Ist unsere Sicht auf die Welt verantwortlich für all die Krisen unserer Zeit? ... und ist das „Integrale Bewußtsein“ des Kulturphänomenologen Jean Gebser möglicherweise ein Schlüssel zur Lösung? Wirtschaftskrise, Bildungskrise, ökologische Krise, Krise des politischen Systems, Hungerkrise und so weiter und so fort, die unzähligen Symptome des Ungleichgewichts in unserer Welt sind, Jean Gebser folgend, eben „nur“ Symptome einer destruktiv gewordenen Bewußtseinsstruktur, nämlich der mental-rationalen. Er entwirft in seinem Mammutwerk „Ursprung und Gegenwart“ von 1949 - 1953 einen überwältigenden Überblick über die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins von der Frühzeit bis heute. Mit einer beeindruckenden Vielzahl an Indizien aus der Kulturgeschichte der Menschheit zeigt er, dass sich im Menschen im Laufe der Zeit mehrere Bewusstseinssprünge vollzogen haben. Immer wenn die jeweils vorherrschende Bewusstseinsstruktur ihren Höhepunkt überschritten hatte und destruktiv geworden war, kam eine neue zum Durchbruch, wobei die vorherigen Strukturen jeweils nur ihre Dominanz verloren, aber die Menschen weiterhin konstituierten bzw. ihnen, zumindest unbewusst, zur Verfügung standen. Dieser Wandel von einer Bewußtseinsstruktur zur nächsten war jeweils ein Prozeß, der Jahrhunderte dauerte, bis er vollzogen war, wobei dieser Vorgang, laut Gebser, kein passiver war, der den Menschen einfach so widerfuhr. Sondern es handelte sich jeweils um eine neu auftauchende Bewusstseinsmöglichkeit, die von jedem Einzelnen ergriffen werden mußte. Ihm zufolge begann die Bewußtseinsentwicklung der Menschen mit der archaischen Bewusstseinsstruktur, darauf folgte die magische, darauf die mythische und ca. um 500 v.Chr. begann sich mit dem Auftauchen der Philosophen in Griechenland, Buddhas in Indien und Laotses in China die zur Zeit noch dominante Struktur, die mental-rationale zu entfalten. Merkmale der mental-rationalen Bewusstseinsstruktur sind gemäss Gebser die Herausbildung eines selbstbewussten Ichs und dem zufolge ein Denken aus der IchPerspektive heraus, das Denken in Gegensätzen (ich und mir gegenüber die Welt), das Messen und das sich Vorstellen. Allen eben genannten Merkmalen gemein ist das Dreidimensionale, der Raum. Diese Bewusstseinsstruktur hat, wenn man Gebser weiter folgt, schon seit längerem ihren Höhepunkt bzw. ihre effiziente Phase überschritten. Erkennbar wird ihm das Umkippen ins Destruktive unter anderem an dem Ausspruch Galileo Galilei‘s: „Alles messen, was messbar ist - und messbar machen, was noch nicht messbar ist.“ Dieses „messbar machen, was noch nicht messbar ist,“ findet in allen Bereichen unseres heutigen Lebens statt. Alles wird gemessen und zerteilt. Qualitäten werden in Quantitäten umgewandelt. In der Medizin z.B. werden Körper und Psyche fragmentiert und die einzelnen Teile werden, einer Maschine gleich, „repariert“ oder ausgetauscht, als wenn sie keinen Bezug zum ganzen hätten. In der Geopolitik werden in gleicher mechanistischer Manier Machthaber entmachtet und von aussen durch scheinbar demokratische Strukturen ersetzt, ohne Rücksicht auf die über Jahrhunderte gewachsene Struktur der jeweiligen Gesellschaften. Ebenso wird bei der Gentechnik verfahren. Das Genom einer Pflanze oder eines Tieres wird kartografiert und einzelne Teile werden ersetzt durch Teile des Genoms eines anderen Organismus, ohne zu wissen, was das in einem Gefüge, das über Jahrmillionen entstanden ist, auf längere Sicht auslösen könnte. Bei Nahrungsmitteln geht es nur noch um ihren Wert an der Börse und die mit ihnen zu machenden Gewinne. Es wird sogar auf Ernteausfälle spekuliert, ohne zu berücksichtigen, dass Nahrung dafür da ist, Menschen das Überleben zu sichern. Es wird in Kauf genommen, dass jedes Jahr fast 9 Millionen Menschen verhungern, unter anderem, weil sie die durch Spekulation in die Höhe geschossenen Preise für Grundnahrungsmittel nicht mehr bezahlen können. Aber diese 9 Millionen werden einfach in eine Statistik gepackt und es wird auf immense Summen verschlingenden Welternährungsgipfeln angepeilt, diese Zahl in den nächsten Jahren zu verringern. Es geht nur um Zahlen. Mitgefühl hat keinen Platz mehr, höchstens als mit Hirnscans gemessene Gehirnaktivität. Dieses Zerbrechen der mentalen Bewusstseinsstruktur und das zunehmende Durchscheinen einer neuen Struktur u.a. in der aperspektivischen Kunst, und der das duale Denken überschreitenden Quantenphysik hatte Jean Gebser bereits in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts erkannt und in den darauf folgenden 30 Jahren auf beeindruckende Weise erforscht und beschrieben. Beides zusammen sind für ihn deutliche Zeichen dafür, dass wir uns in einer Phase befinden, in der sich der nächste Sprung vollzieht, der Sprung vom rationalen zum integralen Bewusstsein, wobei dieser ebenfalls nicht automatisch stattfindet, sondern von jedem einzelnen vollzogen werden muss. Das integrale Bewußtsein zeichnet sich dadurch aus, dass es sich aller bisherigen Strukturen gewahr wird und diese bewusst integriert. Die Ich-Perspektive kann bewusst durch das Einnehmen anderer Perspektiven erweitert werden. Alles wird hier und jetzt transparent, scheint durch (im Unterschied zur Transzendenz, bei der es sich um ein Überschreiten, sich Hinbewegen zu etwas Verborgenem handelt). Und der Mensch, der den Wandel zu diesem Bewußtsein vollzogen hat, kann sich der verschiedenen ihn konstituierenden Bewusstseinsstrukturen bewusst bedienen - der mentalen, wenn es angebracht ist, aber auch der magischen oder mythischen, wenn es angebracht ist. Das Mental-Rationale, nur Räumliche ist nicht mehr allein gültig. Dieses neue Bewusstsein ist vierdimensional, und die vierte Dimension ist die Zeit, aber nicht die bloß lineare Uhrenzeit sondern die Zeit als Qualität bzw. Intensität. Für Jean Gebser ist die ausschliessliche Reduktion der Zeit auf die gemessene Uhrenzeit eine Einzwängung der Zeit in das Räumliche und kommt einer Vergewaltigung der Zeit gleich. Schon damals erkannte er als deutlichstes Symptom dieser Vergewaltigung der Zeit den Ausspruch vieler Menschen, „keine Zeit zu haben“. Und das bedeute kein Leben zu haben. Die Essenz seines Denkens kommt in einem Satz seines letzten Werkes zum Ausdruck: „Glücklich ist der zu schätzen, dem es gelingt, ein wenig Abstand zu sich zu gewinnen und dadurch zu erkennen, dass es überhaupt kein gegenüber gibt. Das ich wird zum sich und findet sich unter lauter anderen sichs wieder.“