Friedrich-Schiller-Universität-Jena Institut für Politikwissenschaft Lehrstuhl für Vergleichende Regierungslehre Seminar: Einführung in die Vergleichende Politikwissenschaft, WS 2010/11 Dozent: Stefanie Rauner Referenten: Maheba Goedeke Tort, Patrick Pickhan, Guntram Proß, Daria Zwick, Susan Mai, Julia Prochazka, Susanna Thiel, Franziska Müller, Patrick Rohde, Bianca Widemann Datum: 18.01.2011 Politische Willensbildung II: Verbände in Deutschland und den USA Einleitung und Definitionen Definition Verband: Als Verband können solche Vereinigungen bezeichnet werden, die 1) dauerhaft organisiert; 2) auf freiwilliger Mitgliedschaft basierende Zusammenschlüsse wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Gruppen darstellen; 3) nach außen gemeinsame Interessen artikulieren und damit direkt oder indirekt in die politische Willensbildung und Entscheidungsprozesse beeinflussen; 4) nach innen die divergierenden Interessen ihrer Mitglieder aggregieren. Funktionen von Verbänden: Aggregation von Interessen Artikulation von Interessen Politische Mitwirkung Verbände versuchen somit Parteien durch Lobbying zu beeinflussen Definition Partei: Eine politische Partei ist ein auf unterschiedliche Weise organisierter Zusammenschluss von Menschen, die innerhalb des umfassenden politischen Verbandes danach streben, politische Macht und die entsprechenden Positionen zu besetzen, um ihre eigenen sachlichen und ideellen Ziele zu verwirklichen und / oder persönliche Vorteile zu erlangen. Abgrenzung der Bereiche Parteien-Verbände-Vereine: Funktionen von Parteien Repräsentation und Aggregation von Interessen - Beteiligung an und Bildung von Regierungen - Sozialisation und Rekrutierung der politischen Elite - Beteiligungsmöglichkeit für Bürger - Kommunikation zwischen Gesellschaft und Staat Unterschiede von Parteien und Verbänden deutlich wird: Funktionen von Parteien und Verbänden fast identisch. Kerngedanke ist immer eine Interessenaggregation innerhalb einer Organisation. Parteien nominieren Kandidaten innerhalb ihrer eigenen Organisation für Wahlämter Parteien und nicht Verbände stellen das Personal für die Bildung einer Regierung! Unterschiede von Vereinen und Verbänden höchst problematische Unterscheidung: Denn fast alle Interessenverbände sind rechtlich als Vereine konstituiert. 1 Verbände sind meist Dachorganisationen von Vereinen. Verbandsbegriff weit gefasst: Vereine auch aus dem Freizeitbereich werden erfasst, da Interessen auch nach außen (z.B. auf lokaler Ebene) vertreten werden können. Verbandsbegriff eng gefasst: Nur Vereinigungen, die auf Dauer angelegt sind und vor allem staatliche Entscheidungen in ihrem Sinne beeinflussen wollen. 2. Gegenüberstellung der Verbändesysteme 2.1 Rechtliche Rahmenbedingungen Deutschland: Art. 9 GG: Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit Art. 5 und Art. 8 GG: Meinungs-, und Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit Art. 19 GG: Bindung an die Grundrechte Geschäftsordnung von Bundestag, Bundesregierung und den Bundesministerien: o §70 GOBT: öffentliche Anhörungen, Beiräte bei Ministerien Einfachgesetzliche Regelungen USA: rechtliche Regulierung der Interessengruppen schwierig (Ausdruck der Rede- und Meinungsfreiheit), daher Versuch der Institutionalisierung und Offenlegung der Verbandsarbeit seit 1911 streng regulierte Hearings bei Gesetzgebungsverfahren 1946 Federal Regulation of Lobbying Act, wurde 1995 erneuert → Registrierung der Verbände vorgeschrieben, Buchführung über Mittel, Bericht über Aktivitäten bei Legislative 1989 Empfänger staatlicher Hilfen dürfen von dem Geld keine Lobbyisten bezahlen und mit dem Ethics Reform Act werden Verhaltensregeln zwischen Abgeordneten und Lobbyisten festgelegt (u.a. ehemalige Mitarbeiter des Kongresses dürfen nicht im gleichen Bereich für die freie Wirtschaft als Lobbyist arbeiten) 2.2 Struktur der Verbände Deutschland: USA: lokal, regional und bundesweit organisiert Verbände auf zentralstaatlicher Ebene: reiner Zusammenschluss von Fachverbänden, die selbst über eine territoriale Gliederung verfügen bzw. Dachverbände (BDI) Hierarchie der Verbände: Dachverbände →Branchenverbände →Einzelverbände Professionalisierungs-, und Rationalisierungstendenzen Innerverbandlicher Aufbau: o Delegierten-, und Repräsentationssystem mit oberster Entscheidungskompetenz o Kongress, Vorstand: kaum Gestaltungsmöglichkeit o Präsidium: bedeutendstes Gremium des Verbandes o Geschäftsführung von Mitgliederversammlung gewählt o Beiräte und Ausschüsse mit untergeordneter Funktion dezentral und fragmentiert organisiert sehr heterogene Interessen in der Gesellschaft führen zur starken Aufsplitterung in verschiedene Berufs- und Bevölkerungsgruppen gegliedert auf Bundesebene mehr Zweckbündnisse als auf Dauer angelegte Koalitionen keine klaren Kompetenzen sinkender Organisationsgrad, insgesamt niedriger als in Deutschland 2 männliche Dominanz in der Mitgliederstruktur 2.3 Typologie der Verbände Deutschland: Verbände von Wirtschaft und Arbeit: o Wirtschaftsverbände: Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) o Gewerkschaften: Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) o Agrarpolitische Verbände: Deutscher Bauernverband (DBV) Verbände im Bereich des Sozial-, und Wohlfahrtswesens: Deutscher Caritasverband (DCV), Arbeiterwohlfahrt (AWO) Berufsständische Organisationen: Bundesärztekammer Neue soziale Bewegungen: Frauen-, Friedens-, und Umweltbewegungen Vereinigungen von Körperschaften des öffentlichen Rechts: Deutscher Städte-, und Gemeindebund (DstGB) USA: Wirtschafts-/Unternehmensverbände: kein einheitlicher Block, sondern vielfältige Interessen; viele Verbände sind Gruppierungen kleiner und mittelständischer Unternehmen, die sehr fragmentiert über die USA verteilt sind und bei denen wenig über die Bundesebene organisiert wird; in Washington sind hauptsächlich die Großunternehmen ansässig Gewerkschaften: Problem der heterogenen Interessen in der Arbeiterschaft, die somit schwer zu organisieren ist; in der amerikanischen Gesellschaft großes Misstrauen gegenüber Gewerkschaften; sind oft betrieblich organisiert und kümmern sich um betriebsinterne Dinge sowie die Umsetzung von Tarifverträgen; independent unions sind in keinem Dachverband; Dachverbände sind oft mehr koordinierend und dezentral und föderal untergliedert, daher trotz großer Mitgliederzahl geringer Einfluss Agrarorganisationen: Mitgliederschwund, da Branche an Bedeutung abnimmt, dennoch sehr einflussreich auf Politik; setzen sich vor allem für ein Bestehen der Subventionen für ihre Mitglieder ein Standes-/Berufsverbände: zuständig für Interessenvertretung einer Berufsgruppe, die Organisation der Ausbildung und die Zulassung zu einem Beruf, genießen hohes Ansehen in der Bevölkerung public interest groups: „Gemeinwohl“-orientiert, artikulieren latente Interessen, große Mitgliedschaft, große Finanzmittel single interest groups: Vertretung Partikularinteressen, oft nur eine Forderung (National Rifle Association) ideelle Gruppen: wollen häufig Bewahrung der „alten Werte“, die sie v.a. durch die public interest groups bedroht sehen Interessenvertretung der öffentlichen Gebietskörperschaften: wollen öffentliche Aufträge und Subventionen 2.4 Einflussnahme der der Interessenverbände auf den politischen Prozess Deutschland: Exekutive: primärer Adressat der Einflussnahme frühzeitiges Einwirken auf polit. Willensbildungsprozess für eine wirkungsvolle Vertretung der Forderungen bereits im Referentenentwurf wichtig sind auf die Dauer angelegte formalisierte Beziehungen zur Exekutive: personelle Verflechtungen und institutionalisierte Beteiligungsformen in Kommissionen und Beiräten Verflechtung zwischen Ministerialbürokratie und Verbändesystem 3 Verbände mit beratender Funktion, aber keine Ersetzung und Entscheidungskompetenz Parlament: nachgeordnete Bedeutung bei Einflussnahme Lobbyisten im Parlament, häufig als Doppelmandatsträger: Arbeit erfolgt dann ,,von innen“ Verbandsfärbung des deutschen Bundestages, aber weder im Parlament noch in Fraktionen verfügen einzelne Interessengruppen über eine mehrheitsfähige ,,innere Lobby“, anders in den spezifischen Ausschüssen (,,Verbandsinseln“) Ausschüsse und Fraktionen als wichtigste Foren für verbandlichen Lobbyismus Parteien: personelle Durchdringung, Einflussnahme durch finanziellen Einsatz, aber keine organisatorische Verzahnung mit Verbänden Legislative: Judikative: keine Einflussnahme durch Verbände USA: Exekutive: Wechselseitige Beziehung von Verwaltung und Interessengruppen: Verwaltung: Ausarbeitung eines Großteils der Gesetzesentwürfe (Einflussnahme noch in der Entstehungsphase von Gesetzen) Beurteilungs- und Ermessensspielräume beim Gesetzesvollzug Interessengruppen: Lieferant für Informationen weitere Adressaten: „departments“ „Independent Regulatory Commissions“ „Eingebaute“ Lobbyisten Legislative: Kongress als Entscheidungszentrum im Gesetzgebungsprozess Einflussnahme von „außen“ besonderer Einfluss auf „informelle Gruppen“ im Parlament Methoden der Kontaktaufnahme zu Abgeordneten: direct lobbying grassroots lobbying Judikative: „Dritte“ Gewalt als Adressat, weil: verbandspolitische Einflussnahme auf richterliche Ernennungs- und Bestätigungskompetenzen „amicus curiae“-Strategie 2.5 Bedeutung der Interessenverbände Deutschland: klare Struktur der Verbände ermöglicht eine Integration in den polit. Prozess, wichtig für Unternehmen, da so ihre Interessen und polit. Gewicht gestärkt werden effiziente Interessenaggregation: erfolgreiche Bündelung vielfältiger, auseinanderstrebender Interessen Adaption neuer Interessen allerdings schwierig, da einflussreiche Unternehmen aus gleichen Branchen stammen Verbandseinfluss kommt nicht nur ,,von außen“, durch Querverbindungen zwischen bestimmten Verbänden und Ministerien auch immanent etabliert Züge von Korporatismus: erfolgreiche Integration, z. B.: Bündnis für Arbeit Anknüpfung an Pluralismus : Einfluss einer Vielfalt frei organisierter Gruppen als legitimes, 4 USA: demokratisches Mittel auf staatliche Willensbildung anerkannt dennoch werden Verbände in der Öffentlichkeit eher konträr gesehen (undemokratisch, übermächtig und Gemeinwohl-gefährdend vs. Integrations-, Vermittlungs-, und Steuerungsfunktion) große Akzeptanz in der Bevölkerung, wird nicht so kritisch gesehen wie in Deutschland großer Einfluss der finanzstarken und bekannten Verbände in Einzelfragen, themen- und stellenweise kann von Einfluss durch Eliten gesprochen werden da die Verbände es auf nationaler Ebene aber wegen der Heterogenität nicht schaffen, einheitliche Forderungen zu stellen, kann von einem „Kartell“ in Sachen Arbeit und Kapital nicht gesprochen werden public interest groups haben großen Einfluss, auch „schwächere“ Gesellschaftsgruppen können sich damit artikulieren viele Gruppierungen haben kein Interesse an bundesweiter Organisation, sondern bleiben regional EXKURS: Die Parteiensysteme Deutschlands und der USA Deutschland USA Siehe: Rudzio, Wolfgang, Das politische System der Siehe: Klumpjan, Helmut, Die amerikanischen Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2006, S. Parteien. Von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, 93-137. Opladen 1998, S. 17-50. Forschungsdesign Phänomen: Wir stellen eine unterschiedliche Art und Weise der Einflussnahme von Interessenverbänden und Parteien in verschiedenen politischen Systemen fest. Erkenntnisinteresse: Die Art der Einflussnahme von Interessenverbänden auf den politischen Prozess im Zusammenhang mit der Struktur und Organisation der Parteien. Fragestellung: Inwiefern ist die Parteienstruktur und -organisation eines Landes entscheidend für die Art der Einflussnahme der Interessenverbände auf den politischen Prozess? Relevanz: - wichtig zum Verständnis des Verhältnisses zwischen Parteien- und Interessenverbandssystem und deren Bedeutung bei der politischen Willensbildung. - für Parteien wichtig, um zu wissen, wie sie sich Interessenverbänden gegenüber positionieren sollten. Hypothese : "Je stärker die Ausdifferenzierung die Parteienstruktur und -organisation eines Landes ist, desto systemimmanenter ist die Einflussnahme der Interessenverbände auf das politische System." Variablenauswahl: Unabhängige Variable: Parteienstruktur und -organisation Abhängige Variable: systemimmanente Einflussnahme der Interessenverbände Wir gehen davon aus, dass ein stärker ausdifferenziertes Parteiensystem dazu führt, dass sich Bürger eher in den Parteien engagieren, um ihre Interessen direkt im politischen Prozess durchzusetzen. Die Interessenverbände versuchen, eigene Mitglieder in politische Entscheidungspositionen zu bringen und somit intern Einfluss zu nehmen. (interne Einflussnahme) 5 In anderen Systemen gibt es wenige, große Parteien, in denen sich viele verschiedene Interessen sammeln. Die eigentliche Durchsetzung von Interessen versuchen die Bürger von außen über Interessenverbände. (externe Einflussnahme) Operationalisierung: Kontextvariablen: Demokratie, Föderalismus und Rede- und Meinungsfreiheit Ausdifferenzierte Parteienstruktur und -organisation Indikatoren: deutliche ideologische Unterschiede zwischen den Parteien → Beispiel Rechts-Links Binnenstruktur sehr ausdifferenziert → ist gegeben, wenn Parteien hierarchisch und auf mehreren föderalen Ebenen organisiert sind Fraktionsdisziplin → geht aus dem Regierungssystem, zur Sicherung der Handlungsfähigkeit der Parteien hervor systemimmanente Einflussnahme der Interessenverbände Indikatoren: regionale vs. zentrale Organisation der Interessenverbände Verbandsfärbung → Verbandsmitgliedschaft der Abgeordneten Institutionalisierung → Gesetzliche Einbindung Fokus der Medien → Zu Sachverhalten werden entweder Parteifunktionäre oder Verbände befragt Fallauswahl: Most similar case design, da wir untersuchen wollen, ob unterschiedliche Parteiorganisation der Grund für die unterschiedliche Art der Einflussnahme der Interessenverbände ist. Dafür bieten sich die USA und Deutschland an. Ausdifferenzierte systemimmanente Föderalismus Demokratie Rechtsstaat Rede- und Parteienstruktur Einflussnahme der Meinungsund Interessenverbände freiheit organisation USA - x x x x x Deutschland x - x x x x Fazit: Unsere Untersuchung hat die vorliegende Hypothese vorläufig bestätigt. Selbstkritik: Monokausaler Ansatz der Hypothese ist nicht ausreichend, siehe Großbritannien (starke Parteiendifferenzierung, aber geringer Einfluss der Verbände). Ein Einbezug der historischen Tradition von Verbänden wäre sinnvoll gewesen. Auch ist das Ergebnis nicht repräsentativ. Literaturverzeichnis: Klumpjan, Helmut, Die amerikanischen Parteien. Von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Opladen 1998, S. 17-50. Lösche, Peter, Verbände und Lobbyismus in Deutschland, Stuttgart 2007, Kap. I (S. 9-21) und Kap. VI (S. 93-99). Reutter, Werner, Deutschland. Verbände zwischen Pluralismus, Korporatismus und Lobbyismus, in: 6 Reutter, Werner/Rütters, Peter (Hrsg.), Verbände und Verbandssysteme in Westeuropa, Opladen 2001, S. 75-101. Reutter, Werner/Rütters, Peter, Interessenverbände, in: Gabriel, Osca W./Kropp, Sabine (Hrsg.), Die EU-Staaten im Vergleich. Strukturen, Prozesse, Politikinhalte, 3., aktualisierte und erweiterte Auflage, Wiesbaden 2008, S. 389-411. Rudzio, Wolfgang, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2006, S. 93137. Wasser, Hartmut, Die Interessengruppen, in: Jäger, Wolfgang u.a. (Hrsg.), Regierungssystem der USA. Lehr- und Handbuch, 3. überarb. Aktualisierte Auflage, München 2007, S. 327-346. 7