4. Sportmotorik Sportmotorik beinhaltet alle organismischen Teilsysteme und Teilprozesse, die sportliche Bewegungen des Menschen auslösen und kontrollieren Motorische Kontrolle bezieht sich auf die Aufgabe der oben genannten Teilsysteme und –prozesse, die Freiheitsgrade des menschlichen Körpers zu kontrollieren Koordination harmonisches Zusammenwirken der Teilsysteme und –prozesse auf der Ebene von o Teilbewegungen o Muskelkontraktionen (intermuskuläre Koordination) o motorische Einheiten eines Muskels (intramuskuläre Koordination) Physiologische und psychomotorische Grundlagen 1. Sensorische Systeme 2. Zentralnervale Strukturen und Verarbeitungsprozesse 3. Effektorische Systeme 4. Reflexe 4.1 Sensorische Systeme Funktionen o Aufnahme von körperäußeren und körperinneren Prozessen sowie Relationen des Körpers zur Umwelt o Verarbeitung in unterschiedlichen Instanzen Sensorik o Bezugspunkt für die Planung und Vorbereitung einer Bewegung o Kontrollfunktion während der Bewegungsausführung Sensorik – mehrere Ebenen o Bewusster Zugriff (kortikale Ebene) o Unbewusster (automatischer) Zugriff (subcortikale bzw. cerebelläre Ebene) o Motorische Eigen- und Fremdreflexe (Rückenmarksebene) Rezeptorsystem und Latenzzeiten bei motorischen Reaktionen o Optische Reize: ca. 150 – 250 ms o Akustische Reize: ca. 100 – 180 ms o Kinästhetische Reize: ca. 90 – 150 ms o Propriozeptive Reize: ca. 50 – 80 ms o Vestibuläre Reize: < 100 ms Für die Sportmotorik wichtige sensorische Systeme 4.1.1 Visuelles System Sinnesorgan des visuellen Systems ist das Auge o 120 Millionen Stäbchen o 6 Millionen Zäpfchen 4.1.2 Akustisches System o Das Hörorgan (Cochlea) liegt im Mittel- und Innenohrbereich o Die Afferenzen zum Großhirn laufen auf sehr kurzem Weg über den Hörnerv 20 4.1.3 Vestibuläres System o 3 Bogengangorgane, 2 Maculaorgane 4.1.4 Propriozeptives System (Stelllung und Bewegung von Körperteilen, Kräfte, …) o Muskelempfindungen o Sehnenempfindungen o Gelenksempfindungen o Muskellängensystem (Intrafusale Muskelfasern, Muskelspindeln) o Golgi-Sehnenrezeptoren o Mechanorezeptoren der Gelenke Funktionen o Bereitstellung von Informationen über Kräfte, Spannung, kontraktionsgeschwindigkeiten, Gelenkstellungen usw. o Voreinstellung von Spannungsendzuständen über die Muskelspindeln zur Realisierung zuntralnervaler motorischer Programme o Begrenzung der Kraftentwicklung o Begrenzung der Kontraktionsgeschwindigkeit o Aktive Entspannung in den Arbeitspausen der Muskulatur 4.1.5 Kineästhetisches System (Druck, Vibration,…) Empfindungen der Körperoberfläche (Haut) o Meissner-Tastkörperchen o Freie Nervenendigungen o Golgi-Mazzoni-Körperchen o Vater-Pacinische Lamellenkörperchen o Krausesche Endkolben o Ruffini-Körperchen o Merkrlsche Tastzellen o Haarfolikel 4.1.6 Nozizeptives System (Schmerzrezeptoren) Schmerzrezeptoren o Hautoberfläche o Knochen o Muskeln o Sehnen o Gelenke 4.2 ZNS und Verarbeitungsprozesse Zentralnervensystem (ZNS) o Gehirn o Rückenmark o Physiologische Träger der Verarbeitung von Informationeen aus den Sinnesorganen Gehirn o Großhirnrinde (Cortex) o Zwischenhirn o Mittelhirn 21 o o o o Basalganglien Kleinhirn Brücke Verlängertes Mark Motorische Repräsentation (Homunculus) 4.3 Effektorische Systeme Funktionen o Bewegungen starten o Bewegungen ausführen o Bewegungsausführungen überwachen o Bewegungsergebnis bewerten o Ausführungsvorschriften der Prozesse speichern 4.3.1 Muskelkontraktion Körperbewegungen entstehen durch Muskelverkürzungen (Kontraktionen) Aufbau des Muskels o Muskel o Muskelfaser (Muskelzelle) o Myofibrille o Sarkomer o Myosin, Aktin Motorische Einheit o Motorneuron o Sämtliche von ihm versorgte Muskelfasern o Zahl der versorgten Muskelfasern zw 10 und mehreren Tausend, je nach Größe und Funktion des Muskels Kontraktionskraft o Frequenzierung Entladung eines Motoneurons führt zu einer Einzelzuckung Wiederholte Entladungen führen zu Überlagerungen (Summation) o Rekrutierung Muskelfasertypen intramuskuläre Koordination 4.4 Reflexe Willkürbewegungen haben Handlungscharakter o Zielgerichtet o Bewusste Planung und Korrektur Reflexe sind stereotype Antworten des Nervensystems auf sensorische Reize Großteil der Reflexe läuft über die Ebene des Rückenmarks Im Sport bedeutsame Reflexe o Reflexe zur Rechts-Links-Koordination Gehen und Laufen, gekreuzte Streckreflexe o Steuerfunktion des Kopfes Halsreflexe steuern den Muskeltonus Zurücknehmen des Kopfes bewirkt Körperspannung und -streckung 22 Unerwünschte Wirkungen von Schutzreflexen o Einknicken der Hüfte bei nach hinten gerichteten Bewegungen Abfaller rückwärts im Wasserspringen o Lidschlussreflex Schießsport Torwarte im Hand- und Fußball Block im Volleyball o Halsstellreflex Kopf an die Brust beim Rückwärtssalto Kopf in den Nacken beim Kopfsprung 5. Motorische Fähigkeiten / Diagnostik / Sportmotorische Tests Sportliche Leistungsfaktoren: Fähigkeiten und Fertigkeiten Der Außenaspekt von Bewegung wird in Form von motorischen Fertigkeiten sichtbar Motorische Fähigkeiten o Informationsorientierte Voraussetzungen bei der Planung, Komposition und neuromuskulären Feinabstimmung von bewegungshandlungen (koordinative Fähigkeiten) o energetische Voraussetzungen für Umfang, Intensität und Dauer des Muskeleinsatzes (konditionelle Fähigkeiten) Motorische Fertigkeiten o aufgabenzentriert o weitgehend automatisiert ausgeführte Komponenten von Tätigkeiten o bilden sich hauptsächlich durch Üben heraus o elementare (Basis-)Fertigkeiten (Gehen, Laufen, Springen, Werfen,…) o sportartspezifische Fertigkeiten (Skilauf, Schwimmen, Radfahren,…) Motorische Fähigkeiten o nicht beobachtbar (latent) o können aus beobachtbaren Indikatoren geschlossen werden Abbildung Motorische Fähigkeiten Pdf Folie Einheit 5 Seite 1 23 Diagnosik o Motorische Testverfahren o Experimente o Komplexe Untersuchungen Sportmotorische Tests 1. Einführung und Definitionen 2. Gütekriterien 3. Aufgabenbereiche sportmotorischer Tests 4. Gliederung sportmotorischer Tests 5. Konzeption sportmotorischer Tests 4.1 Einführung und Definition Sportmotorischer Test Ein unter Standardbestimmungen durchzuführendes, wissenschaftlichen Kriterien genügendes Prüfverfahren zur Untersuchung sportmotorischer Merkmale Sportmotorische Merkmale Empirisch abgrenzbare Persönlichkeitsmerkmale, die eine sportmotorische Handlung bestimmen o Sportmotorische Eigenschaften (z.B.: Sprungkraft) o Sportmotorisch-technische Fertigkeiten (z.B.: Ballführen mit dem Fuß) o Sportmotorisch-taktische Fertigkeiten (z.B.: Zwischenspurt) 4.2 Gütekriterien 4.2.1. Hauptgütekriterien müssen erfüllt sein, damit ein Test als wissenschaftliche Methode anerkannt wird 1. Objektivität o Grad der Unabhängigkeit eines Testergebnisses von Untersucher (intersubjektive Überprüfbarkeit) o Durchführungsobjektivität o Auswerteobjektivität o Interpretationsobjektivität o Operationalisiert mir Hilfe des Objektivitäts-Koeffizienten (Korrelationskoeffizient) 1.00 – 0.95 0.95 – 0.90 0.90 – 0.80 0.80 – 0.70 0.70 – 0.60 ausgezeichnet sehr gut annehmbar gering fraglich o Gruppenanalysen: o Einzelanalysen: mind: 0.75 mind: 0.85 24 2. Reliabilität / Zuverlässigkeit o Grad der Genauigkeit mit der ein Test ein Merkmal misst, unabhängig davon, ob er dieses Merkmal auch zu messen beansprucht o Methoden der Reliabilitätsprüfung Test-Retest (Stabilität) Paralleltest (Äquivalenz) Split-half (innere Konsistenz) Konsistenzanalyse (innere Konsistenz) o Operationalisiert mit Hilfe des Reliabilitäts-Koeffizienten 1.00 – 0.95 0.95 – 0.90 0.90 – 0.80 0.80 – 0.70 0.70 – 0.60 ausgezeichnet sehr gut annehmbar mäßig gering 3. Validität / Gültigkeit o Grad der Genauigkeit, mit der ein Test das Merkmal, das er zu messen beansprucht, auch tatsächlich misst o Inhaltliche Validität o Kriterienbezogene Validität o Konstruktvalidität o Methoden der Validitätsprüfung Inhaltliche Validität - Expertenurteil Kriterienbezogene Validität Korrelation mit - validem Paralleltest jener sportmotorischen Handlung, für die der Test valide sein soll ’objektivem’ Leistungskriterium (z.B.: Rangliste) Expertenurteil (z.B.: Rangfolge von Spielern aufgrund Trainerurteil) validen biomechanischen und/oder physiologischen Parametern o Operationalisierbar mit Hilfer des Validitätskoeffizienten 1.00 – 0.85 0.85 – 0.80 0.80 – 0.70 0.70 – 0.60 0.60 – 0.50 hervorragend gut annehmbar gering unter Umständen brauchbar 4.2.2. Nebengütekriterien sollten, müssen aber nicht notwendigerweise erfüllt werden 1. Normierung o Existenz eines Bezugssystems zur Einordnung eines individuellen Testergebnisses o Normierungen sind möglich für die Gesamtpopulation, aber auch für Untergruppen (z.B.: geschlechts-,alters- oder sportartspezifisch) 25 2. Ökonomie o Kriterien, die eine praktikable Handhabung und somit eine routinemäßige Anwendung eines Tests gewährleisten Kurze Durchführungszeit Geringere Geräte- und Materialaufwand Einfache Handhabung Durchführung als Gruppentest Schnelle und bequeme Auswertbarkeit 3. Vergleichbarkeit o Intraindividuelle Reliabilitäts- und Validitätskontrolle mit Hilfe von Paralleltestformen Validitätsähnlichen Test 4. Nützlichkeit o Ein Test ist nützlich, wenn für das zu messende Persönlichkeitsmerkmal praktisches Bedürfnis besteht durch andere Tests nicht erfasst werden kann 5. Aufgabenschwierigkeit o Angabe der relativen Häufigkeit, mit der eine Aufgabe von den Probanden bewältigt werden kann Binomialdaten (dichotome Merkmale) Metrische Daten bezüglich unterster Leistungsgrenze o Operationalisiert durch den Schwierigkeitsindex P P = n positiv * 100 % n negativ 6. Aufgabentrennschärfe o Die Aufgabentrennschärfe gibt die Genauigkeit an, mit der interindividuelle Unterschiede in den Testleistungen feststellbar sind o Sie sind abhängig von Aufgabenschwierigkeit Auflösung der Mess-Skalierung o Operationlisiert durch den Trennschärfeindex TI TI = v p TI' = p v = Variabilitätskoeffizient p rel Häufigkeit d. Dichtemittels 4.3 Aufgabenbereiche sportmotorischer Tests Trainingssteuerung o Am Beginn eines Trainingszyklus Bestimmung des aktuellen allgemeinenen oder speziellen Leistungszustands Zuordnung zu einer geeigneten Trainingsgruppe mit adäquater Belastungsdosierung o Während einer Trainingsprozesses Begleitende Kontrolle des Trainingszustandes o Am Ende eines Trainingszyklus Überprüfung der Effizienz von Trainingsmethoden 26 4.3.1 Aufgabenbereich 1. leistungsdiagnostischer Aufgabenbereich o Erfassung motorischer Eigenschafts- und Leistungsniveaus und Bestimmung sportmotorischer Merkmalskombinationen (sportmotor. Eigenschafts- und Leistungsprofil) o Ermittlung des Rangplatzes von Personen in einer Gruppe bzw. Unterschiede zwischen Gruppen 2. dimensionsanalytischer Aufgabenbereich o Strukturanalytische Bestimmung und Überprüfung der Dimensionen der Motorik o Beseitigung terminologischer Unklarheiten o Theoretische Begründung von Trainingsmethoden o Erhebung der Unterschiede der Dimensionen 3. prognostischer Aufgabenbereich o Ermittlung von Begabung und Eignung für spezielle sportmotorische Aufgaben durch einmaliges Testen (Eignungsprüfung für Traingsgruppen, Schulen oder Studium) o Eignungs- und Talentsuche durch mehrmaliges Testen (Längsschnitt) 4. entwicklungsdiagnostischer Aufgabenbereich o Bestimmung der Ausprägungsänderungen sportmotorischer Merkmale innerhalb bestimmter Zeitspannen bei Personen und Gruppen (sportmotorische Verlaufsprofile) o Bestimmung des Zusammenhangs zwischen sportmotorischen Eigenschaftten und Fertigkeiten 5. experimenteller Aufgabenbereich o Prüfug der Wirksamkeit bestimmter Methoden und Maßnahmen mit Hilfe experimenteller Untersuchungsansätze 4.4 Gliederung sportmotorischer Tests Sportmotorische Tests o Sportmotorische Elementartests o Sportmotorische Testsysteme Sportmotorische Testprofile Sportmotorische Testbatterien Sportmotorische Testprofile o Kombination sportmotorischer Elementartests mit hoher Eigenständigkeit zum Erhalt eines anschaulichen Überblicks über die Ausprägungsgrade in Bezug auf einen breiten Merkmalsbereichs (z.B.:Motorik) o Allgemeine sportmotorische Testprofile (sportunabhängig) o Spezielle sportmotorische Testprofile (sportartspezifisch) 27 Sportmotorische Testbatterien o Kombination mehrerer sportmotorischer Elementartests mit dem Ziel ein durch ein Validitätskriterium definiertes sportmotorisches Persönlichkeitsmerkmal möglichst genau zu erfassen o Die Einzeltests verlieren dabei weitgehend ihre Eigenständigkeit hoher Eigenständigkeit und sollen möglichst hoch mit einem gegebenen Außenkriterium korrelieren o Beispiel: Testbatterie zur Erfassung der ‚Ausdauer’ 4.5 Konzeption sportmotorischer Tests Dokumentation Testkonzeption Teststtistische Angaben Beispiel eines Testprofils: Münchner Fitness Test 1. Ballprellen 2. Zielwerfen 3. Rumpfbeugen/Hüftbeugen 4. Standhochspringen 5. Halten im Hang 6. Stufensteigen 6. Motorische Entwicklung Ontogenese o Onto = ‚auf das Sein bezogen“ o Genese = ‚Entstehung’ Biogenetisches Grundgesetz (Haeckel 1866) o Die pränatale Phase der Entwicklung (fötale Entwicklung im Mutterleib) repräsentierte eine verkürzte Phylogenese (Stammesentwicklung) 6.1 Ontogenese In der modernen Entwicklungspsychologie umfasst es die gesamte Spanne individueller Entwicklung von der Geburt bis zum Tod. Somit auch regressive Phasen (Gerontomotorik) Endogene Faktoren o Innere Faktoren, sie entsprechen den Reifungsprozessen Exogene Faktoren o Äußere Faktoren, die sich aus den Lebensumständen und Sozialisationsbedingungen ergeben 28 6.2 Entwicklungsgesetze und Entwicklungsprinzipien 6.2.1 Orthogenetisches Entwicklungsprinzip Die Entwicklung vollzieht sich von einer summenhafen Gesamtheit zu einer differenzierten Gesamtheit Summenhafte Gesamtheit o Teile des Ganzen sind mehr oder weniger separiert o Hinsichtlich Aussehen und Funktion von einander wenig unterscheidbar Differenzierte Gesamtheit o Funktionell fein abgestimmte Teile und Bereiche, die in eine Hierarchie eingebettet sind o Die Elemente ordnen sich dem Ganzen unter 6.2.2 Sequenzregeln der motorischen Entwicklung nach Gesell (1954) 1. Prinzip des cephalocaudalen Trends o Die Entwicklung der Organisation der Bewegung erfolgt vom Kopf beginnend zu den unteren Extremitäten o Säugling bewegt zuerst Augen und Kopf, dann greifmotorik hin zur Lokomotion o Prinzip in veränderter Form im Sport: Bewegungssteuerung durch den Kopf 2. Prinzip des zentral-peripheren Trends o Die Entwicklung der Motorik erfolgt von den größteren (fundamentaleren) Muskeln zu den kleineren für die Feinmotorik o Bis 3. Monat: Aktivitäten weitgehend über große, körpernahe Muskeln 3. Prinzip der reziproken Verflechtung o Art und Weise, in der die Gegensätzlichkeit morphologischer Strukturen überwunden und deren Einheit in einer geordneten Bewegung hergestellt wird o Abstimmung von Agonisten und Antagonisten o Reziproke Verflechtung wird durch das Lernen erworben oder verstärkt 4. Prinzip des funktionellen Asymmetrie o Im Laufe der Entwicklung bilden sich Seitigkeiten aus o In frühen Phasen der Kindheit sind Seitigkeiten nur ansatzweise zu beobachten o Im Sport erhebt sich die Frage nach der Spezialisierung bzw. Generalisierung (Speerwurf, Handballwurf) 5. Prinzip des selbstregulatorischen Fluktuation o Die Ontogenese ist kein Prinzip der ununterbrochenen Stabilisierung o Das lebende System befindet sich während der Periode aktiven Wachstums in einem Stadium gestalterischer Instabilität, kombiniert mit einer progressiven Bewegung in Richtung der Stabilität o Variabilität und Stabilität der Bewegungsregulation 6.2.3 Entwicklung als Ordnungsgewinn Die Annahme von Differnezierungsprozessen allein reicht nicht aus, um das Entstehen komplexer Strukturen zu erklären 29 Prozesse der hierarchischen Strukturierung und Ordnungsbildung müssen ergänzend wirksam werden, um die Entwicklung nicht in einem bizarren Chaos enden zu lassen. 6.2.4 Entwicklung als Überschichtung In der Ewntwicklung lebender Organismen verdrängt das Neuerworbene im Allgemeinen nicht das bereits Existierende, sondern wird in Bestehends eingeordnet bzw. überformt und überschichtet es. Unterschiedliche Gedächtnisinhalte, die im Verlauf der Ontogenese erworben werden, können demzufolge uterschiedliche Schichten bilden, die differenzeirte funktionsbereiche darstellen. 7. Motorisches Lernen 7. 1. Kontrolle und Steuerung von Bewegungen: 1. Informationsverarbeitungsansätze 2. Optimierungsmodelle 3. Frequenzkodierungsmodelle 4. Systemdynamische Modelle 1) Informationsverarbeitungsansätze 1.1 Kybernetische orientierte Modelle Sensorische Informationen und Feedback o Visuelle Informationen o Akustische Informationen o Vestibuläre Informationen o propriozeptive Informationen o Kinästhetische Informationen o Nozizeptive Informationen Closed-loop-Steuerung und Reflexe 1.2 Programm orientierte Modelle In Open-loop-Systemen werden Bewegungen nicht durch Feedbackmechanismen beeinflusst Die Auswirkungen der Bewegung auf die Umwelt bleibt unberücksichtigt Es fehlen der Referenzmechanismus und die Feedbackschleife Die Entscheidungsebene ist ‚programmiert’ Motorisches Programm (Schmidt, 1988) o Abstrakte Repräsentation einer Bewegung. Wenn ein motorisches Programm aktiviert wird, erzeugt es eine Bewegung, ohne sensorische Rückmeldungen zu berücksichtigen Motorisches Programm (Loosch, 1999) o Zentral gespeichertes Engramm, das der Innervation vonMuskeln und Muskelgruppen dient und die Bewegung ohne periphere Rückinformation steuern kann 30 o Hinweise für die Existenz motorischer Programme Bewegungen sind auch ohne periphere Rückinformationen möglich Kontrolle schneller Bewegungen ohne Referenzen Motorische Programme können unterschiedliche Muskeln ansteuern (motorische Äquivalenz) Motorische Programme lassen sich auch ohne physisches Üben und Trainieren aufbauen Programme laufen auch bei zusätzlichen Anforderungen autonom ab 1.3 Generalisierte motorische Programme (GMP) Ein Generalisiertes Motorisches Programm ist ein motorisches Programm für eine bestimmte Klasse von Bewegungen, das im gedächtnis gespeichert ist und ein einzigartiges Bewegungsmuster ergibt, wenn das Programm ausgeführt wird Der Output eines Programmes (Gelenkbewegungen) kann somit durch die Eingabe bestimmter Parameter verändert werden Generalisierung von Bewegungen in Bewegungsklassen (Verminderung des Speicherproblems) GMP o Impuls-Timing-Hypothese Invariante Parameter o Gestalt-Konstanz-Hypothese Variable Parameter Gestalt-Konstanz-Hypothese o Variable Parameter Absolute Zeiten, Bewegungsdauer (MT = movement time; overall duration parameter) Absolute Kräfte, Gesamtkrafteinsatz (F = force; overall force parameter) Muskelauswahl (muscle selection parameter) Räumliche Parameter (spatial parameter; kinematische Merkmale) 1.4 Motorische Programme und Feedback („mixed approaches“) 2) Optimierungsmodelle 3) Frequenzkodierungsmodelle 4) Systemdynamische Modelle Der Grundgedanke beinhaltet die Vorstellung, dass Kontrolle und Steuerung von Bewegungen als Ergebnis der Wechselbeziehung zwischen den Teilelementen des Körpers du der Umwelt entsteht Der Entwurf einer zentrlen Repräsentation, wie es hierarchische Kontroll- und Steuerungsmodelle verstehen, spielt im systematischen Ansatz keine Rolle 31 Wichtige ‚Mutterwissenschaften’ bzw. Mutterdisziplinen systemdynamischer Modelle o Gestaltpsychologie o Bewegungsohysiologischer Ansatz von Bernstein o Wahrnehmnungspsychologie o Konnektionismus o Synergetik o Chaos-Theorie 7.2. Motorische Lerntheorien 1. Kybernetische Theorien 2. Stufentheorien 3. Schematheorien (z.B.: Schmidt) 4. Systematische Lerntheorien (z.B.:Differenziertes Lernen) 1) Kybernetische Theorien Diese gehen davon aus, dass sich Lernen als Regelkreis darstellen lässt, d.h. eine sich selbst regelnde oder mit Hilfe des Trainers sich fortsetztende Optimierung der Bewegungsausführung Auf allen Ebenen des ZNS finden rückgekoppelte Informationsflüsse nach dem Prinzip des Regelkreises statt System der inneren und äußeren Regelkreise (Schnabel) o Soll-Präsentation o Afferenzsynthese: Entwicklung einer Bewegungsvorstellung und eines Bewegungsplans o Ausführung: über Gedächtnis und ebstehende Programme; bei Neulernen über Bewusstsein o Korrektur: Soll-Ist-Wert-Vergleich, Reafferenzen Differenzen sollen in neuen Versuchen vermieden werden, beliebig wiedholbar (einschleifen) 2) Stufentheorien Stufentheorien gehen von der Prämisse aus, dass motorisches Lernen sich als eine Folge von erreichbaren Zuständen beschreiben lässt, vom Anfangslernen bis zum meisterhaften Können. 2.1 Phasenmodell nach Meinel & Schnabel 2.1.1 Grobkoordination Lernphase der Grobkoordination Typische Situationen o Krafteinsatz zu stark/schwach o Bewegungsumfang zu groß/klein o Bewegugstempo zu hastig/langsam o Geringe Präzision Ursachen o Bewegungsvorstellung fehlt noch (keine kognitiven Kentnisse) o Rhythmische Gliederung der Bewegung ist nur vage erfasst – schlechtes Timing o Nur undifferenzierte kinästhetische Rückmeldungen, Bewegungsgefühl noch nicht entwickelt 32 2.1.2 Feinkoordination Lernphase der Feinkoordination Bewegungsvorstellung und Bewegungsausführung werden ständig verbessert o Fähigkeiten der Selbstkorrektur nimmt zu, Fremdkorrekturen werden besser aufgenommen o Informationsaufnahme und –verwertung gelingen besser o Bewegungsentwurf kann gezielt erstellt werden o Timing und Rhythmisierung gelingen besser Bewegung gelingt auch unter erschwerten Bedingungen im Wettkampf (Stabilisierung) o Höchste Präzision und Konstanz o Oft Regulation während des Ablaufs o Aufmerksamkeit nur auf die wichtigsten Ausführungsdetails o Frühe und umfassende Antizipation 2.1.3 Stabilisierung der Feinkoordination und Entwicklung der variablen Verfügbarkeit 3) Schematheorien (nach Schmidt) Schematheorie Recall Schema (open loop) Recognition-Schema (closed loop) GMP-Theorie Impuls-TimingHypothese 4) Gestalt-KonstanzHypothese Systematische Lerntheorien Differenzielles Lernen o Schwankungen im Bewegungsablauf (in den kybernetischen und schematheoretischen Ansätzen als ‚Fehler’ bezeichnet) sind Voraussetzungen für den Ablauf und die Entwicklung von Slebstorganisationsprozessen o Schwankungen (Differenzen) sind Voraussetzung für Systeme zu lernen o Die eigentliche und wichtige Information liegt in den Differenzen o Im Prozess des Bewegungslernen werden Differenzen gezielt eingesetzt 33