Aus Kap. 13 Zitatanfang Integral-aperspektivisch Die Tatsache, daß Bedeutung kontextabhängig ist - die zweite wichtige Wahrheit der Postmoderne, auch Kontextualismus genannt - bedeutet, daß ein multiperspektivischer Ansatz gegenüber der Wirklichkeit gefragt ist. Jede einzelne Perspektive ist demnach wahrscheinlich parteilich, begrenzt, vielleicht sogar entstellt, und nur durch die Würdigung mehrfacher Perspektiven und mehrfacher Kontexte kann die Suche nach Wissen fruchtbar vorangetrieben werden. Und diese "Diversität" ist die dritte Wahrheit der allgemeinen Postmoderne. Jean Gebser, den wir im Zusammenhang mit Weltsichten kennengelernt haben, prägte den Begriff integral-aperspektivisch, um diese pluralistische oder multi-perspektivische Sicht zu bezeichnen, die ich auch Schau-Logik oder Netzwerk-Logik nenne. "Aperspektivisch" bedeutet, daß keine einzelne Perspektive privilegiert ist, und so brauchen wir, um eine holistischere oder integralere Sicht zu bekommen, einen aperspektivischen Ansatz, was genau der Grund dafür ist, daß Gebser diese Begriffe gewöhnlich verband: integral-aperspektivisch. Gebser kontrastierte integral-aperspektivisches Erkennen mit formaler Rationalität (Formop), oder was er "perspektivische Vernunft" nannte, die dazu neigt, eine einzelne monologische Perspektive und Sicht der ganzen Wirklichkeit durch diese enge Optik hindurch einzunehmen. Wo perspektivische Vernunft die ausschließliche Perspektive des bestimmten Objektes privilegiert, ergibt Schau-Logik die Summe aller Perspektiven ohne eine zu privilegieren, und versucht so, das Integrale, das Ganze, die multiplen Kontexte in Kontexten zu erfassen, die den Kosmos endlos erschließen, nicht in einer rigiden oder absolutistischen Weise, sondern in einem fließend holonischen und multidimensionalen Gewebe. Das ist eine fast exakte Parallele zu der großen Betonung, die die Idealisten auf den Unterschied legen zwischen einer Rationalität (reason), die nur formal, beschreibend oder empirisch-analytisch ist, und einer Rationalität, die dialogisch, dialektisch und netzwerk-orientiert ist (Schau-Logik). Sie nannten die erstere Verstand und letztere Vernunft. Und sie sahen Vernunft oder Schau-Logik als eine höhere evolutionäre Entwicklung an als den reinen Verstand oder formale Rationalität. Auch Gebser glaubte, daß Schau-Logik eine evolutionäre Entwicklung über formale Rationalität hinaus ist. Und Gebser und die Idealisten stehen nicht allein. Wie wir wiederholt gesehen haben, sehen viele wichtige Theoretiker, von Jürgen Habermas bis zu Carol Gilligan, postformales, dialektisches Erkennen als einen höheren und umfassenderen Modus von Rationalität als Formop an (wie auf vielen Tafeln angezeigt). Zu sagen, daß kognitive Entwicklung sich von formal zu postformal erstreckt bedeutet zu sagen, daß kulturelle Evolution sich von modern zu postmodern bewegt. Das ist natürlich eine komplexe, alle vier Quadranten betreffende Angelegenheit, zu der so wichtige Entwicklungen wie die von industriell zu informationell gehören; aber der Modus des Erkennens ist ein entscheidendes Element, und die postmoderne Welt ist, auf der Höhe ihrer Möglichkeiten, die postformale Welt. Diese Schau-Logik kann nicht nur massive Querverbindungen erkennen, sie ist selbst ein intrinsischer Teil des innerlich beziehungsreichen Kosmos, weshalb Schau-Logik den Kosmos nicht nur beschreibt, sondern auch auch eine Leistung des Kosmos ist. Natürlich sind alle Modi genuinen Wissens solche Leistungen; aber Schau-Logik ist die erste, die dieses auch selbst-bewußt realisieren und artikulieren kann. Hegel tat das in einer der ersten und bahnbrechenden ausführlichen Darstellungen - Schau-Logik wurde ihrer selbst in Hegel evolutionär bewußt - und Saussure tat genau dasselbe mit Linguistik. (10) Saussure nahm Schau-Logik und wandte sie auf Sprache an, und deckte so zum ersten Mal in der Geschichte ihre Netzwerkstruktur auf. Die linguistische Wende ist im Grunde Schau-Logik, welche die Sprache selbst zum Gegenstand ihrer Betrachtung macht. Diese selbe Schau-Logik ließ die ausführlich ausgearbeiteten Versionen der Systemtheorie in den Naturwissenschaften entstehen, und sie stand genauso hinter der Erkenntnis der Postmodernen, daß Bedeutung kontextabhängig ist und Kontexte grenzenlos sind. In all diesen Bewegungen und über sie hinaus erkennen wir die strahlende Hand der Schau-Logik, die endlosen Netzwerke holonischer innerer Verbundenheit bekanntmachend, die das Gewebe des Kosmos selbst bilden. Das ist der Grund, aus dem ich glaube, daß das Anerkennen der Wichtigkeit von integral-aperspektivischer Bewußtheit die dritte große (und gültige) Botschaft der Postmoderne im allgemeinen ist. Zitatende aus Anmerkung 27 zu Kap 9. Zitatanfang Ein paar Worte über Schau-Logik selbst. Als eine Grundstruktur umfaßt sie, als Subholone in ihrem eigenen Sein, alle vorhergehenden Grundstrukturen, sensomotorisch zu emotiv zu Phantasie zu formal zu ihrem eigenen postformalen Sein, und sie integriert idealerweise alle diese Komponenten. Es ist nicht so, daß Schau-Logik ohne Phantasie oder Emotion oder Regeln wäre, sondern sie hält einfach alle in ihrem eigenen weiteren Raum, sodaß sie alle in einem noch größeren Maß erblühen können. Commons und Richards, Fischer und Sinnott neigen dazu, die kognitive Komponenten der Schau-Logik (und oft ihre extremen Entwicklungen) zu betonen, während Basseches, Pascual-Leone, Labouvie-Vief und Deirdre Kramer mehr ihre dialektischen, visionären und integrativen Fähigkeiten hervorheben. Arieti unterstreicht, daß Schau-Logik eine Integration primärer und sekundärer Prozesse ist - Phantasie und Logik - und so sehr kreativ sein kann (die "magische Synthese"), und Jean Gebser betont die Transparenz, integrative Fähigkeit und die multiplen Perspektiven der "integral-aperspektivischen" Struktur. Sie alle sind meiner Ansicht nach wichtige Momentaufnahmen der Schau-Logik, aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen. Schau-Logik, wie jede kognitive Fähigkeit, kann alle Ebenen in allen Quadranten zu ihrem Objekt machen, was in Wahrnehmungen von drastischer Unterschiedlichkeit resultiert. Um sich zunächst einmal auf die Quadranten zu konzentrieren: wenn Schau-Logik den Quadranten unten rechts anschaut, dann ist das Resultat dynamische Systemtheorie in jeder ihrer vielen Formen, von Kybernetik zu Chaostheorie zu Theorie sozialer Autopoiesie und Theorien von Komplexität. Sie fokussieren alle auf die Netzwerke interobjektiver Prozesse und die dynamischen Muster von Existenz und Entwicklung. Auf die menschlichen Aspekte des Quadranten unten rechts angewandt, ist das Ergebnis eine Wissenschaft sozialer Systeme (z.B. Parsons, Merton), die die Wichtigkeit und den Einfluß der materiellen Modi sozialer Interaktion, Produktionskräfte und Beziehungen der Produktion unterstreicht (Beispiele sind unter anderen Comte, Marx, Lenski, Luhmann). Wenn Schau-Logik den Quadranten oben rechts anschaut, ist das Resultat eine systematische Betrachtung des individuellen Organismus, die Bewußtsein als ein Auftauchen von hierarchisch integrierten organischen und neuronalen Netzwerken beschreibt. Diese auftauchend/konnektionistische Sicht ist vielleicht das dominierende Modell kognitiver Wissenschaft an diesem Punkt, und es wird in Alwyn Scotts Stairway to the Mind schön zusammengefaßt. Zu allen diesen auftauchenden Dingen und Netzwerken - einschließlich all der sehr einflußreichen Modelle von Autopoiesie - gehören objektive Systeme, die in Es-Sprache der dritten Person beschrieben werden. Eine ähnlich subjektivistische Sicht des Bewußtseins kann man in Tarts Systemansatz zu Bewußtseinszuständen finden. Ich sage nicht, daß diese Beschreibungen falsch sind; ich sage vielmehr, daß sie bestenfalls nur ein Viertel der Geschichte abdecken. Ich selbst benutze diese Ansätze, wie auch den Strukturalismus, die alle rechts-seitige Ansätze zum Phänomen des Bewußtseins sind, aber ich betone, daß Bewußtsein selbst auch in phänomenalen Ansätzen der linken Seite, in der Sprache der ersten Person, untersucht werden muß - direkte auf Erfahrung beruhende Untersuchungen des Bewußtseins mittels Introspektion und Meditation (siehe Kap. 14). Aus Gründen der Verständlichkeit bezeichne ich manchmal einige der Ebenen in den Quadranten der linken Seite mit strukturellen Begriffen (z.B. Konop, Formop), aber das sind nur Etiketten für phänomenale Ereignisse, die nur in Begriffen der ersten und zweiten Person genau gesehen und beschrieben werden. Siehe Sex, Ecology, Spirituality, 2. Aufl., (CW 6) (besonders Kap. 4 und 14) und An Integral Theory of Consciousness, in: Journal of Consciousness Studies 4, 1 (1997), S. 71 - 93 (CW 7). Wenn Schau-Logik den Quadranten unten links betrachtet, dann ist das Resultat eine Wertschätzung der enormen Rolle kultureller Kontexte und Hintergründe, ein Erfassen der Rolle wechselseitigen Verstehens, ein intensiver Fokus auf Diskurs und ein allgemeines Verständnis von Hermeneutik. Beispiele für diesen Ansatz sind unter anderen Heidegger, Hans-Georg Gadamer, Charles Taylor, Wilhelm Dilthey und Kuhn. Übrigens, wenn diese kulturellen oder intersubjektiven Signifikate ('signifieds') in ihren intersubjektiven semantischen Felder (Unten Links) unter dem Aspekt der äußeren Struktur ihrer (auf es verweisenden, d. Übersetzer) materiellen Signifikanten (signifiers) betrachtet werden - geschriebenes Wort, gesprochenes Wort, Grammatik und Syntax (unten rechts) -, und besonders wenn diese Signifikanten von dem, worauf sie sich beziehen, abgetrennt sind, dann ist das Ergebnis postmoderner Poststrukturalismus in verschiedenen Formen. Von Foucaults Archäologie (die Grammatik von Diskurs/Archiven) zu Foucaults Genealogie (die interobjektiven Strukturen von Macht/Wissen) zu Derridas Grammatologie (das Studium der Ketten geschriebener Zeichen) - die alle Ansätze des unteren rechten Quadranten zu Phänomenen des unteren linken Quadranten sind, Ansätze, die, wenn ausschließlich angewendet, alle wirklich intersubjektiven Bereiche zerstören und, durch performativen Widerspruch, alles Existierende, worauf sie sich beziehen, leugnen. Und wieder, ich sage nicht, daß diese Ansätze falsch sind, aber daß sie nur einen Quadranten begünstigen (in diesem Fall benutzen sie Techniken von unten rechts in einem Versuch, Phänomene unten links zu erhellen, und in dem Maße, in dem diese Ansätze zu weit gehen und die Existenz von unten links in seinen eigenen Begriffen leugnen, enden sie dabei, einem subtilen Reduktionismus zu verfallen), und wenn sie so behaupten, das letzte Wort zu haben, versteigen sie sich zu verschiedenen unhaltbaren Positionen. (Eine Diskussion einer integralen Semiotik von Signifikant, Signifikat, Semantik und Syntax in Das Wahre, Schöne, Gute, Kap. 5, Anm. 12.) Wenn Schau-logik auf den oberen linken Quadranten angewandt wird - wenn Schau-Logik nach innen auf ihren eigenen Bereich schaut - können mehrere Dinge passieren. Erstens bedeutet wie bei jeder Grundstruktur die Tatsache, daß ein Mensch Zugang zu Schau-logik hat, nicht, daß dieser Mensch von Schau-Logik aus lebt. Genauso wie ein Mensch kognitiven Zugang zu Formop haben kann, und das Selbst auf der moralischen Stufe 1 verbleibt, so kann ein Mensch Zugang zu Schau-Logik haben und doch auf einer der niedrigeren Ebenen des Selbst und der Entwicklung der Selbst-Linie sein - moralische Stufe 1, ein impulsives Selbst, Sicherheitsbedürfnisse und so weiter (wie wir gesehen haben sind Grundstrukturen für andere Entwicklung nötig, aber nicht hinreichend). Deshalb kann ein Mensch auf einer sehr niedrigen Ebene der Entwicklung von Selbst, Moral und Spiritualität sein, und doch zugleich ein bedeutender Systemtheoretiker (der Schau-Logik auf die äußere Welt anwendet, aber nicht auf sich selbst). Das ist der Grund, aus dem ein Mensch nicht notwendigerweise transformiert wird, wenn er einfach ein "neues Paradigma" lernt, und warum viele "holistische" Ansätze oft innere Transformationen unberührt lassen. (Siehe One Taste und Boomeritis.) Nur wenn sich das Selbst eines Menschen - der Schwerpunkt des proximalen Selbst - von Konop (wo es ein konformistisches Selbst oder eine Persona ist) zu Formop (wo es ein postkonventionelles Selbst oder reifes Ich ist) zu postformaler Schau-Logik (wo es ein Zentaur oder ein relativ integriertes, postkonventionelles, globales, autonomes und existentielles Selbst ist) bewegt nur mit dieser inneren vertikalen Transformation kommt es dazu, daß Schau-Logik direkt auf den Menschen selbst angewandt wird. Sein moralisches Gefühl ist dann postkonventionell und weltzentrisch; seine Bedürfnisse richten sich auf Selbst-Verwirklichung; seine Weltsicht ist universell integral; und er steht am Rande einer dauerhafteren Transformation in die transpersonalen Bereiche. Entsprechend kann Schau-Logik (wie die meisten Formen von Erkennen) auf alle Hauptebenen (oder Bereiche) in allen Quadranten angewandt werden. Wie im Text angedeutet vereinfache ich gewöhnlich diese Bereiche zu Körper, Geist und GEIST (oder präpersonal, personal und transpersonal). In ihrem eigenen Quadranten kann Schau-Logik hinab zu Materie, hinüber zu Geist oder hinauf zu GEIST schauen. Hinabschauen auf Materie ist dasselbe wie das Schauen auf einen der Quadranten der rechten Seite, da sie beide materiell sind, und das Ergebnis ist, wie wir gesehen haben, Systemtheorie. Hinüberschauen zu anderem Geist ist dasselbe wie das Schauen auf ihre eigene Ebene im unteren linken Quadranten, und das Ergebnis ist, wie wir gesehen haben, Hermeneutik. Hinaufschauen zum GEIST - oder eine spirituelle Gipfelerfahrung - führt dazu, daß die höheren Bereiche gemäß den Strukturen der Schau-Logik selbst interpretiert werden, und das Ergebnis ist das, was ich mandalische Vernunft genannt habe (siehe Die drei Augen der Erkenntnis).