Messbar, kontrollierbar, bezahlbar? Die Qualität der Sozialpsychiatrie in Mecklenburg-Vorpommern wurde ökonomisch fundiert. Prof. Dr. Hahne Am Mittwoch, dem 7. Mai 2003, fand im Rahmen der Tage der Forschung an der Hochschule Wismar die Tagung „Sozialpsychiatrie – messbar, kontrollierbar, bezahlbar. Impulse zur Qualitätsentwicklung in Mecklenburg-Vorpommern“ statt. Getragen wurde diese Veranstaltung vom Fachbereich Wirtschaft der Hochschule Wismar, dem Landesverband Psychosozialer Hilfsvereine Mecklenburg-Vorpommern e. V. und dem Institut für Sozialpsychiatrie an der Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald. Der Landesverband ist als politisch und konfessionell unabhängiger "Sozialpsychiatrischer Fachverband" des Landes Mecklenburg-Vorpommern profiliert. In ihm sind Vereine und Vereinigungen zusammengeschlossen, die im Land Mecklenburg-Vorpommern in der komplementären und ambulanten Versorgung psychisch kranker und behinderter Menschen tätig sind. Er setzt sich für eine gemeindepsychiatrische Versorgung psychisch kranker und behinderter sowie von Chronifizierung bedrohter Menschen und damit für deren dauerhafte soziale Integration und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe ein. Gemeindepsychiatrie heißt, dass die Integration psychisch kranker Menschen in ihre normale soziale Umgebung möglichst erhalten wird, dass es dazu ambulante Hilfsangebote gibt und diese Vorrang vor stationärer Unterbringung haben. Gerade in einer Zeit leerer Kassen und knapper Finanzmittel wird es immer bedeutsamer, die angebotenen Leistungen mit hoher Qualität zu erbringen. Auf einem so vielfältigen Gebiet wie der Sozialpsychiatrie ist die Festlegung, Umsetzung und Messung von Qualität eine Herausforderung für Klienten und Experten gleichermaßen: Wirksame, fachlich qualifizierte und wirtschaftlich effiziente Leistungserbringung ist lediglich die eine Seite der Medaille. Hinzu kommen muss im Umgang mit psychisch gestörten Menschen eine gute Partnerschaft aller Beteiligten, eine große Transparenz in der Leistungserbringung und ein durch Vertrauen geprägtes rechtliches und wirtschaftliches Umfeld. In Mecklenburg-Vorpommern existieren seit 1998 gemeindepsychiatrische Modellprojekte zur Weiterentwicklung und Umgestaltung der Versorgung in Richtung einer personenzentrierten und lebensfeldorientierten Psychiatrie. Die Fortführung dieser Modellprojekte und ihre Ausweitung auf das ganze Land Mecklenburg-Vorpommern stehen aber noch aus. Voraussetzung dazu sind entsprechende Weichenstellungen auf regionaler und überregionaler Ebene. Vor diesem Hintergrund ist gerade auch die Politik angesprochen, an der Fortschreibung adäquater Rahmenbedingungen mitzuwirken, beispielsweise durch die Festschreibung zielorientierter Qualität im Landespsychiatrieplan. Aus diesem Grund war Frau Dr. Marianne Linke, Sozialministerin des Landes Mecklenburg-Vorpommern, eingeladen, über die Schwerpunkte der Psychiatrieplanung in unserem Bundesland referieren. Sie sagte kurzfristig ab und wurde von Dr. Klaus-Dietrich Fischer Fischer und Michael Köpke vertreten, die die aktuelle Lage aus Sicht des Ministeriums umrissen. Für die Kommunen sprach Senator Thomas Beyer, signalisierte große Offenheit für Reformansätze bei gleichzeitiger Abwehr aller Maßnahmen, die mit neuen zusätzlichen Kosten für Kommunen verbunden sein könnten. Qualität im Rahmen psychosozialer Hilfe erfordert allerdings nicht automatisch zusätzlichen Finanzmittel, die eben auch nicht vorhanden wären, sondern vorrangig eine andere Form der Mittelverteilung: Ausgerichtet an den Bedürfnissen der einzelnen Personen und nicht geknüpft an die Interessen und Aufgabenfelder von Institutionen. Managementorientiertes Agieren Es gilt, die Hilfsangebote vom Klienten aus zu denken, anstatt wie bisher die Kategorien der Institutionen als Ausgangspunkt zu nehmen. Wie in anderen Bereichen der Finanzierung öffentlicher Leistungen im Sozial- und Gesundheitsbereich soll klientenorientiert flexibilisiert werden. Ähnlich wie in allgemeinen Krankenhäusern sind nicht von vornherein kostenintensive Betreuungs- und Behandlungskapazitäten vorrätig zu halten - ein Ansatz, der von den Trägern ein modernes, managementorientiertes Agieren verlangt. Nicht umsonst war daher die Veranstaltung durch den Fachbereich Wirtschaft organisiert. Im Studiengang "Management sozialer Dienstleistungen" geht es schwerpunktmäßig um die Ökonomie des Sozial- und Gesundheitsbereichs; und Ökonomie meint nicht nur die Bewertung der Leistungen in Geldeinheiten, sondern auch die Sicherstellung von Effizienz. Hierzu gibt es in den Einrichtungen viel Skepsis und Unmut. Man kennt den zunehmenden politisch-ökonomischen Druck der leeren Kassen. Budgets werden seit Jahren gedeckelt, obwohl die Kosten steigen. Gelegentlich dienen echte und scheinbare Sachzwänge dazu, Ausgrenzung zu rechtferti- gen, so dass knappe Kassen und rückschrittliche Ideologie sozusagen eine unheilige Allianz eingehen. Gegen derartige Bestrebungen, die mit Zwangsmaßnahmen einhergehen, wandte sich vehement Ruth Fricke vom Bundesverband PsychiatrieErfahrener e.V.: „Wer als Profi meint, er habe die alleinige Definitionsmacht und er müsse auf alles eine richtige Antwort haben, wird nie eine demokratischen und gleichberechtigten Umgang mit seinen Patienten oder Klienten pflegen können. Profis und hier insbesondere Ärzte und Therapeuten müssen den Mut haben zu sagen, dass auch Sie nur auf der Suche nach einer richtigen Lösung sind, dass ein Rat nur eine Vorschlag ist, von dem auch sie nicht genau wissen, ob er zur Problemlösung führt. Sie müssen klar machen, dass man sich auf einem gemeinsamen Such- und Findeprozess befindet, dass es das einfache Rezept ‚man nehme’ und dann ist alles wieder gut, nicht gibt.“ Äpfel und Birnen Dieser Such- und Findeprozess lässt sich, so Prof. Hahne, qualitativ stützen. Wichtig ist es jedoch, nicht „Äpfel und Birnen zu verwechseln“, sprich klar definierte Qualitätsmessungen durchzuführen. Dies lässt sich bei Dienstleistungen sozialpsychiatrischer Einrichtungen ebenso machen, wie bei Produkten in anderen Wirtschaftsbereichen. Im Gegensatz zu diesen steht aber weniger die Ergebnisqualität im Vordergrund, sondern die sogenannte Prozessqualität, also die Güte psychiatrischer Leistungen in ihrem Ablauf. Ziel ist es auch nicht – da waren sich die Referenten einig – eine „Rundumversorgung“ für Klienten anzustreben. Dies würde abgesehen von der utopischen Bezahlbarkeit einer weiteren Entmündigung Vorschub leisten. Ziel ist es, den Gesundungsprozess möglichst mit den Betroffenen auszuhandeln und ihnen dabei möglichst wenig wegzunehmen. „Verhandeln statt behandeln!“ ist das Motto des dahinterstehenden Konzepts. Prof. Hahne betonte außerdem, dass es eine Qualität jenseits der Qualitätsmessung gibt, denn es wäre „vermessen“, die Zuwendung und den einfühlenden Austausch im Kontakt zwischen Menschen exakt kontrollieren zu wollen. Damit sprach er vielen der anwesenden Profis aus der Seele, denn die Befürchtung in der Praxis ist groß, dass im Zuge des Qualitätsmanagements Bürokratie statt Menschlichkeit in die Einrichtung einzieht. Keine Schere im Kopf Im letzten Referat des Vormittags wurde „die Schere im Kopf“ thematisiert, die droht, wenn knappe Kassen das Denken bestimmen. Dr.Ingmar Steinhart konnte aufzeigen, dass der Reflex von Kostenträgern, sämtliche Zuwendungen zu kappen, langfristig zu höheren Kostensteigerungen führt, als eine Kostendämpfungsstrategie, die in neue gemeindenahe Sozialpsychiatriestrukturen anfangs ausreichend investiert. Am Nachmittag fanden drei Workshops parallel statt. In allen ging es um die Messung, die Kontrolle und die Bezahlbarkeit von Qualität. Dabei waren die Diskussionen immer da besonders fruchtbar, wo unterschiedliche Professionen zusammenkamen: Sozialamtsmitarbeiter, Einrichtungsträger, Psychologen und Qualitätsexperten. Zu letzteren zählte z.B. Petra Kaiser, eine Referentin der großen Schleswig-Holsteinischen Einrichtung „Brücke“, die ausführlich das von ihr geleitete Benchmarking Projekt vorstellte. Der Begriff „Benchmark“ bezeichnet in der Landvermessung einen „Höhenfestpunkt“ und wird in der Wirtschaft zur Feststellung der Wettbewerbsfähigkeit eines Anbieters oder eines Produkts verwendet. In der Praxis erfolgt dies durch datenbankgestützte Betriebsvergleiche als freiwilliges Instrument zur Qualitätsentwicklung. Das Ziel ist die kontinuierliche Verbesserung der Dienstleistungen durch eine gegenseitiges VoneinanderLernen. Ein weiterer Themenschwerpunkt was die Dialogfähigkeit in Institutionen. Es geht ja nicht nur – wie oben erwähnt – um den Austausch zwischen Betroffenen und Behandlern/Betreuern, sondern auch um die Einbeziehung der Angehörigen. Ob dieser sogenannte „Trialog“ immer und überall gefragt ist, darüber bestehen in der Qualitätsdiskussion durchaus Zweifel. Nachhaltigkeit durch Qualität Zusammenfassend formulierten die Workshopleiter im Abschlussplenum die Auffassung, dass der scheinbare Widerspruch einer hohen Wirtschaftlichkeit bei gleichzeitiger hoher Qualität aufgelöst werden kann, wenn der innere Zusammenhang zwischen beiden gesehen wird. Qualität entsteht durch die Zusammenarbeit von Betroffenen, Angehörigen und Fachleuten, von Haupt- und Ehrenamtlichen. Die in der Tagungsvorbereitung erwarteten Ängste vor Kontrolle bei den Mitarbeitern psychosozialer Einrichtungen waren zumindest bei den Anwesenden nicht anzutreffen. Dies kann als Indiz gedeutet werden, dass die Qualitätsentwicklung auch in Mecklenburg-Vorpommern schon zu einer gewissen Routine geworden ist. Die betriebswirtschaftliche Steuerung sozialer Dienste wird nicht mehr bekämpft, sondern als Chance anerkannt, Nachhaltigkeit durch Qualität zu erzielen. Wie Rüdiger Vogel, der Geschäftsführer des Landesverbandes Psychosozialer Hilfsvereine Mecklenburg-Vorpommern, bestätigte, war die Tagung trotz des Wermuttropfens der Abwesenheit der Sozialministerin sehr gelungen. Angesichts der erarbeiteten Ergebnisse und des mit über 200 Teilnehmern ausgezeichneten Besuchs ist wirklich zu erwarten, dass von ihr Impulse zur weiteren Qualitätsentwicklung im Land ausgehen. Die Referenten und Teilnehmer aus der Praxis äußerten sich ebenso zufrieden wie die Studierenden, denen die Tagung Gelegenheit bot, zukünftige Aufgaben und Partner frühzeitig kennen zu lernen. Sketch „Befreiung einer Geisel“ (frei nach K.Dörner) durch Mitarbeiter des Psychiatrischen Pflegewohnheims „Schloss Matgendorf“ zur Einstimmung der Teilnehmer auf der Fachtagung. Moderator: Sozialarbeiter: Klient: Sozialarbeiter: Klient: Sozialarbeiter: Klient: Sozialarbeiter: Klient: Sozialarbeiter: Klient: Sozialarbeiter: Klient: Sozialarbeiter: „Heimträger sind potenzielle Geiselnehmer.“ So etwa ein berühmtberüchtigter Ausspruch von Prof. Klaus Dörner. Dies gilt es zu überwinden. Wir nehmen als Beobachter an einem Hilfeplangespräch teil, wie es so oder ähnlich in einem Psychiatrischen Pflegewohnheim laufen könnte: Ich habe unser letztes Gespräch noch einmal zusammengefasst. Nun möchte ich gern Ihr Einverständnis dazu haben. Sollte etwas falsch sein oder fehlen, sagen Sie es bitte. o.k. Da wäre Punkt 1: Betreutes Wohnen. Sie wollten gern eine eigene Wohnung haben – …aber nicht so weit weg! O.K., das hatten wir ja schon besprochen. Nur…, da gibt es ein kleines Problem: Sie kommen aus einem anderen Landkreis. Na und? Nun, jetzt wohnen Sie im Landkreis Glückstadt, aber Ihr Heimplatz wird vom Landkreis Hoffnungstal bezahlt, weil sie von dort kommen. Was hat das mit meiner Wohnung zu tun? Eigentlich gar nichts. Aber wenn Sie von uns weiter betreut werden wollen, muss das unser Landkreis bezahlen. Und der ist pleite. Wie ich! – (Aufstehen) Bin ich denn dann hier gefangen? Sieht fast so aus – es sei denn, wir drehen ein ganz krummes Ding. Aber das ist ja nur ein Problem: Was denn noch? Sie wollten ja auch wieder arbeiten. Klient: Darf ich das etwa auch nicht? Sozialarbeiter: Ei… Ei… Eigentlich schon. Aber Sie wollten ja erst einmal bei der Arbeit Fuß fassen und dann in eine eigene Wohnung ziehen. Beides gleichzeitig wäre zu viel für Sie. Klient: Ja, das stimmt. Sozialarbeiter: Soll ich Ihnen mal sagen, was die zu mir gesagt haben? Klient: Die Werkstatt? – habe ich mir doch schon angeguckt – die ist gut. Sozialarbeiter: Die Werkstatt würde Sie nehmen, aber das Sozialamt hat Schwierigkeiten, das auf die Reihe zu bringen. Klient: Was auf die Reihe kriegen? Sozialarbeiter: Sie wohnen ja in einem Psychiatrischen Pflegewohnheim, Pflegestufe 1. Das ist noch nichts Schlimmes. Nur ist die Werkstatt Eingliederung. Und wenn Sie dahin gehen würden, würde die Pflegeversicherung möglicherweise Ihren Heimplatz nicht mehr bezahlen. Klient: Aber ich habe doch meine Pflegestufe nicht umsonst! Sozialarbeiter: Nein, natürlich nicht. Aber ich habe es leider nicht geschafft, für Sie weniger Heimentgelt zu bekommen, damit Sie tagsüber in die Werkstatt gehen können. Klient: Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr. Wollen die nicht immer sparen? Sozialarbeiter: Das schon, aber der Sozialhilfeträger hat wahrscheinlich Angst vor einem Riesenknatsch mit der Pflegekasse. Klient: Die könnte doch auch froh sein, wenn sie für mich weniger bezahlen müsste. Sozialarbeiter: Das habe ich auch gedacht, aber da führt momentan kein Weg rein. Klient: Und wohl auch keiner raus. Das verstehe ich nicht. Sozialarbeiter: Ich versuche mal, Ihnen das zu erklären: Also: Das hier ist unser Pflegewohnheim. Das bezahlt zum Teil die Pflegekasse, zum Teil die Eingliederungshilfe. Aber die Pflege muss im Vordergrund stehen. Das war bisher auch bei Ihnen so. Jetzt geht es Ihnen zum Glück besser. Wenn Sie nun arbeiten und später eine eigene Wohnung haben wollen, dann steht die Pflege nicht mehr so im Vordergrund. Davor hat aber der Sozialhilfeträger Angst. Denn das könnte bedeuten: Psychiatrische Pflegewohnheime sind verkappte Eingliederungseinrichtungen, und dann zahlen die Pflegekassen auch für die Anderen nicht mehr den vollen Betrag. Der Sozialhilfeträger müsste dann viel mehr bezahlen. Das ist das Problem! Klient: Pflegekasse, Sozialhilfeträger… Und was ist mit mir? (buchstabiert vom Blatt): Personenzentrierte Hilfeplanung (zerreißt das Papier) Moderator: So ganz scheint es wohl mit der Geiselbefreiung nicht geklappt zu haben. Möge uns die heutige Tagung Impulse geben, die Knoten zu lösen und gemeinsam praktikable Wege für individuelle und qualitative Hilfen zu suchen. Summary In the last decade a fundamental shift has occurred in psychiatry. Standard mental treatment, which took place in hospitals, has now developed into a reliance on outpatient services in psychiatry. This new form of mental health care has not yet been established everywhere. However, there are a lot of models of similar projects in outpatient psychiatric services. One of the main problems for these psychiatric services is to obtain a high level of quality, as they do not receive enough support by the government. Also the institutions are not entirely re-reimbursed for their caretaking costs by the social security system. That is the reason why economic questions interfere with or even dominate every professional discussion on the subject. The Conference "Social psychiatry - measurable, controllable, payable; impulses for development of quality in Mecklenburg-Vorpommern" at the University of Applied Sciences in Wismar, was therefore organized by the Department of Business and by the Regional Organization of Psychosocial Service Groups (in German: Landesverband Psychosozialer Hilfsvereine) in Mecklenburg-Vorpommern. A major important conclusion from this conference surrounds the fact that there is no real contradiction between the ambition of high quality and the economic viewpoint. It is only in the consideration of both these aspects together that the optimal treatment for mentally handicapped persons can be found.