürgerräten oft die 1918/19 gegründeten sozialdemokratischen Ortsvereine hervor – so zum Beispiel in Geisenheim und Kiedrich. In Lorch entstand aus dem Arbeiter- und Bauernrat in harter Konkurrenz zu der Zentrumspartei ein demokratischer Bürgerverein. Die 42 wie Anm. 5. Heinrich August WINKLER: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918-1924. Bonn. 2. Auflage 1985, S. 65. 44 wie Anm. 5. 43 Mitglieder des Arbeiter- und Bürgerrates in Geisenheim verweigerten aus ihrer durch die verheerenden Erfahrungen des Krieges heraus gespeisten pazifistischen Haltung heraus die Teilnahme an dem Gottesdienst für die heimkehrenden Soldaten, was zu einem Eklat mit dem dortigen Pfarrer führte. An der Jahreswende 1918/19 entstanden auch die anderen politischen Parteien der Weimarer Republik, die die verschiedenen politischen Strömungen bzw. Parteien der Vorkriegszeit wieder aufnahmen und weiterführten. Das Zentrum konnte dabei im Rheingau an seine dominierende Stellung aus der Vorkriegszeit ohne weiteres anknüpfen. 1919 konnte auch die Sozialdemokratie im Rheingau bei den Wahlen einige Erfolge erzielen.45 Die „Christliche Volkspartei“, eine Absplitterung des Zentrums, die für einen unabhängigen Rheinstaat eintrat, und die separatistische „Rheinische Volksvereinigung“, gegründet am 22. Januar 1920 in Boppard, spielten in unserer Region zu keiner Zeit eine Rolle. Im Gegenteil: Bei einer Versammlung am 10. März in Amöneburg stieß die „Rheinische Volksvereinigung“ auf den heftigen Widerstand der dortigen Arbeiterschaft. Schon Mitte November 1918 gab es Pläne, eine Verfassungsgebende Nationalversammlung nach Frankfurt (sic!) einzuberufen. Generell erlaubte die französische Besatzungsmacht die Teilnahme der Bevölkerung des von ihr besetzten Rheinlandes an der Wahl zur Nationalversammlung, verbot aber gleichzeitig die Abhaltung von Wahlveranstaltungen in Gemeinden ohne französische Besatzung, die zuvor auch noch beantragt und genehmigt werden mussten. Die Wahlreden mussten der Besatzungsbehörde vorgelegt werden, die sich das Recht vorbehielt, Wahlversammlungen auch aufzulösen, wenn Äußerungen gegen sie gemacht wurden. Wahlredner aus dem unbesetzten Deutschen Reich konnten nur mit einem Pass in das Besatzungsgebiet einreisen. Auch zur Verfassungsgebenden Preußischen Landesversammlung wurden Wahlen erlaubt. Tabelle 1: Ergebnisse der Wahl zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung am 19.1.1919 im Rheingau.46 Die Gemeindeparlamente, die noch nach dem undemokratischen preußischen Dreiklassenwahlrecht zu Stande gekommen waren, sollten durch wirklich demokratisch legitimierte Gremien abgelöst werden. Ende Januar 1919 wurden die bisherigen Gemeindevertretungen aufgelöst. Eine Neuwahl sollte am 2. März erfolgen. Diese wurde dann aber von der französischen Militärbehörde untersagt und auf den 26. November 1919 vertagt. In Geisenheim traten zu dieser Wahl eine Liste Erhard, die der Deutschen Volkspartei (DVP) nahe stand und die städtischen Honoratioren repräsentierte, eine sozialdemokratische Liste Scholl, eine Zentrumsliste Kranz und eine 45 Vgl. Walter HELL: Parteien und Wählervereinigungen im Rheingau zur Zeit der Weimarer Republik. In: DERSELBE: Vom Mainzer Rad zum Hessischen Löwen. Erfurt 2008, S. 116-122. 46 Vgl. LA Nr. 8 vom 21.1.1919. linksliberale Liste Badior (Deutsche Demokratische Partei), die die Kleinbürger vertrat, an. Das Zentrum erreichte einen Sitz (8) mehr als die Mehrheitssozialdemokraten (7). Ernestine Spitz wurde auf der SPD-Liste als erste Frau im Rheingau in ein Kommunalparlament gewählt. DVP und DDP erlangten ein bzw. zwei Mandate. Mehrheiten erzielte die MSPD nur in Eibingen, Aulhausen, Niederwalluf und Johannisberg. Die Wahlbeteiligung lag in den einzelnen Orten zwischen 65 und 70%. Die französische Militärbehörde in Rüdesheim musste im Januar die Rheingauer Pfarrer scharf zurechtweisen, da sie massiv zu Gunsten des Zentrums in die Wahlkämpfe eingriffen.47 In Köln war am 4. Dezember 1918 in zwei Parallelveranstaltungen des Zentrums die Gründung einer Rheinisch - Westfälischen Republik beschlossen worden und zwei Tage später machte die katholische „Kölner Volkszeitung“ einen Vorschlag zur Gliederung Deutschlands in vier Republiken.48 Der erste Versuch zur Errichtung einer Rheinischen Republik von Frankreichs Gnaden fand im Frühjahr 1919 mit dem Höhepunkt am 30.Mai/1.Juni statt. Am 1. Juni riefen Separatisten in Wiesbaden die Rheinische Republik aus. Präsident dieser Republik sollte der Jurist und Separatistenführer Hans Adam Dorten (1880-1963) werden. Drei Tage später versuchten Anhänger Dortens das Wiesbadener Regierungspräsidium zu besetzen. Sie stießen dabei auf den erbitterten Widerstand des stellvertretenden Regierungspräsidenten Springorum (1862-1927) und reichstreuer Beamter. Tatsächlich gelang es den Separatisten unter dem Schutz französischer Soldaten einige Amtsräume zu requirieren. Dabei kam es zu einem Handgemenge und Schlägereien. Daraufhin erschien der oberste Beamte der französischen Besatzungsbehörde, Oberst Pineau, und erklärte die Neutralität der Besatzungsmacht in diesem Konflikt. Er stand der Errichtung eines Separatstaates in Westdeutschland ablehnend gegenüber. Der Aufstand war damit, bevor er überhaupt richtig begonnen hatte, schon zusammengebrochen.49 Die Gründung einer Rheinischen Republik fand jedoch auch im katholischen Rheingau durchaus Resonanz. In Johannisberg wurden Flugblätter, mit denen für eine solche Republik geworben wurde, verteilt. Ein entsprechender Anschlag am Rathaus wird eifrig gelesen und lebhaft erörtert. Endlich los von Preußen, heißt es in der Pfarrchronik.50 Die katholischen Pfarrer von Erbach, Neudorf (Martinsthal) und Oberwalluf vermeldeten auch eine gewisse Zustimmung der Bevölkerung zu diesem Vorhaben. Der aus Eltville stammende Bischof von Limburg, Augustinus Kilian 47 Zu der Analyse dieser Wahlen vgl.: Walter HELL: Wahlen und Abstimmungen zur Zeit der Weimarer Republik im Rheingau. In: Nassauische Annalen. Bd. 120 (2009), S. 519-522. Lorchhausen, Lorch, Ransel und Wollmerschied sind in der Tabelle nicht aufgeführt, da sie zu dieser Zeit nicht im besetzten Rheingau, sondern in der neutralen Zone zwischen dem Bodental und der Loreley lagen. 48 Vgl. Kölnische Volkszeitung Nr. 961 vom 6.12.1918. Die Gründung einer solchen Republik war nach dem Blatt angeblich als Abwehrmaßnahme gegen eine französische Annektion des Rheinlandes gedacht. 49 Christoph ZEHLER: Dr. Dortens misslungene Staatsgründung. In: Jahrbuch 2012. Rheingau-Taunus-Kreis, S. 38-40. 50 Chronik der Pfarrgemeinde Johannisberg, S. 44. Die Chronik ist unveröffentlicht und befindet sich im Besitz der Pfarrgemeinde (1856-1930), stimmte der Errichtung eines autonomen Rheinstaates im Februar 1919 zu. Eine Haltung, die er am 6. Juni 1919 in einem Brief an den Landrat des Unterlahnkreises jedoch modifizierte: Er sprach sich darin gegen die Gründung einer Republik Großhessen und einen Anschluss des einstmals nassauischen Gebietes an die geplante Rheinisch-Westfälische Republik aus.51 In Eltville beschloss am 23. Juni 1919 eine Versammlung der Zentrumsvertrauensmänner des Wahlkreises Rheingau - Wiesbaden - Lahnstein unter ihrem Vorsitzenden, dem aus Erbach stammenden Geistlichen Wilhelm Schilo (1848-1920), der auch Vorstandsmitglied im Rheingauer Weinbauverband war, in der Gegend durch die Geistlichen Stimmen für die Rheinische Republik zu sammeln.52 Dies gelang in 50 Gemeinden des Wahlkreises. Auf dieser Versammlung ergriff auch Hans Adam Dorten das Wort. In Geisenheim konnte ein großer Teil der Katholiken für die Errichtung einer Rheinischen Republik im Verbund des Deutschen Reiches gewonnen werden, wie Pfarrer Eduard Stähler (1875-1934) am 9. Juli 1919 festhielt.53 In Lorchhausen gab es ebenfalls Sympathien für den Rheinstaatsgedanken, auch wenn Pfarrer Gramig von Lorchhausen (Amtszeit 1910-1930) 1923 die Separatisten als gedungene Knechte und hergelaufenes Gesindel beschimpfte.54 Der Rheinstaatsgedanke fand insbesondere unter den Rheingauer Winzern, aber auch im Bürgertum Anklang. Der französische Kreisverwalter Armand55, Nachfolger des Grafen Percin in Rüdesheim, setzte sich ebenfalls vehement für einen Rheinstaat ein. Die „Rheinische Korrespondenz“, die sich ebenfalls für eine Rheinische Republik engagierte, bezogen im Rheingau Pfarrer Jung in Mittelheim, Josef Ehret in Rüdesheim und die Weinhandlung Wittmann in Assmannshausen.56 Eher zurückhaltend äußerten sich in der Frage eines unabhängigen Rheinstaates die Rheingauer Zeitungen. Der in Rüdesheim erscheinende „Rheingauer Bote“ meinte zu dem Separatistenputsch am 1. Juni 1919: Die Tragweite dieser Vorgänge ist zur Zeit noch nicht zu überschauen (...). Niemand weiß so recht, wer alles hinter dieser Bewegung steht, welchen Rückgrat sie hat. Selbst wer die Idee billigt und von ihr Gutes erhofft, kann mit der Art, wie sie jetzt durchgeführt werden soll, nicht einverstanden sein.57 Die „Eltviller Zeitung“ 51 Vgl. Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abteilung 405, Nr. 5675. Vgl. Martin SCHLEMMER: „Los von Berlin“. Die Rheinstaatsbestrebungen nach dem Ersten Weltkrieg. Köln 2007, S. 128-129, 244 und 259 (dort das Zitat). Zu den separatistischen Bestrebungen vgl. auch: Herbert MÜLLER-WERTH: Die Separatistenputsche in Nassau. In: Nassauische Annalen. Bd. 79 (1968), S. 245-328. Alle bisherigen Ausführungen zum Separatismus im Rheingau fußen auf GORRENZ (wie Anm. 38) und der von Rektor BERTRAM in den „Rheingauer Heimatblättern“ Nr. 15 gegebenen Darstellung, behandeln jedoch vorwiegend die Ereignisse im Jahr 1923. 53 Vgl. Erwin BISCHOF: Rheinischer Separatismus 1918-1924. Berlin 1969, S. 93. 54 Kirchenchronik von Lorchhausen (wie Anm. 13), .307. 55 Zu Armand vgl.: GORRENZ (wie Anm. 38), S. 115. Über ihn heißt es dort: (...), er hatte alle Fäden in der Hand und ließ die Puppen tanzen, wie er wollte. Gorrenz schreibt weiter: Er war der Schrecken des Rheingaus, weil er dort die separatistischen Bestrebungen aktiv beförderte. Er habe eine unabhängige Republik im Kleinen im Rheingau einrichten wollen. Armand war, bevor er sein Amt im Rheingau antrat, Adjutant des Marquis de Lillers gewesen. De Lillers war zunächst französischer Verbindungsoffizier zum englischen Oberkommando in Koblenz, bevor er 1923 zum französischen Oberdelegierten in Wiesbaden ernannt wurde. 56 Vgl. SCHLEMMER (wie Anm. 52), S. 194. 57 Rheingauer Bote Nr. 65 vom 4.6.1919. 52 schrieb: Ob sich die Bevölkerung mit den Plänen der Verkünder dieser Rheinischen Republik einverstanden erklärt, lässt sich vorerst nicht feststellen (...).58 Die „Geisenheimer Zeitung“ berichtete: Mit großer Verwunderung haben wohl sämtliche Einwohner des Rheingaus am letzten Sonntagmorgen die allenthalben angeschlagenen Plakate gelesen, die die Errichtung einer Rheinischen Republik ankündigen.59 Nur der zentrumsnahe „Rheingauer Bürgerfreund“ druckte eine ausführliche Stellungnahme des 60 separatistenfreundlichen „Mainzer Neuesten Anzeiger“ ab. Einzelne Mitglieder der Zentrumspartei unterstützten zwar dieses Unternehmen, der Vorstand der Zentrumspartei sei aber von der Ausrufung der Rheinischen Republik überrascht worden, war aus der „Eltviller Zeitung“ zu erfahren. Der Pfarrer von Frauenstein, der später in Assmannshausen amtierte, sandte dagegen eine Solidaritätsadresse an Dorten. Der Pfarrer war noch 1922 überzeugt, dass die überwiegende Mehrheit des rheinischen Volkes, wie 1919 so auch heute noch für die Errichtung eines Rheinstaates eintreten wird, sobald ihr Gelegenheit geboten wird (…).61 Dies darf aber dann doch bezweifelt werden. Im „Wiesbadener Tageblatt“ hatte der Vorsitzende der „Deutschen Demokratischen Partei“ in Wiesbaden, Justizrat Alberti (1855-1929), bereits im Januar die Standpunkte einzelner Parteiein zu den separatistischen Bestrebungen deutlich gemacht: Tatsächlich aber hat sich die Demokratische Partei in Rheinland und Westfalen bereits mit aller Entschiedenheit gegen die Trennung von Preußen verwahrt. Daß auch die Sozialdemokraten einen Rückfall in die Kleinstaaterei nicht mitmachen werden, kann wohl ebenfalls erwartet werden. So bleibt lediglich die Zentrumspartei, welche als Trägerin des Trennungsgedankens erscheint ( ).62 Auch die junge Kommunistische Partei sprach sich gegen den Separatismus aus. Die Zentrumspartei Wiesbadens und des Rheingaus vertrat unter dem Einfluss des Zentrumspolitikers und Chefredakteurs der „Rheinischen Volkszeitung“, in der auch die in Oestrich von der Witwe Etienne seit 1883 herausgegebene „Rheingauer Volkszeitung“ 1901 aufgegangen war, Dr. Franz Geueke (1887-1942), deutlich eine preußenfeindliche Position. Die antipreußische Stimmung unter der katholischen Rheingauer Bevölkerung kann auf den rabiaten preußischen Militarismus, die rücksichtslose preußische Zivilverwaltung in den katholischen Gegenden, die Eingriffe in die Eigentumsrechte der Bürger während des Krieges und die bestehende Anarchie im Deutschen Reich nach dem verlorenen Krieg zurückgeführt werden. Sicher hallten in der preußenfeindlichen Haltung der Rheingauer Bevölkerung auch noch Ressentiments aus dem 58 Eltviller Zeitung vom 4.6.1919. Geisenheimer Zeitung vom 3.6.1919. 60 Rheingauer Bürgerfreund. (im Folgenden zitiert als RBf) Nr. 64 vom 3.6.1919. 61 Dokument 20 in: SCHLEMMER (wie Anm. 52), S. 771. 62 Wiesbadener Tagblatt Nr. 41 vom 30.1.1919. 59 Kulturkampf nach. Bei der Errichtung einer Rheinischen Republik dachten deren Befürworter mehrheitlich keineswegs an eine Herauslösung dieses (Teil)Staates aus dem Verband des Deutschen Reiches, wie dies eine Erklärung der Geisenheimer Zentrumspartei verdeutlicht.63 Die katholische, dem Zentrum nahestehende „Rheinische Volkszeitung“, die auch im Rheingau viel gelesen wurde, hatte schon am 28. Januar die Richtung vorgegeben: Wir wollen selbstverständlich nicht die Loslösung vom Deutschen Reich, sondern von Preußen (...).64 Ein Zeitzeuge aus Bingen schreibt in seinen Erinnerungen: Der rheinische Separatismus war keine homogene Bewegung. Es gab mehrere Flügel, von denen die Rheinische Republikanische Volkspartei die völlige Lostretung der Rheinlande vom deutschen Reich verfocht. Eine andere Gruppierung, die sog. Rheinische Volksvereinigung, wollte eine Art Autonomie der Rheinlande im Reichsverband durchsetzen. Eine dritte Gruppe schließlich, der auch einige katholische Geistliche und der eine oder andere Politiker nahe standen, bezeichnete sich als Christliche Volkspartei. Diese Gruppe soll vor allem auf dem flachen Land und in den kleineren überwiegend katholischen Städten eine gewisse Resonanz gefunden haben.65 Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 wurden die Separatisten von diesen unerbittlich verfolgt. Franz Geuecke wurde zum Beispiel verhaftet und 1942 in Buchenwald ermordet. Der Rheingauer Separatistenführer Pleines musste nach Frankreich emigrieren. Im Oestrich wurden im Juli 1933 vier Separatisten von SA-Männern in so genannte Schutzhaft genommen. Der dortige Zentrumsbürgermeister Becker (Amtszeit 1910-1933) musste sich gegen den Vorwurf des Separatismus wehren. Eine besondere Rolle spielte in der Nachkriegszeit im Rheingau das Schloss Johannisberg, das nicht wie der übrige Rheingau zu Preußen gehörte, sondern eine österreichische Exklave bildete. Der „Geisenheimer Lokalanzeiger“ schreibt dazu: Bei dem Wandel der Dinge glaubt man jetzt allgemein, dass der Johannisberg mit Umgebung (25 ha) dem deutschen Rheingaukreis angegliedert werden soll. Schon am 28. November hatten radikale Kräfte auf dem Schloss die rote Fahne gehisst, um anzuzeigen, dass der Johannisberg in dem neuen Staat in Volkseigentum zu überführen sei. Der stockkonservative Pfarrer von Johanniberg mutmaßte, dass die Fürstlich Metternich´sche Domäne Schloß Johannisberg in Gedanken von den Radikalen schon aufgeteilt wurde.66 Dabei offenbarte die auf dem Schloss wohnende Fürstin Metternich, obwohl sie gegenüber den Franzosen ihre tschecho - slowakische Abstammung betonte, dass sie sehr gut deutsch geblieben war (...).67 63 SCHLEMMER (wie Anm. 52), S. 131. Rheinische Volkszeitung Nr. 24 vom 28. 1.1919. 65 Thilo RUPPEL/STRIETH : Mein Schulweg führt durch den Burggraben. Bingen 2000, S. 56. 66 Chronik der Pfarrgemeinde Johannisberg, S. 40. 67 MORDACQ (wie Anm. 9), S. 151. 64 4. Die französische Besatzung Am 27. November 1918 hatte der französische Oberkommandierende, General Fayolle (1852-1928), seinen Truppen den Befehl erteilt in Richtung auf den Rhein vorzurücken. Am 8. Dezember erreichte ein französisches Vorauskommando bestehend aus zwölf Offizieren mit Mannschaften Mainz. Am nächsten Tag folgten 1.000 Mann des französischen Infanterieregiments 154 und des 10. Jägerregiments. Die Rheinbrücken, so auch die Hindenburgbrücke bei Rüdesheim, wurden sofort gesperrt. Ein schwerer Schlag für das einheimische Wirtschaftsleben. Am 13. marschierten französische Truppen bei Mainz über der Rhein, um dort ihren rechtrheinischen Brückenkopf zu installieren. Wiesbaden wurde besetzt. Dabei wurden die Besatzungstruppen zunächst mit einer gewissen Erleichterung aufgenommen, da sie der Nachkriegsanarchie ein Ende setzten. Andererseits herrschte aber auch die Trauer über den Niedergang Deutschlands vor. Die Jüdin Mathilde Mayer beschreibt ihre Gefühle beim Einmarsch der Franzosen in Bingen: Es war mir schrecklich und die Tränen liefen mir die Backen hinunter. Wir waren damals noch gute Deutsche.68 In der Kreisstadt Rüdesheim richtete die französische Besatzungsmacht am 18. Dezember eine Kreiskommandantur mit drei Offizieren und 150 Soldaten, die in diversen Hotels, der städtischen Turnhalle und im Gesellenhaus untergebracht wurden, ein. In Eltville wurden vom Dezember 1918 bis zum Juni 1919 an die 3.000 Mann französische Truppen stationiert. Die Ortskommandantur wurde im Elzer Hof eingerichtet. Zum letzten Säbelrasseln kam es in Eltville anlässlich der Unterzeichnung des Versailler Vertrages: Im Juni rückte nämlich ein schweres Artillerieregiment mit Motorgeschützen in die Stadt ein. In Neudorf waren zeitweise 600-700 französische Dragoner mit 70-80 Pferden stationiert.69 In Hattenheim durchquerten erste Besatzungstruppen am 13. Dezember das Dorf, am 27. wurden dort bis zum 12. Januar des folgenden Jahres zwei Kompanien mit etwa 300 Mann einquartiert.70 Am 28. Dezember wurden kurzzeitig in Stephanshausen französische Dragoner stationiert, von denen die meisten Anfang Januar 1919 nach Presberg verlegt wurden. Im August kamen erneut französische Truppen nach Stephanshausen, darunter 8090 Algerier, die dort in den Gastwirtschaften und in der Schule untergebracht wurden.71 Auf dem Forsthaus „Weißer Turm“ bei Presberg wurden im Dezember 1919 vier französische Kavalleristen stationiert, die auch nach dem Ort zu patrouillierten. Noch war es für die Presberger Bevölkerung einfach nach Lorch in die neutrale Zone zu gelangen. Dann wurden jedoch zwei französische Grenzposten eingerichtet, die den Warenverkehr überwachen sollten. Diese 68 wie Anm. 7, S. 96. Vgl. KUNKEL (wie Anm.17). 70 wie Anm. 5. 71 Vgl. 750 Jahre Stephanshausen. 250 Jahre „St. Michael“. Redaktion: Heinz – Dieter MOLITOR. Wiesbaden 1999, S. 80. 69 Posten waren aber leicht mit Zigaretten zu bestechen. Es ist eine verkehrte Welt, die Welt in und um Presberg herum, schrieb der Lehrer. Presberg war jetzt Grenzort geworden. Im allgemeinen kann man aber sagen, dass die französischen Soldaten gegenüber der Bevölkerung sehr anständig waren, ist in der Presberger Schulchronik zu lesen.72 Dennoch kam es bei einem Tanzvergnügen zwischen Besatzungssoldaten und der männlichen Jugend des Ortes zu einer Schlägerei, die mit schweren Verletzungen von zwei Franzosen endete. Farbige Besatzungssoldaten wirkten bei der tätlichen Auseinandersetzung mäßigend. Nachdem die umliegenden Rheingaugemeinden schon einige Wochen zuvor Besatzungstruppen aufnehmen mussten, erhielt auch Geisenheim am 4. Februar 1919 eine Einquartierung von 200 Mann französischer Truppen. Diese zogen aber nach 14 Tagen wieder ab. Später kam es erneut zu einer Stationierung von Truppen in der Stadt. Im Spätsommer des Jahres war dort kein französischer Soldat mehr zu sehen. In Johannisberg waren ab dem 7. März 140 französische Soldaten mit Pferden stationiert. Bürgermeister Brasser von Aulhausen klagte: Der Ort ist ganz von Franzosen belegt.73 Presberg wurde ab dem 15. des Monats zuerst mit französischer Infanterie, dann mit Dragonern und anschließend mit einer halben Kompanie marokkanischer Kolonialsoldaten bis zum 16. September des Jahres belegt. Die Soldaten wurden dort in der Schule und in der Wohnung der Lehrerin untergebracht. In Espenschied wurden am 19. Februar 21 französische Soldaten stationiert, zu denen sich am 8. April noch 22 Algerier mit etwa 30 Pferden gesellten. Die Besatzungskosten waren horrend. Leider liegen uns dazu für den Rheingau keine näheren Angaben vor. Der Landkreis Wiesbaden hatte jedenfalls 1926 noch die immense Summe von 667.772 RM, 313.876 für die französische und 353.892 für die britische Besatzung aufzubringen.74 Die Schulen trafen die Kriegsfolgen überhaupt sehr hart. Nicht nur, dass Lehrer im Krieg gefallen oder verwundet worden waren und deshalb manche Unterrichtstunde ausfallen musste, auch die Einquartierung von Soldaten erschwerte den Unterrichtsbetrieb. In einem Teil der Volksschule Rüdesheim waren zuerst im November 1918 zurückströmende deutsche Truppen untergebracht, anschließend französische und vom August bis zum November 1920 belgische Besatzungstruppen. Die Volksschule Geisenheim beherbergte Ende 1918 deutsche und vom Februar bis zum September 1919 französische Truppen. Die Volksschule Hallgarten war schon am 18. Oktober geschlossen worden, da unter den Schülern eine Grippeepidemie grassierte und das Gebäude auch nicht mehr beheizt werden konnte. Der am 18. November wieder beginnende Unterricht musste vom 5. bis zum 9. Dezember wieder eingestellt werden, da deutsche Truppen in der Schule untergebracht werden mussten. Im Nachbarort Hattenheim wurde die Räume der dortigen Volksschule vom 23. 72 wie Anm. 41, S. 79. Das Zitat S. 96. Zitiert nach: Chronik von Aulhausen (wie Anm. 39), S. 31. 74 Vgl. Der ehemalige Landkreis Wiesbaden. Hrg. von Albert HENCHE. Wiesbaden 1930, S. 284. 73 November 1918 bis zum 12. Januar 1919 abwechselnd von deutschen und französischen Truppen beansprucht.75 Dass der Unterricht ausfiel, wurde von den Schülern zunächst mit Freude aufgenommen. Selbst Ende 1923 waren noch 531 Schulräume in der französischen Besatzungszone beschlagnahmt. Diese Maßnahme betraf 18.000 Schüler. In Lorch konnten die Schüler, die die höheren Schulen in Geisenheim und Rüdesheim besuchten, diese nicht erreichen, da in dem Städtchen, das in dem freien Teil Preußens lag, keine Züge hielten. In Wiesbaden waren im Juni 1920 etwa 2.500 Mann französisches Militär in Kasernen untergebracht, davon ein Schützenbataillion Marokkaner. Dazu kamen noch Offiziere, Zivilbeamte, Heeres- und Familienangehörige. Insgesamt stationierte die französische Besatzungsmacht zwischen 120.000 und 155.000 Soldaten in 220 Orten ihres Besatzungsgebietes, darunter etwa 20.000 Farbige. Diese lösten bei der deutschen Bevölkerung geradezu einen von den französischen Befehlshabern durchaus gewollten Schock aus, da die ländliche Bevölkerung solche Menschen zuvor noch nie gesehen hatte.76 Über sie schreibt der Presberger Lehrer verständnisvoll: Am anständigsten waren wohl die marokkanischen Soldaten, die Araber. Es war eine scharf disziplinierte Truppe. Gutmütige Menschen waren es, diese schwarzen Mohammedaner, alle von der einen Sehnsucht geplagt, bald wieder ihr sonniges Afrika zu sehen. Auch sie lieben die Freiheit und haben so schwer unter der französischen Knute zu tragen.77 In der Tat wurden die Kolonialtruppen von ihren französischen Offizieren mit drakonischen Strafen bei der geringsten Unbotmäßigkeit belegt. Die französischen Offiziere hätten vor ihren schwarzen Soldaten als betes sauvages (wilde Bestien) gewarnt, bemerkt Herber. Die Kerle sind ganz toll auf weiße Frauen, fährt er fort. Es sei auch zu Diebstählen, Überfällen und Vergewaltigen im Raum Bad Schwalbach gekommen. 78 Fraglich bleibt aber, ob diese insgesamt den farbigen oder überhaupt den Besatzungstruppen anzulasten sind. Im Rheingau wurden die farbigen Besatzungssoldaten, meist Nordafrikaner, „Utscheböbbes“ oder „Hawwera“, in Wiesbaden und Mainz auch „Kultebbiddel“79 genannt. Im Dezember 1920 75 Vgl. wie Anm. 5. General MORDACQ rühmte sich in seinen Memoiren (wie Anm.9), S. 25, dazu beigetragen zu haben, dass schwarze Soldaten aus dem Senegal in Mainz stationiert wurden. 77 wie Anm. 41, S. 97. 78 Herber- Chronik, S. 252. 79 Die Herkunft und Bedeutung des Begriffes ist umstritten. Bei Carl Zuckmayer wird er in seinem Stück „Der fröhliche Weinberg“ für die aus Verbindungen zwischen farbigen Soldaten und deutschen Frauen hervorgegangene Bastardkinder gebraucht. Karl SCHRAMM teilt in seinem Mainzer Wörterbuch. Mainz. 5. Auflage 1978, S. 262, mit, der Ausdruck sei in seiner Jugend synonym für „Bettpisser“ - so auch Herber in seiner Chronik - verwendet worden. Schramm zitiert auch den Stadtamtmann Diel, der behauptet, der Ausdruck sei eine Verballhornung der Namen der nordafrikanischen Garnisionsstädte Oudjidda und Sidi bel Abbes. „Kultebiddel“ waren nach SCHRAMM, S. 152, die Angehörigen der französischen farbigen Reitertruppen (Spahi), die kultartige weiße Mäntel zu ihrer Uniform trugen. „Hawwera“ lässt sich möglicherweise aus dem jiddischen „Chawer“ = „Genosse“, „Kamerad“, „Gefährte“ ableiten. Es könnte über das Rotwelsch, wo es auch „Komplize“ und „Bandenmitglied“ bedeutet, in die deutsche Sprache gelangt sein. 76 waren noch sechs marokkanische Soldaten im Rheingau stationiert.80 Sie galten den rechtsgerichteten deutschen Politikern und Militärs als die „schwarze Schmach“. Der Presberger Lehrer argwöhnte in rassistischer Manier, dass deren Blut in dem Dorf hängen bleiben könnte. Der Chronist Herber bemerkte: Die holde Weiblichkeit , nicht blos Unverheiratete, verlor ihre Herzen an hübsche Franzosen und man erfand für diesen Verkehr das prägnante Wort Chocolate – Promenade (...).81 Im Kreis St. Goarshausen wurden 1930 32 uneheliche Kinder gezählt, die aus Verbindungen mit Besatzungssoldaten entstammten und die verächtlich „Rheinlandbastarde“ genannt wurden.82 Der Oestricher Historiker Dr. Hanns Bibo, später in der NSDAP-Kreisleitung für die Volkstumspflege zuständig, schrieb in der 1924 vollendeten „Ortsgeschichte des Fleckens Oestrich im Rheingau“: Pfui, dass es deutsche Männer geben konnte, die mit diesen Rassenschändern paktierten.83 Gemeint waren damit die demokratischen Politiker der Weimarer Republik, die gezwungen waren, den Versailler Vertrag zu unterschreiben. Der Zeitzeuge Herber sah in den marokkanischen Truppen geradezu Wilde, während er den Franzosen eine gute Manneszucht bescheinigte . Die Mannschaften waren meist anständig und benahmen sich in den Häusern ruhig und gesittet, schreibt er.84 Aber auch diese wurden von der Bevölkerung gemieden, wie sich der Zorner Bürger Albert Kramer erinnerte.85 Abbildung 4: Französische Besatzungstruppen an der Fasseiche in Winkel.(Foto Karlheinz Christ). Den Einmarsch der französischen Truppen erlebten junge Rheingauer so: Eingeschüchtert und beschämt standen wir halbverdeckt unweit der Einmündung des Brückenweges (der Hindenburgbrücke, W.H.) in die Straße nach Geisenheim und erlebten dieses uns junge Deutsche bedrückende Geschehen (...). Wir hatten den Glanz des Kaiserreiches gesehen und jetzt sollten wir seinen Untergang erleben. Eine Welt ist in uns zusammengebrochen86 Der preußische Landrat in Rüdesheim rief die Bevölkerung dazu auf, die Besatzungstruppen nicht zu provozieren und deren Vorschriften zu beachten. Ein ähnlicher Aufruf erging an die Schüler der Realprogymnasiums in Geisenheim. In der Kreisstadt bestimmte der Bürgermeister, dass alle Fahnen, Kränze und Sonstiges, was für die Feier der Zu den farbigen französischen Besatzungssoldaten im Rheingau vgl.: Horst DICKEL: „Utscheböbbes“, „Hawerra“ und „Kultebüttel“ oder Wie der Rheingau einmal richtig schwarz war. In: Wiesbaden. Hinterhof und Kurkonzert. Hrsg. von Gerhard HONEKAMP. Melsungen 1996, S. 70-71. 81 Herber - Chronik, S. 258. 82 Vgl. RBf Nr. 56 vom 10.5.1930. 83 Die Ortsgeschichte von Oestrich aus der Feder von Alfred HERBER mit Nachträgen von Hanns BIBO wird im Stadtarchiv Oestrich - Winkel aufbewahrt. 84 Herber- Chronik, S. 251-252. 85 Vgl. Christoph CUNTZ: Kein schöner Land als Flaschenhals. Wiesbadener Kurier vom 19.10.1992. 86 Heinrich DRIES: Der November 1918. In: Rheingauer Heimatbrief, Folge 109/1979; S.8. 80 zurückkehrenden deutschen Truppen bestimmt war, zu entfernen sei, bevor die Franzosen in die Stadt einmarschierten.87 In einem Aufruf im Dezember 1918 hieß es: Die alliierte Militärbehörde übernimmt den Oberbefehl im Land.88 Der französische Militärkommandant in Rüdesheim verhängte sofort Ausgangssperren für die Rheingauer Bevölkerung. Ab 20 Uhr war der Verkehr auf den Straßen verboten. Mitte Januar 1919 wurde diese Zeit auf 22.30 Uhr erweitert. Nur über die Weihnachtsfeiertage 1918 wurden die Sperrstunden etwas zurückgenommen. Es kam zu Requisitionen der Besatzungsmacht, die französische Uhrzeit wurde eingeführt. Alle Waffen, auch Jagdgewehre, waren innerhalb von zwei Tagen abzugeben. Waffenfähige Männer zwischen 17 und 50 Jahren durften das Kreisgebiet nicht verlassen, wenn sie nicht wie Kriegsgefangene behandelt und nach Frankreich deportiert werden wollten. Der Eisenbahnverkehr auf der rechtsrheinischen Strecke wurde bis Anfang Januar 1919 unterbunden, dann konnten täglich wieder sechs Züge zwischen Oberlahnstein und Wiesbaden verkehren. Einschränkungen waren auf der Schiene noch bis Anfang 1920 zu beobachten. Briefe wurden zunächst nicht mehr in und aus der besetzten Zone befördert. Selbst im Februar 1919 gab es noch Beschränkungen im Brief-, Telefon- und Telegrafenverkehr zwischen dem besetzten und dem unbesetzten Gebiet. Verschickt werden durften nur zuvor zensierte Geschäftsbriefe und später auch nur Postkarten mit rein persönlichem Inhalt. Zahlungsverkehr per Postscheck war nur bis zu einem Betrag von 50 RM zulässig. Die Nassauische Landesbank wurde von der Besatzungsbehörde mit 20.000 RM bestraft, da sie eingelöste Coupons im Wert von 3.000.000 RM ins unbesetzte Frankfurt verbracht hatte. Der Fährverkehr zwischen Rüdesheim und Bingen konnte erst am 20. Januar wieder aufgenommen werden. Die Bevölkerung musste sich um ab dem März gültige, neue Legitimationskarten (Carte d`ìdentite) bemühen. Wer ohne eine solche angetroffen wurde, hatte eine Strafe von zehn Reichsmark zu zahlen. Da die Legitimationskarte aber ein Lichtbild enthalten musste, entstanden für viele, besonders ältere, Bürger einige Komplikationen, da sie über ein solches nicht verfügten. So musste nach Presberg ein Fotograf aus Lorch bestellt werden, der alles, was noch Beine hatte, vors Objekt nahm89 ,um dort die notwendigen Lichtbildaufnahmen zu machen. Zunächst durfte die Geisenheimer Bevölkerung sich nicht außerhalb der Stadtgrenzen bewegen, dann mit einer Legitimationskarte nach Johannisberg und Rüdesheim und ab dem 15. Februar 1919 in alle Rheingaugemeinden. Pfarrer Fischbach (Amtszeit 1919-1939), der am 1. Oktober 1919 von Langendernbach nach Hallgarten versetzt worden war, gelang es erst 18 Tage später seine neue Pfarrstelle im besetzten Rheingau anzutreten. Seinem Mitbruder, Pfarrer Zentgraf (Amtszeit 1919-1928), erging es nicht besser. Er bekam ebenfalls erst im Oktober eine Einreiseerlaubnis nach Presberg. Die Gaststätten durften ab Mitte Januar 1919 wieder bis 22 Uhr 87 Rheingauer Anzeiger vom 7.12.1918. LA Nr. 150 vom 21.12.1918. 89 wie Anm. 41, S. 75. 88 öffnen. Gastwirte in Erbach wurden schwer bestraft, weil sie französischen Soldaten den Franc bei der Umrechnung in Reichsmark zu gering berechnet hatten. Dabei waren sie überhaupt nicht verpflichtet französische Franc als Zahlungsmittel entgegen zu nehmen. Die Ausfuhr von Waren aus dem besetzen Gebiet wurde verboten, während die Besatzungszone von zollfreien französischen Waren überschwemmt wurde. Dies beeinträchtigte insbesondere den Rheingauer Weinhandel, aber auch die Industrie, wie zum Beispiel die Maschinenfabrik Johannisberg in Geisenheim und die Chemiefabrik in Winkel. Zeitungen, Zeitschriften und Broschüren, die nicht aus den Ländern der Alliierten kamen, wurden am 23. Dezember 1918 verboten. Durch ein Entgegenkommen der französischen Militärverwaltung wurde unter bestimmten Bedingungen und einer vorherigen Zensur die Einfuhr von Büchern in das Besatzungsgebiet wieder erlaubt. Der Zensur unterlag auch die Rheingauer Presse, die deshalb an manchen Tagen mit leeren oder geschwärzten Stellen erscheinen musste. Im Gegenzug gab die Besatzungsmacht ab Mai 1919 in Mainz das deutsch-französische Presseorgan „Le Rhin illustre“ heraus. In den drei oberen Klassen der Rheingauer Volksschulen wurde bis 1925 ein zweistündiger Französischunterricht eingeführt, den Besatzungsoffiziere inspizierten. Französisch zum Pflichtunterricht in den Volksschulen zu machen, gelang jedoch nicht. In Geisenheim gab es zunächst drei, später fünf Französischkurse, an denen bis zu 100 Personen teilnahmen. Die Besatzungsmacht verteilte an die Kursteilnehmer Geschenke: An die Kinder Schokolade und an die Erwachsenen Mehl oder sogar Kaffee. Die Lehrer wurden streng überwacht. Der Geisenheimer Rektor schreibt: In der Schule muß man sehr vorsichtig sein, da die Besatzung jede Äußerung merkte.90 An dem Realprogymnasium in Geisenheim wurde die Erlernung der englischen Sprache zu Gunsten der französischen zurückgedrängt. Überhaupt nahmen französische Besatzungsoffiziere besonders auf den Deutsch- und Geschichtsunterricht Einfluss. Schulbücher wurden zensiert und Aufsatzthemen beanstandet. Mit seiner Besatzungspolitik verfolgte Frankreich die schon lange gehegte Absicht seine Ostgrenze bzw. Einflussgebiet dauerhaft an den Rhein zu verlegen. Ein eifriger Verfechter dieser Politik war der französische Ministerpräsident Clemenceau. Dabei betrieb man gegenüber der Bevölkerung eine Politik mit Zuckerbrot und Peitsche. Eine Machtdemonstration war der Truppenbesuch von Marschall Foch am Rhein. Im Mai 1919 fuhr er eskortiert von zwölf Flusskanonenbooten auf dem Dampfer „Bismarck“ (sic!) den Rhein entlang. Das Rheingauer Flussufer war dabei menschenleer.91 90 91 wie Anm. 16. Vgl. Helmut RIENÄCKER: Chronik von Assmannshausen. Geisenheim 1990, S. 106. 5. Die Versorgungslage Was Hunger und Kälte bedeuteten, wusste die deutsche Bevölkerung spätestens seit dem so genannten Steckrübenwinter 1916/17. In der Geisenheimer Schulchronik ist zu lesen: 1918 war das Wildgemüse nicht so sehr begehrt, als im vorigen Jahr, in dem alles Wintergemüse erfroren war. Aber in anderen Dingen besserten sich die Ernährungsverhältnisse nicht. Obst gab es sozusagen keins und wurde zu unerschwinglichen Preisen verkauft. Kochäpfel kosteten bis 100 M d. Zentner, besseres Obst bis 200 M. Auch die Kartoffel lieferte knappe Erträge.92 Unter der geschwächten Bevölkerung grassierte zu allem Überfluss im Spätsommer und Herbst 1918 auch noch die spanische Grippe. Im Rheingau waren es namentlich die Städte Eltville und Lorch, in denen man täglich mehrere Leichenzüge sehen konnte.93 In dem Wisperstädtchen waren 33 Totesfälle vor allem unter der jüngeren Bevölkerung zu beklagen, im benachbarten Assmannshausen zwei. In Lorch erlag auch Bürgermeister Travers im Alter von 39 Jahren der Krankheit. Manche Schulklassen waren kinderleer, wie der Chronist berichtet.94 Zusätzlich grassierte in Lorch auch immer wieder die Ruhr. Prekär wurde die Versorgungslage jedoch erst in den letzten Kriegsmonaten und in der Zeit danach, als die Rohstoff- und Warenlieferungen aus den von deutschen Truppen besetzten Ländern ausblieben. Unterernährung und Sterblichkeit waren die Folgen.95 Schon am 27. Dezember 1918 schrieb der Wiesbadener Oberbürgermeister Glässing (1866-1952) an den französischen Oberadministrator, Oberst Pineau, dass jede längere Störung, wie sie durch die schon vierzehn Tage dauernde Störung gegeben ist, bei der geordneten Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln zu einer Katastrophe führen werde.96 Der Rüdesheimer Rektor Bertram bestätigt dies, wenn er rückblickend schreibt, dass die Nahrungsmittelnot (…) mit der Besatzung nicht behoben wurde, sondern die schlimmsten Kriegsjahre übertraf. Besonders die Kinder und Jugendlichen, die oft die im Feld stehenden Soldaten in der Landwirtschaft ersetzen mussten, litten unter der Not. Bertram fährt fort: Die mit allen möglichen Ersatzmitteln aufgezogene, ausgemergelte und bleiche Jugend besaß nicht mehr die Spannkraft dem Unterricht voll und ganz zu folgen.97 Sein Geisenheimer Kollege bestätigt dies. Er schreibt: Immer auffälliger tritt jetzt die Unterernährung der Kriegsjahre zu Tage. Immer mehr bleiche Gesichter tauchen in der Kinderschar auf. Vielfach klagen die Kinder über Rücken-, Kopf- und Leibschmerzen, alles Zeichen von Schwäche und Blutarmut. In Geisenheim wurden 124 Kinder, die dringend eine Aufbesserung der Kräfte 92 wie Anm.16. Ebenda. 94 Chronik Lorch (wie Anm. 6), S. 79. 95 Kirchenchronik Lorchhausen (wie Anm. 13), S.303. 96 Stadtarchiv Wiesbaden, A XIII c, Bd. 30. 97 Heinrich BERTRAM: Hundert Jahre Rüdesheimer Schule. Beilage zum „Rheingauer Anzeiger“ vom 30.9.1930. 93 nötig haben, den Behörden gemeldet.98 In den Schulen mussten Schulspeisungen organisiert werden. Abbildung 5: Schulspeisung in der Volksschule Geisenheim (Foto aus der Schulchronik) Der Kreisausschuss des Rheingaukreises legte für die Zeit vom 18. bis zum 24. November 1918 eine fleischlose Woche fest. Anfang Dezember wurde die Wochenmenge an Roggenbrot pro Person mit 2.400 Gramm bestimmt. Gleichzeitig wurde ein Höchstpreis von 65 Pfennigen für 1.200 Gramm Roggenbrot und 30 Pfennige für ein Kilo Roggenmehl festgesetzt, um so dem Wucher Einhalt zu gebieten. Am 19. November mussten die Rheingauer Elektrizitätswerke die Stromversorgung einschränken, da der Nachschub an Kohle zu gering war. Ab dem 10. Dezember wurden wechselweise der obere und dann der untere Rheingau ganz von der Stromversorgung abgeschnitten. Anfang Januar belieferten dann die Franzosen die Elektrizitätswerke mit Saarkohle, so dass dies wieder Strom erzeugen konnten. Erst im Februar erreichten den Rheingau wieder einige Waggons Kohle, Koks und Briketts die Privathaushalte. Zwischen Februar und Ende 1919 stieg der Preis für Kohle im Rheingau von 4,90 auf neun bis elf Reichsmark für einen Zentner Kohle: Viele Familien haben nichts zu brennen. Die Lichtlieferung litt zeitweise. Fabriken müssen ihre Arbeit einstellen.99 Bis zum 31. Dezember 1918 wurden private Schweineschlachtungen ganz untersagt, in Geisenheim konnte man jedoch auf der Freibank billiges, aber qualitativ minderwertiges Pferdefleisch kaufen. In Hattenheim meinte eine alleinstehende Frau, als sie aus der Metzgerei trat: Mein Stück Fleisch ist so groß wie meine Brosche.100 Über die Lebensmittelverteilung hieß es: In der letzten Zeit haben sich bei der Lebensmittelverteilung besonders beim Fleischverkauf Übelstände erwiesen (...). Moniert wurde vor allem, dass die Lebensmittelverteilung zu langsam vonstatten gehe, zu lange Pausen bei der Ausgabe entstünden und nicht immer die richtige Reihenfolge der Wartenden eingehalten werde.101 In Geisenheim ging das Gerücht um, die Stadtverwaltung habe an die ärmere Bevölkerung im Stadtteil Pflänzer Sonderrationen an Fleischkonserven ausgegeben. Bei einem Lebensmittelverkauf der 5. deutschen Armee Mitte Dezember in Bingen hatte die hiesige Bevölkerung das Nachsehen.102 Überhaupt versuchte die Rheingauer Bevölkerung sich immer wieder mit den nötigsten Lebensmitteln auf der anderen Rheinseite einzudecken, da in der von der Monokultur des Weinbaus bestimmten Rheingauer Landwirtschaft nicht genug Nahrungsmittel produziert werden konnten. Am 14. Januar 1919 bat 98 wie Anm. 16. Ebenda. 100 Zit. n. der Chronik der Volksschule Hattenheim (wie Anm. 5). 101 LA Nr. 149 vom 19.12.1918. Dort auch das vorhergehende Zitat. 102 Ebenda Nr. 147 vom 14.12.1918. 99 deshalb die Rüdesheimer Stadtverwaltung die Militärbehörde, der Bevölkerung den Einkauf von Lebensmitteln auf der anderen Rheinseite zu erlauben. Dagegen wehrte sich aber die Regierung des Volksstaates Hessen. Sie ließ verlauten: Es wird darauf aufmerksam gemacht, daß neuerdings die Hamsterfahrten der Rheingauer Bevölkerung ins linksrheinische Gebiet durch schärfstes Vorgehen der deutschen (d. h. der hessischen, W.H.) Behörden unterbunden werden sollen.103 Doch was sollte die hungrige Rheingauer Bevölkerung machen, die auf die Hamsterfahrten nach Rheinhessen unter allen Umständen angewiesen war ?104 Der Hattenheimer Hauptlehrer beschrieb die Situation so: Scharen von Kartoffelnhamstern zogen bis weit in Hessen u. die Pfalz hinein, um die heißbegehrte Frucht oft für viel Geld – pro Pfund 20-50 Pfennige - zu erbetteln u. mühsam über den Rhein zu bringen.105 Pfarrer Kilb von Neudorf hielt fest: Mag das Dörfchen auch stundenweit von der Bahn entfernt sein, über alle Wege ergießt sich ein Strom von Städtern. Man sucht Kartoffeln, Bohnen, Erbsen, Fleisch, Fett und anderes mehr.106 Der Rektor der Volksschule Geisenheim schrieb: Geisenheimer Leute gingen über den Rhein nach Hessen, um Lebensmittel einzukaufen: Man nahm alles, was man bekam, und bezahlte, was gefordert wurde. Im Jahre 1918/19 stand das „Hamstern“ in höchster Blüte. Viele machten schließlich ein Gewerbe daraus, und das war nicht nur verächtlich, sondern auch gemeinschädlich und die Schule des Wuchers, des Diebstahls und der Bettelei. Aber die meisten gingen aus Not (...).107 Allgemein bot der um sich greifende Schleichhandel und die Hamsterei Anlass zur Klage. Bewusst wurden oft auch Lebensmittel zurückgehalten, um Wucherpreise damit zu erzielen. Doch die Versorgungslage war auch im linksrheinischen Bingen nicht gerade rosig, wie aus den Lebenserinnerungen Mathilde Mayers zu entnehmen ist: Nur von bekannten Bauern und ständigen Lieferanten (ihrer Firma, W.H.) konnte man für viel Geld und viele gute Worte Kartoffeln und Gemüse, von Fleisch ganz abgesehen, bekommen. Schon während des Krieges wurden in den Gärten Hühner und Gänse gezogen (...).108 Im Januar 1919 stieg allein der Preis für einen Zentner Kartoffeln im Rheingau von 5,50 RM auf 6,75 RM an, da der Kreis nur unzureichend mit diesem Nahrungsmittel versorgt werden konnte. Mitte Februar 1919 wurde die tägliche Kartoffelration von 500 auf 400 Gramm abgesenkt. In Hattenheim stellte sich die Situation so dar: (...) im Frühjahr trat spec. in Hattenheim eine große Not an Kartoffeln ein. Die Lieferungen aus Norddeutschland blieben aus u. so hatten viele Familien gegen Ostern keine Kartoffeln mehr, selbst die Selbstversorger standen im Mai vor leeren Kellern.109 Auch an Futtermitteln 103 Ebd. Nr. 33 vom 2.3.1919. Vgl. auch: Rheingauer Anzeiger vom 17.3.1919. LA. Nr. 39 vom 3.4.1919. 105 Ebenda. 106 Zit. n. KUNKEL (wie Anm. 17). 107 wie Anm. 16. 108 wie Anm. 7, S. 97. 109 wie Anm. 5. 104 herrschte ein gravierender Mangel. Landwirtschaft und Gartenbau, die während des Krieges vernachlässigt worden waren, mussten um jeden Preis wieder in Gang gebracht werden. Zum 1. Februar legte die Kreisverwaltung die Lebensmittelrationen neu fest. Danach standen einer erwachsenen Person täglich 40 Gramm Gries, 40 Gramm Haferflocken, 220 Gramm Graupen und 30 Gramm Marmelade zu. Schwerstarbeiter erhielten einmal im Monat eine Zusatzration von 125 Gramm Reis und 400 Gramm Speck. An Kinder wurden monatlich drei Pfund Zucker, ein Pfund Weizenmehl, ein Pfund Gerstenmehl und drei Pakete Kekse ausgegeben. Ende Februar wurde ein Geisenheimer Fuhrmann, der ohne Erlaubnis der Behörden eine Ladung Gerste nach Wiesbaden fahren wollte, erwischt. Er wurde hart bestraft und seine Ware beschlagnahmt. Im März kam es erneut zu einem massiven Versorgungsengpass: Die Mehlzufuhr stockt. Die Brotversorgung ist deshalb nur für kurze Zeit gesichert, schrieb der „Geisenheimer Lokalanzeiger“.110 Angesichts dieser Übelstände griff die Bevölkerung zur Selbsthilfe. In Geisenheim wurden im Februar aus einem Gemeindelager drei Zentner Zucker gestohlen. Für Kohle wurde ein Höchstpreis von 4,20, für Briketts von 3,00 und für Koks von 5,10 RM je Zentner von den Behörden bestimmt. Ein Weinbergarbeiter verdiente zur selben Zeit täglich acht RM, Frauen nur vier. Anfang April gewährte die französische Armee der Rheingauer Bevölkerung eine einmalige Sonderzuteilung von 180 Gramm Reis, 1.620 Gramm Mehl und 126 Gramm Speck. Dies belegt, dass die französische Militärverwaltung keineswegs an einer Aushungerung der deutschen Bevölkerung interessiert war. Im Gegenteil: Die gezielt ausgegebenen Sonderrationen an Lebensmitteln und die mancherorts organisierten „soupes populaire“ („Suppenküchen“) sollten die deutsche Bevölkerung im Sinne einer „penetration pacifique“ („friedlichen Durchdringung“) für die Besatzungsmacht und ihre Rheinlandpolitik einnehmen.111 Ein von der französischen Besatzungsmacht eingerichteter Lesesaal mit französischer Lektüre im Kurhaus von Bad Schwalbach wurde kaum frequentiert. Zu einem dort ausgerichteten Bällen oder Militärkonzerten kamen nur Dienstmädchen und Dirnen. Auch zu der von der Besatzungsmacht betriebenen Volksküche kam dort so gut wie niemand. Das dort ausgegebene essen bezeichnet Herber als Schweinefraß.112 Oberst Pineau betonte denn auch schon am 13. Januar 1919: Was die Versorgung mit Lebensmitteln und Kohlen betrifft, so hat die französische Behörde ihr niemals im Wege stehen wollen; die deutschen Behörden haben sich allein damit zu befassen.113 Die Lebensmittelrationen wurden im Frühjahr 110 LA Nr. 30 vom 13.3.1919. Vgl. Paul TIRARD: La France sur le Rhin. Douz annees d´occcupation rhenane. Paris 1930, S. 281. Tirard war der französische Oberdelegierte in der 1920 gegründeten „Internationalen Rheinland – Kommission“. Er war Mitglied des französischen Staatsrats, 1912-14 französischer Zivilgouverneur in Marokko. Er befürwortete einen französisch beeinflussten Rheinstaat, allerdings pflegte er dabei einen eher diplomatischen Stil. 112 wie Anm. 78. 113 Stadtarchiv Wiesbaden, A XIII c, Bd. 32. 111 1919 heraufgesetzt. Jeder Erwachsene erhielt nun täglich 200 Gramm Reis und 300 Gramm Mehl, dazu 70 Gramm Speck. Im freien Handel kosteten ein Pfund Reis 1,70, ein Pfund Speck 5,00 und ein Pfund Mehl 1,30 RM. Der Geisenheimer Volksschulrektor schrieb: Das Jahr 1919 brachte Mehl, Fett und Fleisch aus Amerika zu einem unerschwinglichen Preise (...). Auch die Kleiderpreise sind unerschwinglich.114 Da die Preise der arbeitenden Bevölkerung davonliefen, verlangte diese nach einem Lohn- und Gehaltsausgleich. Eine Forderung, der sie auch mit Streiks Nachdruck verlieh. In Lorch streikten zum Beispiel die Weinbergsarbeiter und – arbeiterinnen am 22. April, um eine Lohnforderung von täglich zehn bzw. fünf Reichsmark durchzusetzen.115 Eine verhängnisvolle Lohn - Preis - Spirale wurde in Gang gesetzt. Tabelle 2: Die Entwicklung der Lebensmittelpreise Mitte 1914- Mitte 1920:(jeweils 500 Gramm in Reichsmark) In Folge des Krieges ging die Bevölkerungszahl des Rheingaus zurück. Der Jahresbericht der Kreisverwaltung für das Jahr 1918 meldete 219 gefallene Ehemänner, 427 im Lazarett verstorbene Soldaten, 54 Vermisste und neun in der Heimat verstorbene Soldaten.116 Johannisberg erreichte selbst 1939 noch nicht wieder die Bevölkerungszahl von 1910. Die Bevölkerung Geisenheims nahm von 4.171 (1910) auf 3.956 Personen (1919) ab. Es gab dort jetzt einen Überhang von 284 Frauen gegenüber der männlichen Bevölkerung. Die Zahl der Haushaltungen nahm dagegen um 30 zu. Johannisberg verlor zwischen 1919 und 1925 108 Mitbürger.117 Es kam zu einer allgemeinen Wohnungsnot, der durch Neubauten bei den heutigen teuren Preisen nicht abgeholfen werden kann, wie der „Geisenheimer Lokalanzeiger“ schrieb.118 Bedarf bestand insbesondere an preiswertem Wohnraum für sozial schwache Familien, nachdem der Wohnungsbau schon in der Vorkriegszeit sträflich vernachlässigt worden war. Verschärft wurde die Lage auf dem Wohnungsmarkt noch dadurch, dass Ende 1923 in dem Besatzungsgebiet immer noch 15.-17.000 Privatwohnungen für französische Offiziere und zivile Beamte der Besatzungsmacht beschlagnahmt waren. Ein Lichtblick für die Bevölkerung waren die hohen Preise, die die 1918-er Rheingauer Weine im freien Verkauf erzielten. Ein Halbstück wurde Ende 1918 für 8.000 bis 10.500 Reichsmark verkauft, Ende 1919 sogar für 18.00020.000, und Anfang 1920 schon für 29.000-30.000. Auslesen brachten es im Viertelstück auf einen Preis von bis zu einer Viertel Million. Eine Flasche eines solchen Weines kostete versteuert bis zu 1.000 RM. Gewöhnliche Weine 114 wie Anm. 16. Vgl. wie Anm. 11, S. 18. 116 75 Jahre Rheingaukreis. Hrsg. vom KREISAUSSCHUSS. Rüdesheim 1962, S. 25. 117 Vgl. RBfr. Nr. 27 vom 27.6.1925. 118 LA Nr. 131 vom 11.11.1919. 115 brachten es immerhin noch auf Preise von drei bis fünf Reichsmark je Flasche. Der steigende Preis ist aber auch ein deutliches Anzeichen für die zunehmende Inflation. Der gewöhnliche Mann verlernt bei diesen Preisen das Weintrinken, das kommt nur noch den Kriegsgewinnlern zu, kommentiert die Geisenheimer Schulchronik.119 Dabei mussten die Weinhändler auf der Hut sein, dass ihnen nicht gefälschte Reichsbanknoten angedreht wurden, vor denen in der Presse immer wieder gewarnt wurde. Überhaupt verlor die Reichsmark rasant an Wert. Der offizielle Kurs betrug im Februar 1919 einen Franc zu 1,65 Reichsmark, nachdem er im Dezember 1918 noch bei 1:1,40 gelegen hatte. Der Wert des Schweizer Franken lag am 1. November 1919 noch bei 1,37 RM, ein Jahr später schon bei 6,75. Nach dem verlorenen Krieg waren zunächst viele Arbeiter ohne Arbeit. So stellte der Wiesbadener Oberbürgermeister im Januar 1919 fest, dass nunmehr die Lage der Fremden- und Hotelindustrie nach der Absperrung unhaltbar geworden sei.120 Dies betraf im Rheingau in erster Linie Rüdesheim und Assmannshausen. Rheingauer Arbeiter, die in der Rüstungsproduktion beschäftigt gewesen waren, suchten wieder Arbeit in der zivilen Produktion. Solche Arbeiter suchte zum Beispiel das Geisenheimer Kaolinwerk. Die Parole lautete: Arbeiten oder wir gehen zu Grunde.121 Wer keine Arbeit fand, lebte in Armut. Von der Erwerbslosenfürsorge hatte er Ende Dezember 1918 als männlicher Erwachsener täglich nur 3,60 RM zu erwarten. Frauen sogar nur 2,20 RM. Für seine Ehefrau erhielt ein Anspruchsberechtigter 1,20, für Kinder über 14 Jahre denselben Betrag und für solche unter 14 Jahren 0,80 RM. Ein Hilfsnachtwächter kam zur gleichen Zeit auf einen Tageslohn von sieben RM. Bei all der Not und dem Elend der Nachkriegszeit ist es nicht verwunderlich, wenn der „Geisenheimer Lokalanzeiger“ am 4. März 1919 feststellen musste: Äußerlich erinnerte kaum etwas an den Fastnachtssonntag von einst. 122 6. Zusammenfassung Der oben dargestellte Systemwechsel fand zunächst mit der Unterzeichnung der Pariser Vorortverträge am 28. Juni 1919, zu denen auch der Versailler Vertrag gehörte, der zum 10. Januar 1920 in Kraft trat, einen vorläufigen Abschluss. Er ist ohne Gefühlsergüsse aufgenommen worden, kommentierte der Geisenheimer Volksschulrektor den Vertrag.123 Die Tatsache, dass der Rheingau bis 1930 wie die übrigen Rheinlande noch besetztes Gebiet war, prägte nachhaltig die Geschichte der Region zur Zeit der Weimarer Republik. Im Rheingau bestand weiterhin ein katholisch - konservatives Milieu, das politisch von der 119 wie Anm. 16. Stadtarchiv Wiesbaden (wie Anm. 97). 121 LA Nr. 145 vom 10.12.1918. 122 Ebd. Nr. 26 vom 4.3.1919. 123 wie Anm. 16. 120 Zentrumspartei dominiert wurde. Extremistische Parteien, wie zum Beispiel die NSDAP, die die Besatzungsmächte bis zum Beginn des Jahres 1926 verboten hatten, spielten bis 1932 keine Rolle. Die Parteien der so genannten Weimarer Koalition fanden bis dahin bei Wahlen immer eine Mehrheit. Wirtschaftlich kam der Rheingau, in dem der Weinbau nach wie vor eine bedeutende Rolle spielte, nur sehr langsam wieder auf die Beine. Die Rheingauer Weinwirtschaft und Industrie verloren zum nicht unbedeutenden Teil ihre Absatzmärkte oder mussten mit ausländischen Produkten, hier besonders französischen, konkurrieren. Der Weinhandel und der Tourismus erwiesen sich als extrem krisenanfällig. Die enorm hohen Weinpreise Ende 1919/Anfang 1920 nehmen nur schon die Hyperinflation 1923 vorweg. Auch Handel und Gewerbe litten unter den wirtschaftlichen Kriegsfolgen. Nicht zuletzt waren die Kleinrentner, zum Teil ehemals vermögende Leute, die ihr Vermögen durch die Inflation verloren, eine finanzielle Belastung für die einzelnen Gemeinden, die deren Renten aufstocken mussten. Unter diesen Umständen ist es umso erstaunlicher, dass die Rheingauer Bevölkerung in ihrer Mehrheit die junge Republik nicht ablehnte und bereit war in schwerer Zeit ihren Weg in dem neuen Staat zu finden.