LIBERALE IN DER ZIVILGESELLSCHAFT DER LIBERALISMUS VERWIRKLICHT SICH MEHR IN BÜRGERGRUPPEN ALS IN EINER PARTEI Dass der Liberalismus in Deutschland nach 1945 neben Christentum und Sozialdemokratie wichtigste politische Kraft wurde, hatte mit dessen freisinnig-antiklerikaler, marktwirtschaftlicher und nationaler Ausrichtung zu tun. Heute sind diese Kategorien weniger relevant. Der Nationalismus ist antiquiert, Marktwirtschaft wollen trotz ihrer Schwächen alle, und die konfessionelle Klerikalisierung der Politik gehört der Vergangenheit an. Wofür also könnte der Liberalismus in der Berliner Republik stehen? Wo ist sein „Alleinstellungsmerkmal“? Die Menschenrechte hoch zu halten, wäre ein liberales Ziel. Jedoch ist von Parteien und Regierungen hierbei eher Zurückhaltung als Engagement zu beobachten: Es ist offenbar nicht im Staatsinteresse, Missachtungen von Menschenrechten deutscher Bürger durch fremde Mächte öffentlich und moralisch anzuprangern. Hier lässt sich liberales Denken und Handeln nicht immer mit gouvernementalen Ansprüchen vereinbaren. Deshalb wird es Teil bürgerschaftlichen Tuns auch in „Nichtregierungsorganisationen“ („NGO“`s) der Zivilgesellschaft. Von Liberalen in der Bürger- und Zivilgesellschaft kommt ein Plädoyer für eine kulturell offene Gesellschaft. Dass ferne Länder und Völker näher gekommen sind, entspricht liberalem Denken. Solche Offenheit zu erreichen, gelingt aber der durch Wählermassen legitimationsbedürftigen Staatspolitik kaum. So ist es auch hier die Zivilgesellschaft, die Liberalität pflegt und entwickelt. Liberale innerhalb und außerhalb des offiziellen Politikbetriebes wenden sich gegen Bürokratismus, Regelungswut und Bevormundung durch Behörden, Versicherungen, Banken und andere Großorganisationen. Hier gebärden sich offizielle Liberale aus Populismus heraus gelegentlich dogmatisch und verlieren das Augenmaß: Dass Wohlstand, Eigentum, Bildung und Sicherheit sich ohne staatliche Institutionen – also „Bürokratien“ – nicht verwirklichen lässt, das wissen wohl eher ungebundene liberale Bürger als unter der Flagge des Liberalismus agierende Parteipolitiker. Liberal ist es weiterhin, für die europäischen Integration zu sein. So wie Liberale einst die republikanische Regierungsform forcierten, formulieren sie heute Ideen für den Aufbau Europas und der Bundesrepublik. Die Europäischen Verfassung, ihre Orientierung an Volkssouveränität, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sind originär liberale Themen. Beim Föderalismus liegen liberale Forderungen auf der Hand: weniger Bundesländer, klare 1 Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, um die intransparente Verwobenheit verschiedener Ebenen zu beenden. Zum „konkurrierenden Föderalismus“ existieren liberale Reformvorschläge. Aber auch hier wie bei der Europäischen Integration sind an der Wählerstimmung orientierte Parteipolitiker oft weniger konsequent als liberal Denkende in Bürgergruppen. Niemand erwartet von Liberalen, dass sie Pazifismus propagieren. Aber Terror, Krieg und verfehlte Feldzüge sind aus ihrer Perspektive Fehlentwicklungen. Das Ideal bleibt die Entscheidungsfindung per Diskurs – auch international. So wird von Liberalen erwartet, dass sie Konzepte vorlegen, wie Terror und Krieg zugunsten des Diskurses zurückgedrängt werden können. Solche Konzepte sind eher zivilgesellschaftlich als parteipolitisch geprägt. Am Liberalismus orientiert hat sich die Partei FDP – den Gesetzen der Werbewelt folgend – einst den Beinamen „Die Liberalen“ gegeben. Da kam Unmut auf: Liberale gäbe es auch außerhalb der FDP, und es sei doch die Frage, ob diejenigen, die sich in der FDP organisiert haben, tatsächlich Liberale wären oder Karrieristen, welche eine Partei als Sprungbrett nutzen wollten. Jedenfalls gehören „die Liberalen“ des Volkes sicher nicht alle der FDP an, und viele können ihre Leitvorstellungen besser in der Zivilgesellschaft als in einer Partei entfalten. „Liberal“ wird auch verstanden als Alltagseigenschaft. So werden Menschen charakterisiert und von anderen, die „sozial“, „autoritär“ oder „konservativ“ genannt werden, unterschieden. Solche Alltagsliberalität wird positiv belegt mit Etiketten wie „tolerant“, „weltoffen“ oder „großzügig“. Das ist die säkulare Ausprägung des freiheitsliebenden, Macht begrenzenden und auch sozial verantwortlichen politischen Liberalismus. Neben Personen werden Institutionen „liberal“ genannt, zum Beispiel Bildungseinrichtungen, Medien oder Gerichte. Fällt ein Gericht ein mildes Urteil, so gilt es als „liberal“. Eine nicht zu streng auf die Einhaltung von Regeln achtende Schule heißt „liberal“, desgleichen bestimmte Zeitungen oder Zeitschriften. Im säkularen Sinne ist die Bezeichnung „Die Liberalen“ für eine einzige Organisation und ihre Mitglieder mithin ohnehin eine Anmaßung, denn wären alle hierbei bezeichneten Personen und Institutionen beispielsweise der FDP verbunden, wäre diese eine große „Volkspartei“. Das Etikett „Die Liberalen“ grenzt ab von anderen. Es soll eine Marke sein, auf die andere nicht zugreifen können. Hierbei sind die Alternativen einen Schritt weiter gegangen als die FDP: Sie haben ihr Etikett „Die Grünen“ gleich zum Parteinamen erhoben. Wie „liberal“, so ist auch der Begriff „grün“ positiv besetzt - ebenso das Attribut „sozial“. Mithin könnten sich 2 die Sozialdemokraten mit dem Beiwort „Die Sozialen“ schmücken. Schwerer hätte es die Union: „Die Christlichen“ oder „Die Konservativen“ klingt nicht werbewirksam. Es bleibt die Frage, wie berechtigt derartige Etikettierungen sind. Die deutschen Parteien sind nicht mehr stringent den Grundströmungen „liberal“, „sozial“, „konservativ“ und „grün“ zugeordnet: Entweder vertreten sie einen programmatischen Mix, oder ihre Existenz ist aus der Funktion im Parteiensystem heraus zu erkennen. Die Parteien verdanken ihren Fortbestand oft dem schlichten Selbsterhaltungstrieb ihrer Organisationen. So konnte es kommen, dass die CDU Ende 2006 je einen unternehmer- und einen arbeitnehmerfreundlichen Antrag zugleich annahm. Und während des „Projektes 18“ war es für die es tragende Partei 2002 allein wichtig, dass das numerische Wahlziel auf dem Etikett stand. Hinzu kommt, dass alle politischen Konkurrenten – in der Sprache der Webestrategen: „Mitbewerber“ – beanspruchen, liberal, sozial, grün und weiteres zugleich zu sein. Die Grünen sehen sich als moderne Liberale. Die doppelte Staatsbürgerschaft und die „Homoehe“ gelten als Projekte, bei denen die einstige Ökopartei in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit Felder besetzt hat, die von einer liberalen Partei zu beackern wären. Mit ihrer Politik rekrutieren die Grünen Mitglieder, die für sich in Anspruch nehmen, „linksliberal“ zu sein. Die SPD hat 1982/83 aus der FDP übergewechselte Mitglieder bei sich integriert. Sie unterstrich damit ihren Anspruch, auch liberale Politik zu repräsentieren. Bekanntestes Beispiel für einen erfolgreichen „ehemaligen Liberalen“ in der SPD ist Günter Verheugen. Über einen „liberalen Flügel“ verfügt die Union seit eh und je. Er wurde einst repräsentiert von Politikern der Weimarer Republik wie Ernst Lemmer, später unter anderen durch Richard von Weizsäcker. Symptomatisch ist Ludwig Erhard, der – parteilos, aber längst im politischen Geschäft und als liberaler Wirtschaftspolitiker bekannt – sich angesichts konkurrierender Avancen vor den Bundestagswahlen 1949 für die CDU entschied, weil er die besseren Aufstiegschancen erwartete. Unter dem Dach des Grundgesetztes sind alle agierenden politischen Parteien – mit Ausnahme extremer Rechter und Linker - wie das gesamte politische System liberal. So wird hierzulande parlamentarische Demokratie praktiziert: mit Akzeptanz des machtbegrenzenden Wechselspiels zwischen Regierung und Opposition, der Marktwirtschaft und des Ziels vom Wohlergehen der Nation. Zur Durchsetzung seiner Werte setzt das politische System auf Überzeugung, schließt Gewalt aus und verurteilt sie, wo sie auftritt. Alle dieses politische System tragenden Parteien, Medien und Verbände machen „liberale“ Politik. Zugleich aber ist ihre Politik auch „sozial“ ausgerichtet, seit den achtziger Jahren „grün“ und immer auch 3 „konservativ“. So reduziert sich bei einzelnen Parteien alles auf die Mischung: Welche Grundhaltung überwiegt? Jenseits des offiziellen Parteibetriebes formiert sich das Liberale in der Bürgergesellschaft jedoch eigenständig. Der Kampf für Gleichheit der Geschlechter – „gender mainstreaming“, für Bildungs- und Berufschancen Menschen ausländischer Herkunft, gegen Gewalt in der politischen Auseinandersetzung fesselt zunehmend auch liberal eingestellte Bürger jenseits der Parteienlandschaft. Unter allen zivilgesellschaftlichen Verfechtern solcher Ziele heben sich Liberale dadurch ab, dass sie ihre Ideen nicht als Verhaltens- und Sprachzwang postulieren. Widerspruch und offene Auseinandersetzung gehören ebenfalls zu ihrem Handeln. Letzte Wahrheiten gibt es für sie nicht. Der soziale Druck der politischen Korrektheit ist nicht die Methode Liberaler in der Bürgergesellschaft. Die Zivilgesellschaft ist pluralistisch. Der Lackmustest für Liberale unter ihnen ist, dass diese allgemein angesagten „politischen Korrektheiten“ misstrauen. Auch bürgerbewegte Liberale orientieren sich lieber an Max Weber: „Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß.“ Solche Tugenden finden sich nicht nur in Regierungs- und Parlamentsapparaten, sondern mehr und mehr bei denen, die dort gerne herablassend als „die Menschen“ bezeichnet werden: in der Zivilgesellschaft. Das Liberale im Alltag siedelt sich in der Bürger- und Zivilgesellschaft an. JÜRGEN DITTBERNER 4