Libkan Bazaeva Menschenrechte in muslimisch geprägten Ländern Sehr geehrte Damen und Herren, Ich freue mich sehr, heute Sonja Biserko und Jestina Mukoko zum Erhalt des diesjährigen Weimarer Menschenrechtspreis gratulieren zu können und alle früheren Träger dieser ehrenvollen Auszeichnung und unsere Freunde zu begrüßen. Heute erinnere ich mich wieder an den Tag, als ich selbst diese Auszeichnung erhielt. Ich habe das Preisgeld in den Bau einer kleinen Schule in einem tschetschenischen Bergdorf gesteckt. Die Schule war durch Bomben im Krieg zerstört worden. Seit 1994, seit ich im Menschenrechtsschutz aktiv bin, habe ich erfahren, dass diese Arbeit nicht nur eine schöne und dankbare Tätigkeit gemäß meinen Überzeugung ist, sondern auch sehr schwer und verantwortungsvoll, mit viel Stress und großem Risiko. Auf diesem Weg gibt es viele Erfolge, viel Glück, aber manchmal verliert man auch sehr viel. Ja, die Situation in Tschetschenien ist im Vergleich zu Kriegszeiten besser geworden. Es gibt jetzt nicht mehr diese massiven Säuberungsaktionen, während derer Menschen spurlos verschwanden und umkamen. Aber auch heute ist die Wahrung der grundlegenden Menschenrechte noch ein Zukunftstraum, ein Ziel, auf das wir beständig hinarbeiten. Dieses Jahr war für die Menschenrechtsarbeit in Tschetschenien tragisch. Zuerst wurde unsere Kollegin Natalja Estemirova, Mitarbeiterin des Menschenrechtszentrums Memorial, entführt und erschossen. Dann wurden Zarema Sadulaeva und ihr Mann erschossen. Sie leitete eine humanitäre Organisation. Ausserdem wurde eine Mitarbeiterin des Dänischen Flüchtlingsrates entführt. Es ist eine bittere Tatsache, dass dies der einzige Moment ist, wo Frauen bei uns die gleichen Rechte wie Männer haben: das Recht, ohne Gesetz und Gericht entführt und ermordet zu werden. Als jemand, die sich in jüngster Zeit intensiv mit der Lage von Frauen in unserem Land beschäftigt hat, und als Vorsitzende des Rehabilitationszentrums für Frauen "Frauenwürde", kann ich sagen, dass die rechtliche Lage der tschetschenischen Frauen in den letzten Jahren sehr schwierig und kompliziert ist. Die Schwierigkeit ihrer Rechtssituation besteht darin, dass sie sich in einem Dreieck befinden, in dem drei Rechtsnormen gelten: Zum einen die Normen des tschetschenischen Gewohnheitsrechts "Adat", das das zwischenmenschliche Leben regelt. Zum zweiten das Schariat, das islamische Rechts und zum dritten die Verfassung der Russischen Föderation, die eine formale Position bezieht, aber die sich schlecht gegen diese starke Konkurrenz durchsetzen kann und die ständig durch die Staatsorgane der Tschetschenischen Republik selbst verletzt wird. Die tschetschenischen Staatsorgane erlauben sich grundlegende Verletzungen der Menschenrechte, die in der Verfassung der Russischen Föderation verankert sind. Das betrifft vor allem die Entführung und Ermordungen, aussergesetzliche Verhaftungen und Folter. Natürlich sind die Rechte von Frauen in einer solchen Situation sehr verletzlich. Die hohe Arbeitslosigkeit in Tschetschenien hat ein weibliches Gesicht. Eine Frau hat es viel schwerer, Arbeit zu finden und zu bekommen, erstens, weil sie eine Frau ist, zum zweiten, weil sie oft nicht genügend ausgebildet ist, weil in den letzten Jahren aufgrund des Krieges die Qualität der Ausbildung sehr nachgelassen hat, und zum dritten, weil sie zu Hause sitzt und ihrem Mann gehorsam ist, wie es ständig die politischen Führungskräfte propagieren. Besonders gefährdet sind die Frauenrechte im Bereich des Familienlebens, wo das Gesetz des Schariats und das nationale Gewohnheitsrecht des „Adats“ vorherrscht. Das Schariatsrecht hält die Frau in einer untergeordneten Position in ihrer Familie. Arbeiten oder studieren kann sie nur, wenn der Mann der Familie dies erlaubt. Im Adat ist ihre Lage noch schwieriger, besonders als Witwe oder Geschiedene. Und es gibt sehr viele Witwen in Tschetschenien. Es gibt keine offizielle Statistik, aber wir denken, dass das auf jede fünfte Frau zutrifft. Man kann sagen, dass jede zweite Witwe von Verletzungen sowohl des Erbrechts als auch des Sorgerechts betroffen ist. Gemäß des Adats zwingt man eine Frau nach dem Tod des Ehemannes, das Haus des Mannes zu verlassen und dabei ihr Eigentum sowie ihre Kinder den nächsten Verwandten des Mannes zu überlassen. Für eine Frau ist es sehr schwer, um ihre Rechte zu kämpfen, weil sie zusätzlich meist große Schwierigkeiten hat, Arbeit zu finden, um ihre Kinder selbständig versorgen zu können. Von der lächerlich geringen Sozialhilfe ist das nicht machbar. Die begrenzten sozialen Möglichkeiten verstärken die juristische Diskriminierung der Frauen. Es gibt in Tschetschenien ein weiteres sehr drängendes Problem für die Frauen: Das ist die Sitte der gewaltsamen Entführungen von Frauen zwecks Heirat. Diese Sitte ist in letzter Zeit wieder populär geworden. Unser Frauenzentrum hat eine Umfrage unter zweihundert Frauen durchgeführt und ihnen verschiedene rechtsbezogene Fragen gestellt. Auf die Frage, wie ihre Ehe zustande kam, antworteten 40 % der Frauen, dass man sie entführt habe und sie gezwungen waren, einem gemeinsamen Leben mit ihrem Bräutigam zuzustimmen. Zumindest die Diskussionen zu diesem Thema zeigten, dass es ein Bewußtsein davon gibt, dass diese Art der Eheschließung unzumutbar und schlimm ist. Es gibt viel zu viele solcher Fälle! Das Anwachsen der Zahl der Entführungen beweist, dass sie von der generellen Rechtlosigkeit der Frauen stimuliert wird, sowie von den Äußerungen der Regierenden, gerichtet gegen die Rechte von Frauen in der tschetschenischen Gesellschaft. Zum Beispiel wurden die Morde an sechs Frauen Anfang diesen Jahres ausgelegt als Strafe wegen amoralischen Verhaltens, was wie eine Rechtfertigung der Regierenden von solchen Praktiken klang. Es ist leider hier nicht möglich, alle Arten von Verletzungen von Frauenrechten aufzuzählen. Ich möchte lieber noch ein paar Worte darüber erzählen, was unsere Organisation zum Schutz, zur Unterstützung und im Interesse von Frauen tut. Davon ausgehend, dass in Tschetschenien ein sehr geringes Niveau (Nivo) von juristischer Kultur herrscht, klären wir die Frauen über ihre Rechte auf, dabei wenden wir uns vor allem an sehr arme Frauen aus Flüchtlingslagern. Wir bilden Gruppen und führen mit ihnen Seminare zum Thema Menschenrechte durch. Außerdem führen unsere Juristinnen an Schulen in den höheren Klassen Unterricht zum Thema Menschenrechte durch. Das ist sehr wichtig, denn das Wissen um seine Rechte erzeugt Hoffnung und erweckt den Wunsch, diese durchzusetzen. Außerdem leisten unsere Juristinnen konkrete Unterstützung bei dringenden Anliegen von Frauen. Sie begleiten auch unsere Klientinnen bei Gerichtsprozessen, zum Beispiel setzen sie Erbrechtsansprüche der Frauen durch oder verhandeln mit den Verwandten des Mannes, wenn dieser gestorben ist, oder bei Scheidung, bei wem die Kinder leben werden. Und sie gewinnen auch oft. In den genannten Fällen ist die Verfassung der Russischen Föderation auf der Seite der Frauen. Ob man sie nun schlecht nennt oder gut, jedenfalls ist die Verfassung zur Zeit das einzige Rechtsinstrument, von dem die Frauen reale Ergebnisse erwarten können. Es ist meine feste Überzeugung, dass es in Tschetschenien, wie es auch in anderen Teilen der Welt, sehr wichtig ist, sich für Menschenrechte einzusetzen, die Bevölkerung über ihre Rechte aufzuklären, sie anzuleiten, ihre Rechte wahrzunehmen. Menschenrechte sind ein allgemeiner Wert der Zivilisation. Sie müssen immer wieder und nachhaltig erkämpft werden – überall auf der Welt und in Tschetschenien. Im September begannen wir ein neues kleines Projekt „Die neue Rolle der Frau in Tschetschenien“. Mit Unterstützung einer Hamburger Stiftung Filja ermöglichen wir Frauen, den Führerschein zu machen. Das, was in Europa schon lange eine Selbstverständlichkeit ist, war für tschetschenische Frauen unmöglich. Das Steuer eines Autos war für eine Tschetschenin unerreichbar. Wir schaffen damit eine neue Tendenz und wir werden unbedingt eine der sozialen Begrenzungen der Frauen überwinden. Die Fahrstunden sind ein Teil der Arbeit in unserer Menschenrechtsschule, ein kleiner Schritt zur Gleichberechtigung. Ich möchte allen danken, die unsere Arbeit unterstützen. Die deutsche Sektion von Amnesty International, die Organisation Amica, die Gesellschaft für bedrohte Völker, die uns seit langem unterstützt, die Stiftung für politisch Verfolgte in Hamburg, die mich in einem gefährlichen Moment beschützt hat, und selbstverständlich die Stadt Weimar, deren Preis ich 2006 erhielt. Ich gratuliere nochmals den beiden diesjährigen Preisträgerinnen und wünsche, dass sie ihre wichtige Arbeit in Sicherheit weiter fortführen können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.