Teil 12 Der Löwe

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Mike Winter
Teil 12 Der Löwe
-1Space World Center, Bremen 02:00, Sonntag Morgen.
Hinter einem gläsernen Schreibtisch in irgendeinem der Büros in der
dritten Etage des Verwaltungsgebäudes arbeitet zu dieser späten, oder
besser gesagt, frühen Stunde ein Mann, dessen Sorgenfalten sich tief
in sein Gesicht gegraben haben. Seine langen silbergrauen Harre
fallen über die gepolsterten Schultern seines Armanianzuges. Er
jongliert erfolglos mit den Zahlen der Monatsabrechnung. Schon seit
längerem bleiben die Besucherzahlen hinter den Erwartungen der
Investoren zurück. Ferdinand von Mertesheimer ist mit seinem Latein
am Ende. Er allein trägt als Manager des Space Centers die
Verantwortung für das sich mehr und mehr abzeichnende Desaster.
Auch wenn ihn die Gesellschafter nicht persönlich haftbar machen
können, wird er in der Bremer Finanzwelt kein Bein mehr an die Erde
bekommen. Abgesehen davon hat auch er viel Geld in das Projekt
gesteckt.
Der Mann hinter dem Schreibtisch leert zum wieder-holten Male den
Cognacschwenker. Sein Gesicht ist blutleer, die trüben Augen
verstecken sich in tiefen Höhlen. Seine zittrigen Hände greifen nach
einer Holzschatulle, die sich neben der Flasche mit dem Rest Remi
Martin befindet. Sie holen eine dicke Zigarre und ein Päckchen mit
Streichhölzern daraus hervor. Minuten später umhüllt dichter Rauch
den Schreibtisch. Ferdinand von Mertesheimer hat sich wieder seinen
Unterlagen zugewandt. Er bemerkt nicht, wie sich eine unbekannte
Person Zutritt zum Verwaltungsgebäude verschafft. Seine Finger
fliegen über das Tastenfeld eines Tischrechners. Vielleicht gibt es aus
der drohenden Insolvenz ja doch noch einen Ausweg?
Der Eindringling hat sich inzwischen an der Pförtnerloge des
Wachpersonals vorbeigeschlichen. Der alte Mann vor den Monitoren
ist während seines anstrengenden Dienstes eingeschlafen. In der Faust
des Unbekannten befindet sich eine italienische Beretta - Cougar, auf
die ein Schalldämpfer geschraubt wurde. Der Alte hinter der
Glasscheibe interessiert ihn nicht, er verfolgt ein anderes Ziel. Seine
Vorgehensweise ist bis ins letzte Detail durchdacht, minutiös geplant.
Der Mann mit der Cougar lächelt, während er sich an der Glasscheibe
vorbeischiebt. Es hätte ihm nichts ausgemacht, den Alten kalt zu
stellen, doch wenn er am Leben bleibt, ist er ihm von größerem
Nutzen..
Sein behandschuhter Zeigefinger drückt auf den Taster, der die
Fahrstuhltüren auseinander fahren lässt, dann betritt der Mann, dessen
Bewegungen an die Geschmeidigkeit einer Katze erinnern, den Lift
und die Türen schließen sich hinter ihm. Nur ein typisches Surren ist
zu hören, während sich die Kabine nach oben hebt. Ein heller Gong
kündet schließlich davon, dass der Fahrstuhl sein Ziel erreicht hat.
Gleichmäßig schieben sich die beiden Türhälften auseinander. Vor
dem elegant gekleideten Mann im Sportjackett teilt sich ein dunkler
Flur.
Der Eindringling verlässt den Lift. Er sieht den Gang zu beiden Seiten
hinab. Hinter ihm schließen sich die mechanischen Türen der Kabine.
Er entscheidet sich für die linke Seite. Lautlos tastet er sich durch die
Dunkelheit. Bingo! Unter einer der Türen dringt Licht auf den Flur.
Das muss das Büro seines Opfers sein. Ein letztes Mal ruft er das Bild
der Zielperson vor seinem geistigen Auge ab, seine Faust umschließt
die Waffe mit Nachdruck, sämtliche Sehnen seines Körpers spannen
sich an, pures Adrenalin schießt durch seine Adern und noch mit
demselben Wimpernschlag reißt er ruckartig die Tür auf.
Zwei zu Tode erschrockene Augen starren ihn an. Der Unbekannte
erkennt in dem Mann hinter dem gläsernen Schreibtisch sein Opfer
wieder. Er hält die Cougar am ausgestreckten Arm. Der grauhaarige
Mann im Nadel-streifenanzug erhebt sich langsam. In seinem Gesicht
zeichnet sich Verwunderung. „Wer sind Sie?“, herrscht er dem
Eindringling entgegen. Doch der antwortet ihm nicht, sondern schließt
in seliger Ruhe die Tür. „Was wollen Sie von mir? Wenn Sie auf Geld
aus sind, kommen Sie vergebens. Ich habe gerade heraus-gefunden,
dass ich pleite bin.“ Mertesheimer lacht zynisch. „Sie sehen also, Sie
kommen vergebens.“ „Dein dreckiges Geld will ich sowieso nicht! Ich
nehme dir das, woran du neben deinem Geld am meisten hängst,
Freddy, - dein Leben.“
Der Grauhaarige erstarrt zu Eis. Nur wenige Menschen kannten ihn
unter diesem Namen. Tausend Gedanken schießen ihm durch den
Kopf. Sein Verstand arbeitet so gut es in dieser Situation möglich ist
und plötzlich fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Er hat den
Mann, dessen Waffe weiterhin auf ihn gerichtet ist, erkannt. Lange
war es her, verdammt lange und doch kommt es ihm in diesem
Augenblick so vor, als habe er den Knaben erst gestern auf seinem
Schoß gewogen. Dann kommt ihm die Erinnerung an jenen Tag, der
auch sein Leben veränderte. Der Mann hinter dem Schreibtisch kann
seine Gefühle nicht länger unter Kontrolle halten. Panik bricht in ihm
aus, treibt ihm puren Angstschweiß aus den Poren. „Lass uns darüber
reden,“ fleht er. Doch mehr als ein müdes Grinsen kann er seinem
Gegenüber nicht entlocken. Ein schlichtes Plopp beendet sein Hoffen.
Mertesheimer greift sich an die Brust. Er fühlt, wie der Schmerz darin
brennt und doch will er nicht für wahr haben, dass dies seine letzten
Atemzüge sein sollen. Voller Entsetzen starrt er in das Gesicht seines
Richters. Dann denkt er an seinen Bruder und daran, dass er ihn
warnen muss, doch der rote Fleck, der langsam das Hemd und seine
Weste durchtränkt, unterhalb der Schusswunde hervorquillt,
verdeutlicht ihm, nur noch wenig Zeit zu haben. Während die eine
Hand unermüdlich auf die Wunde presst, greift die andere zum
Telefon, wirft den Hörer von der Gabel und fingert nach der
Kurzwahl, die er wegen der häufigen Telefonate mit seinem Bruder
eingespeichert hatte.
Der Mann mit der Cougar lässt ihn gewähren, ergötzt sich an dem
verzweifelten Versuch seines Opfers. Ja, er empfindet es als eine Art
Spiel, bei dem es am Ende doch nur einen Sieger geben kann. Sein
lüsternes Sinnen nach Rache hat ihn derart verbittern lassen. All die
Jahre seiner Kindheit, in denen er mit ansehen musste, wie sein Vater
in einer leblos wirkenden Hülle, ohne das Wissen um das, was
geschehen war, dahin vegetierte. All die Jahre in denen die Brüder
Mertesheimer seinen Vater schmählich im Stich ließen. Sein Vater
war daran zerbrochen, war inzwischen einsam und in Armut
gestorben. Aber nun war er alt genug, um Rache zu nehmen und sich
all das zu holen, was seiner Familie zustand.
Er geht einige Schritte auf den Schreibtisch zu, dabei beobachtet er
sein Opfer genau. Mertesheimer steht noch immer schaukelnd
dahinter. Er ist zäh, presst nach wie vor eine seiner Hände auf die
Wunde, als wenn er glaubt, auf diese Weise die Blutung zum
Stillstand bringen zu können. Der Mann im Sportjackett steht nun
unmittelbar vor dem Telefon. Er hört, wie sich am anderen Ende der
Leitung eine Männerstimme meldet. Der Hörer liegt nach wie vor auf
der Glasplatte neben dem Telefon. Mertesheimer greift danach, hat
aber keine Kraft mehr, ihn anzuheben, geschweige denn, an seine
Lippen zu pressen. Ja, er hat nicht einmal mehr die Kraft, einen
vernehmlichen Laut von sich zu geben. Er röchelt, schwankt und sackt
in den Chefsessel, hinter dem Schreibtisch, wo ihm schließlich auch
die letzten Lebensgeister entschwinden.
Der Unbekannte greift nach dem Hörer, hält ihn an sein Ohr und
lauscht. Er vernimmt die wütende Stimme des Angerufenen, der
seinen Unmut über die nächtliche Belästigung in rüdem Ton zum
Ausdruck bringt. Als er seine Schimpfkanonade für einen Moment
unterbricht, sagt der Unbekannte gelassen: „falsch verbunden,“ und
legt auf. Ein Grinsen umspielt seine Züge. Es ist die Vorfreude auf
das, was noch kommen soll, denn noch ist seine Mission nicht
beendet.
Er greift in die Seitentaschen seines Jacketts und kramt zwei große,
blaue Plastikmüllsäcke und Klebeband hervor. Die Cougar steckt er in
eine der nun leeren Taschen. Er weiß, dass er sich beeilen muss, aber
noch ist er gut in der Zeit, noch läuft alles nach Plan. Den ersten
Müllsack stülpt er seinem Opfer über den Kopf. Der erschlaffte
Körper kippt nach vorn. Mit einer Hand verhinderte er, dass er
unkontrolliert zu Boden stürzt. Mit der anderen fischt er seinem Opfer
die Brieftasche und einen Schlüsselbund aus dem Anzug, an dem sich
auch ein Autoschlüssel befindet. Abschließend zieht er dem Toten den
Müllsack bis zum Gesäß herunter.
Erst dann lässt er den Leichnam weiter nach vorn kippen, legt ihn
schließlich rücklings auf dem Parkettboden ab. Er hebt die Beine
seines Opfers und streift den zweiten Sack darüber. Da, wo das Plastik
aufeinander trifft, verklebt er es mit dem Klebeband. Er sieht sich um
und entdeckt schließlich ein geeignetes Versteck. Nur für den Fall,
dass sich der müde Nachtwächter doch einmal auf seine Runde begibt
und seine Nase in das Büro steckt. Mehr als 24 Stunden würde er nicht
brauchen. Wenn die Putzfrau irgendwann auch in diesem Büro ihre
Arbeit tut, wird sein Werk vollendet sein.
Die wuchtige Ledercouch lässt sich nur mühsam von der Wand
abrücken, aber um die gut verpackte Leiche dahinter verschwinden zu
lassen, ist sie ideal. Der Unbekannte schleift den leblosen Körper über
das Parkett. Er achtet peinlich darauf, keine Spuren zu hinterlassen.
Schließlich schiebt er das Sofa so weit wie möglich an seinen
Ausgangspunkt zurück. Die Akte, an der sein Opfer bis zu seinem
Tode gearbeitet hat, klappt er zusammen und legt sie in eine der
Schubladen des Blechcontainers neben dem Schreibtisch.
Abschließend schiebt er den Chefsessel an die Glasplatte und verlässt
den Raum. Dabei vergisst er nicht, das Licht zu löschen und die Tür
zu verschließen.
Für den Rückweg hat sich der Mann mit der Beretta für das
Treppenhaus entschieden. Die kleine Halogentasch-enlampe in seiner
Hand weist ihm den Weg durch den dunklen Flur. Das Schlüsselbund
des Toten öffnet ihm den Weg zum Parkplatz. Soll sein Plan
aufgehen, muss es den Anschein haben, als verließe nicht er, sondern
Mertesheimer in seinem Auto das Gelände.
Der Unbekannte braucht nicht lange suchen, er kennt den Wagen
seines Opfers. Sein Plan ist von langer Hand vorbereitet und gut
durchdacht. Davon zeugt auch die Perücke mit dem langen silbernen
Haar, welche er jetzt aus der Umhängetasche unter seinem Jackett
hervor-zieht. Mit ihr auf dem Kopf, wird der schlaftrunkene Pförtner
beschwören, dass er Mertesheimer die Schranke geöffnet hat.
Erst lautes Hupen reißt den alten Mann aus seinen Träumen. Es dauert
einige Momente, bis sich der Wachmann orientiert hat. Der
Unbekannte hebt dreist die Hand und winkt dem Pförtner zu. Der
Uniformierte grüßt peinlich berührt zurück und lässt den Schlagbaum
ohne zu Zögern in die Höhe schnellen. Selbst als der Wagen keine
zwei Meter an der Pförtnerloge vorbeirollt, kann ihn der Alte nicht
erkennen, denn der Mann hinter dem Steuer hält immer noch grüßend
die Hand vor sein Gesicht. Ein entspanntes Grinsen umspielt seine
Lippen, als er im Rückspiegel beobachtet, wie sich die Schranke senkt
und sich der Pförtner wieder in seinem Sessel niederlässt.
Der erste Teil seiner Mission ist erfüllt. Der Killer ist mit sich
zufrieden. Er weiß, dass ihn nun nichts mehr stoppen kann
-2Münzhandelshaus Koch, Braunschweig 23:15 Sonntag Abend.
Das leise Zischen eines Klapppfeils, der durch eine Harpune
abgefeuert wurde und das anschließend, deutlich hörbare Geräusch,
welches verursacht wird, wenn Metall auf Stein kratzt, wurden
gleichsam durch den um diese Zeit immer noch lebhaften
Straßenverkehr überdeckt. Eine dunkel gekleidete Gestalt zieht
vorsichtig an der dünnen Angelschnur, die mit dem Aluminiumanker
verbunden ist. Neben ihr wickelt sich gleichzeitig ein besonders
tragfähiges Drahtseil von einer Rolle ab, die in einer speziellen
Vorrichtung steckt. Bereits nach kurzer Zeit rastet der Karabiner an
der Spitze des Drahtseils in der Führungsöse des Ankers ein und die
Gestalt kann das Seil straffen. Sie sichert es und montiert die kleine
Gondel, mit der sie die zehn Meter über die Seitenstraße zum
angrenzenden Flachdach überbrücken will.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Gestalt mit dieser Vorrichtung
arbeitet. Eine gewisse Routine ist ihr deshalb anzumerken. Überdies
hat sie sich gut auf das Unternehmen vorbereitet. Nachdem sich die
kleinen Metallrollen am Tragbügel der Gondel ungehindert auf dem
Seil hin und herbewegen lassen, hängt die dunkel gekleidete Person
den Lastenträger ein. Ein Sack, in dem sie das benötigte Werkzeug
hinter sich herziehen will. An ihm befestigt sie nun die Angelschnur.
Auch dies klappt ohne Probleme. Mit einem letzten Check
vergewissert sich die Gestalt ob das Seil ausreichend Spannung
aufweist, dann schwingt sie sich einer großen Katze gleich, behände in
die Gondel und zieht sich Stück für Stück über die Kante des
Flachdaches und weiter über die etwa zwölf Meter unter ihr
befindliche Seitenstraße, welche nur wenige Meter weiter in den
Hagenring mündet.
So präzise wie ein Schweizer Uhrwerk und in beinahe stoischer Ruhe
hangelt sich die Gestalt Stück für Stück an sein Ziel heran. Nur noch
einen Wimpernschlag ist die Gondel von der Brüstung des im
spätromanischen Stil erbauten Eckhauses entfernt. Im selben
Augenblick, in dem die Gondel ihr Ziel erreicht, gehen in der
Wohnung des im rückwärtig gelegenen Teil des Hauses die Lichter
aus. Es ist 23.42 Uhr, als die unbekannte Gestalt auf das Flachdach
übersetzt und den an der Angelschnur befestigten Lastensack über die
Straße zieht. Das leise Surren des Laufrades ist nicht einmal von dem
jungen Paar zu vernehmen, welches gerade in diesem Moment, aus
Richtung Innenstadt kommend, die Straße überquert. Der Schatten
wartet einige Sekunden, bis die Passanten weit genug entfernt sind,
ehe er schließlich den Sack über die Brüstung zieht.
Nun geht es Schlag auf Schlag. Sein nächstes Ziel ist ein
Lüftungsschacht, in dessen Gitter er einen Spiegel führt, der am Ende
eines Schwanenhalses befestigt ist. Mit dem blauen Licht eines sich
im Spiegel brechenden Halogenstrahls sucht er nach einem eventuell
dahinter verborgenen Alarmmelder. Ein mildes Lächeln huscht über
das im Dunkel der Nacht liegende Gesicht. Ein Sensor! Ein
Kinderspiel! Die Gestalt bedient sich eines elektronischen
Impulsgebers und überbrückt so die Kabel, mit denen der Sensor an
der Alarmzentrale angeschlossen ist. Nun kann sie in aller Ruhe das
Gitter abschrauben und zur Seite legen.
Laut der Baupläne, die der Löwe über einen Server in Italien, völlig
legal aus dem Internet heruntergeladen hat, führt der Unbekannte
Schatten das Lüftungsrohr genau an den Ort seiner Begierde. Da das
quadratische, etwa fünfzig Zentimeter breite Rohr zunächst steil nach
unten abfällt, befestigt er vorab eine Strickleiter am Einstieg. Bevor er
selbst in den Schacht klettert, lässt er unter zur Hilfename der
Angelschnur den Lastensack hinunter. Dann folgt auch er.
Sein Ziel befindet sich im ersten Stock des Hauses. Dort stehen
mehrere mit seltenen Münzen aus aller Welt vollgestopfte Vitrinen,
die schon viel zu lange darauf warten mussten, von ihm ausgeplündert
zu werden. Bis dahin war es jedoch noch ein weiter und vor allem
nicht ungefährlicher Weg. Doch gerade dieser Kick ist es, der den
Löwen auf seinen Beutetouren reizt. Immer wieder orientiert sich der
katzenhafte Schatten im Geiste an den Eintragungen des Bauplanes,
ehe er schließlich durch ein weiteres Gitter den anvisierten Raum
erblickt. Auch an dieser Stelle verwendet er den Spiegel und die
Lampe, um die andere Seite des Lüftungsgitters nach einem
möglichen Sensor abzusuchen.
Er ist beinahe enttäuscht, als er feststellen muss, dass man an dieser
Stelle auf einen weiteren Impulsgeber verzichtet hat. Dennoch ist er
erfahren genug, um dem ersten Anschein nicht blindlings zu trauen.
Und auch dieses Mal soll ihm seine Vorsicht Recht geben. An den
Schrauben, mit denen man das Gitter befestigt hat, sind Kontakte
angebracht, die bei geringster Berührung einen Alarm auslösen
würden. Die Gestalt ist zufrieden. Jetzt weiß sie, womit man sie
hinters Licht führen will. Die Gefahr liegt nicht in der Komplexität
der Falle, sondern darin, sie zu übersehen, schmunzelt die Gestalt,
bevor sie sich daran macht, die Kontakte kurz zu schließen.
Wenig später ist auch dieses Hindernis überwunden und das Gitter
abmontiert. Aber auch jetzt bleibt der Schatten vorsichtig, setzt noch
nicht zum Sprung in den Raum an, sondern versprüht zunächst einen
feinen Staub, der sich in der Luft des gesamten Raumes verteilt. Der
Schatten sieht amüsiert, wie etwa zehn Zentimeter über dem Boden
mehrere Laserstrahlen sichtbar werden. Er lässt den Lastensack hinab
und folgt ihm mit einem zielsicheren Sprung aus dem etwa zwei
Meter hoch liegenden Lüftungsschacht. Er landet fast lautlos an der
vorbestimmten Stelle. Immer noch zeigt ihm der feine Staub, der sich
nur sehr zögerlich setzt, die Linien der Lichtschranke. Auch zu diesem
Zweck führt der unbekannte Schatten einige Spiegel mit sich, die er
nun, auf kleinen Stativen befestigt, zwischen die Lichtstrahlen schiebt.
Die kleinste Unachtsamkeit kann den Alarm auslösen. Mit viel Geduld
und einer ruhigen Hand gelingt es ihm schließlich, sich so den nötigen
Platz für seine weitere Arbeit zu verschaffen.
Aus einem Erkundungsbesuch als interessierter Münz-sammler
getarnt, weiß er, dass die Glasflächen der Schaukästen mit speziellen
Berührungssensoren ausgestattet sind, welche bei der kleinsten
Erschütterung Alarm auslösen. Ähnliches gilt für die elektronisch
gesicherten Schlösser der Vitrinen. Lange hatte er sich den Kopf
darüber zerbrochen, wie er auch dieses Hindernis überwinden kann.
Es hatte ihm etliche Versuche an einem eigens nachgebauten
Schaukasten gekostet, bis er die Lösung hatte. Er grinste zufrieden,
schließlich nannte man ihn nicht umsonst den Löwen.
Des Rätsels Lösung lag in einer kleinen Flasche Stickstoff, für die er
eine Art Trichter konstruiert hatte. Gefühlvoll stülpt er den Trichter
genau über den Punkt der Glasscheibe, unter dem sich der Sensor
befindet. Bedächtig öffnet er das Ventil und beobachtet für einen
Moment, ob die erhoffte Wirkung eintritt. Das Glas vereist innerhalb
von Sekunden und überträgt die Kälte auf die Elektronik des Sensors.
Der Zeitpunkt, um die Saugvorrichtung anzusetzen, ist gekommen.
Mit der Diamantspitze eines Glasschneiders zeichnet er einen Kreis in
das Glas. Die Sekunde der Wahrheit ist da. In dem Moment, in dem er
das Stück Glas unter den Saugnäpfen herausbricht, wird sich zeigen,
ob sein Plan aufgeht.
Noch zögert er. Pures Adrenalin pumpt durch seine Adern. Die
Anspannung in ihm steigt ins Unermessliche. Ein einziger, kraftvoller
Ruck und das kreisrunde Loch gibt den Griff in das Innere der Vitrine
frei. Ein Gefühl von unerreichter Größe, Einmaligkeit und ein Hauch
von Größenwahn wallt durch seinen Geist. Dann geht alles sehr
schnell. In Windeseile sammelt er die Kostbarkeiten ein und macht
sich an den nächsten Schaukasten, um gleiches zu wiederholen.
Auf diese Weise räumt er schließlich alle acht in diesem Raum
stehenden Vitrinen leer. Zu guter Letzt hinterlässt er an einer der
Vitrinen sein Erkennungszeichen; eine eingeritzte Pranke, dann erst
macht er sich für den Rückzug bereit. Eine Aluminiumsteckleiter ist
schnell zusammengebaut und unter das Lüftungsgitter gestellt. Die
fast leere Stickstoffflasche und die Spiegel, sowie die kleine Leiter
lässt er am Ort seines Triumphes zurück. Es ist 1:32 Uhr, als der Löwe
mit seiner Beute in den Lüftungsschacht steigt. Lautlos schiebt er sich
voran. Vor sich den Lastsack, der noch ein wenig schwerer geworden
ist, als er zuvor schon war.
Plötzlich vernimmt er einzelne Laute, die mit jedem Meter, den er sich
weiter voran schiebt, lauter werden. Durch ein Lüftungsgitter fällt
Licht in den Schacht. Der Dieb verharrt einige Minuten, überlegt, wie
er sich verhalten soll. Die Zeit verrinnt. Er hört die Stimme zweier
Männer, die sich offensichtlich in einem Streitgespräch befinden. Es
sind jedoch nur Wortfetzen, aus denen er sich keinen Reim machen
kann. Manchmal ist selbst bei einem Dieb die Neugier stärker als die
Vorsicht, weshalb sich dieser nun anschickt, der Sache auf den Grund
zu gehen.
Nur noch wenige Meter trennen ihn noch von dem lichtdurchfluteten
Lüftungsgitter, durch welches die Stimmen immer lauter und
bedeutungsvoller zu werden scheinen. Die Sorge doch noch entdeckt
zu werden veranlasst ihn, sich noch vorsichtiger vorzuarbeiten.
Schließlich erreicht er die Luke, durch die sich nun der schmale Blick
durch die Gitterstäbe eröffnet. Der Löwe traut seinen Augen nicht.
Keine drei Meter von ihm entfernt steht ein Mann mit einer Waffe in
der Hand. Er kann nicht in sein Gesicht sehen, aber er sieht, wie er auf
einen Mann in einem Pyjama zielt. Der Dieb hält den Atem an. In
seinem Versteck ist er keineswegs sicher vor einem Bleigeschoss,
welches aus dieser Nähe auf ihn abgefeuert werden könnte.
„Deine Zeit ist abgelaufen, Sebastian von Mertesheimer! Genau wie
es die deines Bruders war. Mit deinem Tod wird meine Rache
vollkommen und das Unrecht endlich gesühnt,“ verkündet der Mann
mit der Waffe triumphal. „Was haben Sie mit meinem Bruder
gemacht, Sie wahnsinniger Psychopath?“, keucht der Bedrohte
panisch. „Aber Sebastian, das weißt du doch, du warst doch live
dabei, als er das Zeitliche segnete. Leider hast du es nicht recht
begriffen, als er sich letzte Nacht von dir verabschieden wollte. Außer
einigen unflätigen Worten hast du ja nichts für ihn übrig gehabt.“
Der Mann im Pyjama verliert auch die letzte Farbe aus seinem
Gesicht. „Was haben mein Bruder und ich Ihnen getan?“, fragt er mit
zitternder Stimme. „Diese Frage kannst du dem Teufel stellen, der
wartet schon auf dich!“ Es ist unmittelbar der Moment, bevor der
Mann mit der Waffe den Abzugshahn durchzieht. Die Spannung
jenseits der Lüftungsschlitze ist unerträglich. Der Löwe ist aus Prinzip
unbewaffnet. Er kann nicht in das Geschehen eingreifen, ohne sich
selbst zu gefährden. Er zweifelt, liegt mit sich selbst im Clinch.
Letztendlich beendet der Aufschrei des Getroffenen das
Zwiegespräch. Entsetzt starrt er auf das Geschehen. Der
Schalldämpfer hat den Knall in ein leises Plopp verwandelt. Der Mann
im Pyjama greift sich ans Herz, stößt einen spitzen Schrei aus und
sackt schließlich in sich zusammen.
Nur mit Mühe kann sich der Dieb beherrschen, als der Killer auf sein
Opfer zugeht, die Waffe nach wie vor im Anschlag hält und den
tödlich Getroffenen mit dem Fuß auf den Rücken dreht. Er sieht den
Rächer hämisch grinsen und sei dies noch immer nicht genug,
beobachtet er mit fassungslosen Blick, wie der Mörder nach seinem
Opfer spuckt. Der Löwe empfindet Abscheu und Ekel vor einer
solchen Menschen-verachtung. Wut steigt in ihm auf und genau in
diesem Augenblick der Unkonzentriertheit stößt
er mit der
Taschenlampe in der Hand gegen das Metall des Lüftungsschachtes.
Der Löwe reagiert blitzschnell, zieht seinen Kopf vom Gitter zurück
und harrt der Dinge, die geschehen.
Er wagt es nicht zu atmen, sämtliche Sehnen sind bis zum Zerreißen
gespannt. Er lauscht, kann jedoch nicht den geringsten Laut
vernehmen. Millimeter um Millimeter schiebt er seinen Kopf wieder
nach vorn. Er erschreckt, als er den Killer nicht mehr als eine
Armeslänge vom Lüftungsgitter entfernt erblickt. Gottlob hat dieser
den Kopf gerade abgewandt und so bleibt der Dieb noch unentdeckt.
Wie einer Schildkröte gleich, zieht er den Kopf zurück und verharrt
bis er Schritte hört, die sich von ihm entfernen. Endlich wagt er es
wieder, zu atmen, seinen von einem Krampf durchströmten Fuß zu
bewegen. Die Schritte entfernen sich weiter und weiter. Schließlich
vernimmt er das Quietschen einer Tür und etwas von der Anspannung
in ihm beginnt sich zu lösen. Noch immer lauscht der Löwe, seine
sämtlichen Sinne sind aktiviert, scannen jeden Quadratzentimeter
seiner Umgebung.
Einige Minuten noch verharrt er so, dann erst, als er sich sicher ist,
dass der Killer nicht mehr in der Nähe ist, wagte er es, seinen Kopf
zwischen den Schultern wieder nach vorn zu schieben. Tatsächlich,
die Luft ist rein. Der Killer hat den Tatort verlassen. Er sieht den
Toten, sieht, wie sich der hellblaue Satin des Pyjamas rot eingefärbt
hat. Er schüttelt betroffen mit dem Kopf. In diesem Augenblick ahnt
er bereits, was tags darauf in der Zeitung stehen wird, doch letzten
Endes weiß er, dass er daran nun nichts mehr ändern kann. Zögerlich
schiebt er sich schließlich weiter durch das Rohr, seinem Rückweg
entgegen.
-3Schwurgerichtskammer im Oberlandesgericht Bremen, Sitzungssaal 7,
10:22 Uhr Montag Morgen.
„Ihr Name ist Mike Winter, Sie sind 37 Jahre alt und wohnen in der
Sonnenstraße Nummer 17.“ Ich bestätigte die Angaben des Richters
mit einem vernehmlichen Ja. „Sie sind Kriminalhauptkommissar und
Leiter der Mordkommission 2, hier in Bremen,“ fuhr der Mann in der
schwarzen Robe fort. „Jawohl.“ „Mit dem Angeklagten sind Sie
weder verwandt noch verschwägert?" „Nein.“ Der Richter sah mich
über die dicken Gläser seiner Brille prüfend an. Abschließend schob
er das Gestell mit dem Zeigefinger über die Nase nach oben. „Als
Kommissar ist Ihnen sicherlich bekannt, dass Sie hier die volle
Wahrheit sagen müssen, nichts verschweigen oder weglassen dürfen?“
„Jawohl.“ „Dann schildern Sie uns nun bitte die Umstände, die zur
Festnahme des Tatverdächtigen führten.“
Wie vom Richter gewünscht schilderte ich dem Gericht, was am
Abend des 22. März vorgefallen war. „Auf Grund unserer
Ermittlungen in der Mordsache Krüger, suchten meine Kollegen
Kriminalhauptwachtmeisterin Edda Blache, Kriminalobermeister
Aron Baltus und ich um 21:45 Uhr das Anwesen der Eheleute
Speckmann auf. Es ging um eine Alibiüberprüfung, bei der sich der
Angeklagte in einigen Widersprüchen verfangen hatte. Meine
Kollegen und ich gingen gerade durch den Garten, als wir im Haus
zwei Schüsse in kurzer zeitlicher Folge vernahmen.“
„Konnten Sie den Angeklagten zu diesem Zeitpunkt von draußen
sehen?“, unterbrach der Richter meine Ausfüh-rungen. „Ich konnte
lediglich zwei Schatten sehen, die durch die zugezogene Gardinen
nicht näher zu bestimmen waren.“ „Sie haben also nicht mit eigenen
Augen sehen können, dass mein Mandant geschossen hat?“, griff der
Verteidiger den Faden auf. „Nein, das sagte ich doch bereits,“
bestätigte ich angefressen. „Was geschah dann,“ brachte der Richter
meine Aussage zurück auf das Wesentliche. „Während der Kollege
Baltus den Hintereingang sicherte, drangen die Kollegin Blache und
ich durch eine offen stehende Terrassentür in das Haus ein. Dort
fanden wir Herrn Alexander Speckmann mit einer Waffe in der Hand
vor. Er stand sichtlich unter Schock. Seine Ehefrau lag etwa vier
Meter von ihm entfernt blutend neben einem Couchtisch. Er
stammelte: ich habe sie umgebracht.“
Für uns lag der Fall schon lange klar wie Kloßbrühe. Nicht nur sein
spontanes Geständnis, sondern auch die Schmauchspuren an seinem
Körper und die Auswertung der ballistischen Untersuchung kamen zu
dem gleichen Ergebnis. Einmal mehr spielte die krankhafte Eifersucht
des Angeklagten die ausschlaggebende Rolle in diesem Ehedrama.
Natürlich versuchte der Anwalt seine bizarre Unfalltheorie zu
untermauern, doch dies musste Angesichts der Tatsache, dass sich
auch für den Mord an dem Geliebten seiner Ehefrau hinreichend
Beweise für seine Täterschaft ergaben, nur bei einem verzweifelten
Versuch bleiben. Die Ausweglosigkeit seiner Situation vor Augen
gestand der Angeklagte schließlich und meine Partner und ich konnten
einmal mehr eine dicke Akte schließen.
Für den Rest des Tages hatte ich mir eigentlich frei genommen, um
mit meiner Lebensgefährtin Trixi und unserem gemeinsamen Baby,
Romy, eine Wohn-zimmercouch für unsere Wohnung auszusuchen.
Aber wie so oft kam auch heute wieder ein dringender Fall
dazwischen, zu dem unser Chef, Kriminalrat Kretzer, niemand
anderen schicken konnte als uns. Wen wundert es, dass Trixi nicht
sehr freudig auf meinen Anruf reagierte. Immerhin war sie fair genug,
um mir am Ende unseres Gesprächs einen versöhnlichen Kuss durchs
Telefon zu schicken. Sie wusste, dass meine Arbeit einen freien Kopf
erfordert, weil jede Unkonzen-triertheit das Aus bedeuten konnte.
Der Einsatz führte mich zum World Space Center, wo der Manager
des Vergnügungscenters tot aufgefunden worden war. Obwohl das
größte deutsche indoor Weltraum Center noch nicht lange in der
Hansestadt existierte, machten bereits hartnäckige Gerüchte über eine
baldige Schließung der Anlage die Runde. Wenn ich persönlich auch
nicht viel von dem halte, was in der Regenbogenpresse zu lesen ist,
war dies das Erste, was sich mir auf der Fahrt zum Einsatzort in den
Sinn gedrängt hatte.
Edda und Aron hatten bereits die Spurensicherung und den
Gerichtsmediziner an den Ort des Geschehens gerufen. Meine
Kollegin
empfing
mich
an
der
Pförtner-loge
des
Verwaltungsgebäudes. Nachdem der Wachmann auf ihr Geheiß den
Schlagbaum nach oben schweben ließ, parkte ich auf dem
Angestellten-parkplatzes, im Hinterhof des Gebäudes. Auf dem Weg
zum Fundort der Leiche informierte mich Edda über die Details, die
sie in der kurzen Zeit seit ihres Eintreffens bereits in Erfahrung
gebracht hatte.
„Der Name unseres heutigen Hauptdarstellers ist Ferdinand von
Mertesheimer. Er war Manager und Teilgesellschafter des Centers,“
erklärte sie mir. „Wer hat den Toten gefunden?“, fragte ich
routinemäßig. „Seine Sekretärin, eine Frau Stichsel.“ Der Fahrstuhl
beförderte uns in die dritte Etage des Bürogebäudes. Die Sekretärin
hatte ihr Büro direkt neben dem ihres Chefs. Die etwa Dreißigjährige
zeigte sich vom Tod ihres Brötchengebers ziemlich mitgenommen.
Noch war nicht abzusehen, ob dies von dem Umstand her rührte, dass
sie es war, die den Leichnam gefunden hatte, oder ob ihre Beziehung
über die eines normalen Arbeits-verhältnisses hinausging. Während
ich mich am Tatort weiter umsah, kümmerte sich Edda um sie. Von
Frau zu Frau plaudert es sich erfahrungsgemäß leichter.
Doktor Knut Hansen war der bestellte Rechtsmediziner. Wir kannten
uns von vielen gleichartigen Begegnungen. Er war ein kleiner, eher
schmächtiger Mann, dessen schmales Gesicht von einer
metallgefassten Brille eingerahmt wurde. Er trug bevorzugt graue
Jacketts von konservativem Schnitt. Wir begegneten uns auf dem
Gang, direkt vor der offen stehenden Bürotür des Opfers. Ich
bemerkte sofort den penetranten Fäulnisgeruch. „Das Opfer ist also
erschossen worden,“ berief ich mich auf Edda. „Das Projektil hat
unterhalb des zweiten Rippenbogens die linke Brustkammer getroffen.
Das Geschoss hat das Herz nur knapp verfehlt und ist schließlich in
den linken Lungenflügel eingedrungen.“ „War der Mann sofort tot?“
Hansen machte ein zerknirschtes Gesicht. „Schwer zu sagen, aber
wenn mich nicht alles täuscht, muss er noch einige Zeit gestanden
haben, nachdem er bereits getroffen war. Dafür spricht jedenfalls die
Laufrichtung des aus der Schusswunde ausgetretenen Blutes.“ „Hm,
der Schütze stand seinem Opfer also gegenüber?“, kombinierte ich.
„Der Doc wog nachdenklich den Kopf. „Dem Einschusskanal zufolge
befanden sich Täter und Opfer in einer aufrechten Position. Ob sie
sich allerdings gegenüberstanden, kann ich nicht sagen.“
Ich sah mich forschend um. Die Leute von der Spurensicherung waren
mit der Abnahme von Fingerabdrücken beschäftigt. Zwei Mitarbeiter
von Doktor Hansen warteten geduldig darauf, dass ich ihnen mein
Okay zum Abtransport des Leichnams gab und mein Partner, Aron
Baltus, machte sich an der Telefonanlage zu schaffen. Ich wandte
mich noch einmal an den Mediziner. „Können Sie den Todeszeitpunkt
schon eingrenzen?“ Hansen legte seine Stirn in tiefe Dackelfalten.
„Nun ja, anhand der Totenflecken und des Zustands des Körpers
würde ich sagen, dass der Mann seit etwa dreißig Stunden tot ist. Plus
– minus vier Stunden, versteht sich.“ Ich sah den Doktor erstaunt an.
Im allgemeinen war ich von ihm nach der ersten Leichenschau
präzisere Infos gewohnt.
Der Pathologe bemerkte meine Verwunderung. „Der Tote war in
Plastiksäcke gehüllt. Es hat also keinen direkten Kontakt mit der Luft
gegeben. Was wiederum den gesamten Verwesungsprozess
beeinflusst. Genau-eres kann ich Ihnen aber erst nach der
toxikologischen Untersuchung mitteilen.“ Dabei werden Speisereste
im Magen – Darmtrakt des Körpers auf den Säuregrad und ihre
Zusammensetzung überprüft. Auf diese Weise lässt sich der
Todeszeitpunkt recht genau bestimmen. „Ich wäre Ihnen sehr dankbar,
wenn Sie die Sache vorrangig bearbeiten könnten, Herr Hansen.“ Der
Mediziner schob seine Brille auf die Nasenspitze und sah mich über
den Rand der dicken Gläser mürrisch an. „Ja, ja, immer das gleiche
mit euch, am liebsten würdet ihr die Ergebnisse schon haben, bevor
das Opfer die Augen für immer zu gemacht hat. Aber das eine derart
komplexe Untersuchung ihre Zeit braucht, um eventuelle Fehler
auszuschließen, wollt ihr nicht für wahr haben.“ Damit wandte er sich
um und ließ mich stehen.
Ich habe während meiner langjährigen Tätigkeit bei der
Mordkommission schon so manche Leiche gesehen. Darunter waren
auch mehrere Wasserleichen, die mir einiges an Dickhäutigkeit
abverlangten, doch der Zustand in dem sich dieser Mordopfer befand,
jagte selbst mir noch einen Schauer über den Rücken. Nachdem die
Leute der Spurensicherung den Fundort der Leiche in Fotos
dokumentiert und die Umrisse des davor stehenden Möbel mit Kreide
auf dem Fußboden kenntlich gemacht hatten, war die Couch bei Seite
geschoben worden. Ich versuchte mir gerade ein Gesamtbild von dem
möglichen Tathergang zu verschaffen, als Aron mich nachdrücklich
an den Telefonapparat bat.
„Hallo, bitte melden Sie sich,“ vernahm ich am anderen Ende der
Leitung eine Männerstimme. „Hier ist der Anschluss von Sebastian
von Mertesheimer.“ Ich deckte die Sprechmuschel ab und wartete auf
Arons Erklärung. „Ich habe die Taste für die Wahlwiederholung
gedrückt.“ Dies war also der letzte Anruf den Ferdinand von
Mertesheimer vor seinem Tode getätigt hatte. „Darf ich fragen, wer
am Apparat ist,“ hörte ich die Stimme wieder. Ich meldete mich und
war noch erstaunter, als mir mein Gesprächspartner erklärte, dass er
ebenfalls von der Mordkommission sei.
Die Kollegen aus Braunschweig waren ebenso wie wir gerade dabei,
die ersten Spuren in einer Mordsache aufzunehmen. Als ich hörte,
dass es sich bei dem Opfer in Braunschweig um den Bruder des
Ferdinand von Mertesheimer handelt, war ich sprachlos und das
geschieht gewiss nicht oft. Der Kollege am anderen Ende der Leitung
hielt es für denkbar, dass beide Fälle in Zusammenhang standen.
Diese Möglichkeit war nicht von der Hand zu weisen.
Hauptkommissar Wolters und ich versprachen uns gegenseitig auf
dem Laufenden zu halten. Ich war gespannt, ob unsere Ermittlungen
in dieselbe Richtung führen würden.
Kommissar Hans Stockmeier und seine Leute von der
Spurensicherung hatten einmal mehr ganze Arbeit geleistet. „Wir
haben eine ganze Anzahl verschiedener Fingerprints am Tatort
gefunden,“ berichtete mir der Leiter der Spurensicherung. Hans und
ich hatten während unserer Arbeit für das Gesetz schon so manche
harte Nuss gemeinsam geknackt. Ich kannte ihn als sehr gewissenhaft
und zuverlässig. Die Erscheinung des Mittfünfzigers glich nicht
zuletzt wegen seines akkuraten Schnurrbarts und dem weißen Haar
der eines schottischen Schlossherrn aus längst vergangenen Zeiten.
„Ingo nimmt gerade die Abdrücke sämtlicher Angestell-ten, die nach
Auskunft der Sekretärin unmittelbar mit dem Ermordeten zu tun
hatten.“ Stockmeier rümpfte geräuschvoll die Nase. „So wie es eben
aussieht, ist Mertesheimer hinter seinem Schreibtisch erschossen
worden. Wir haben auf dem Parkett kaum sichtbare Schleifspuren
gefunden, die eindeutig von den Schuh-sohlen des Opfers herrühren.“
„Hm, ich verstehe nicht, weshalb der Täter...“ „Oder die Täterin!“,
unterbrach mich Edda, die gerade den Raum betrat. „Also schön, von
mir aus auch Täterin,“ griff ich meine Überlegung wieder auf. „Das
halte ich für ziemlich ausgeschlossen,“ wog der Kriminaltechniker
abschätzend den Kopf. „Eine Frau dürfte große Probleme dabei haben
einem leblosen Körper von etwa 90 Kilogramm Gewicht in Tüten zu
verpacken und ihn anschließend quer durch den Raum hinter ein Sofa
zu ziehen.“ Eddas Augen verdrehten sich in Richtung Decke. „Ich
kenne Frauen, die 100 Kilogramm und mehr zur Hochstrecke
bringen,“ verwahrte sich Edda, die Stockmeiers Äußerung einmal
mehr als einen Angriff auf die Gleichstellung der Frauen betrachtete.
„Ich sprach von einer normalen Frau,“ konterte der Kommissar.
Ich versuchte mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. „Warum
wurde Mertesheimer in diese Müllsäcke gestopft und hinter dem Sofa
versteckt, ist hier die Frage.“ „Offensichtlich sollte er nicht vorzeitig
entdeckt werden,“ brachte es Aron auf den Punkt. „Das ist schon
klar,“ grübelte ich weiter. „Wenn ihr mich fragt, brauchte der Täter...,“
„...oder die Täterin!“, unterbrach Stocki Eddas Überlegungen feixend.
Meine Kollegin zog ein Grimasse und fuhr fort. „...die Zeit, um in
aller Ruhe auch noch den Bruder unseres Opfers zu töten.“ „Wenn der
Mord an Mertesheimer von Anfang an in dieser Weise geplant war,
haben wir es mit einem äußerst skrupellosen Menschen zu tun,“ stellte
ich fest. „Nicht nur, dass er ungesehen durch das Gebäude spazierte,“
erläuterte uns Edda. „Er war nach Auskunft des Pförtners sogar dreist
genug, um sich in den Wagen seines Opfers zu setzen und damit in
aller Ruhe an ihm vorbei zu fahren.“
Bereits zu diesem Zeitpunkt unserer Ermittlungen war ich mir sicher,
dass uns dieser Fall noch eine ganze Zeit lang beschäftigen würde. Ich
war sehr gespannt auf die ersten Untersuchungsergebnisse aus der
Pathologie, von der Spurensicherung und natürlich auf das, was uns
die Kollegen aus Braunschweig mitteilen würden. „Ich möchte, dass
ihr euch jetzt die Angestellten vornehmt. Was für ein Chef war
Mertesheimer, gab es Intrigen, gab es in letzter Zeit Entlassungen,
irgendwelche Intimitäten mit weiblichen Angestellten? Ihr wisst
schon, eben das übliche Programm!“ „Was hast du vor, wenn ich
fragen darf?“, erkundigte sich Aron. „Ich habe da noch ein paar
Fragen an den Pförtner, bevor ich mich auf den Weg zur Witwe
mache. Ich schlage vor, wir treffen uns nach getaner Arbeit im Büro.“
„Sie hatten also in der Nacht von Samstag auf Sonntag Dienst?“,
fragte ich den Uniformierten. Der alte Mann war sichtlich erregt.
Immer wieder schüttelte er mit dem Kopf. So, als könne er immer
noch nicht glauben, welches Drama sich, unter allem Vorbehalt, drei
Stockwerke über ihm in jener Nacht abgespielt hat. „Ich habe den
Chef doch mit eigenen Augen rausfahren sehen. Er hat sogar noch
freundlich gegrüßt.“ Ich verzog mitfühlend das Gesicht. „Ich verstehe
noch immer nicht ganz, wie der Mörder unentdeckt in das Gebäude
kommen konnte.“ „Glauben Sie mir, darüber zermartere ich mir mein
Hirn, seit ich von der Kommissarin erfahren habe, dass Herr von
Mertesheimer dort oben liegt. Noch dazu, wo ich der Frau des Chefs
doch gestern noch am Telefon sagte, dass ihr Mann das Gebäude
gegen drei Uhr verlassen habe. Wenn ich mir vorstelle, dass der Chef
zu der Zeit vielleicht noch gelebt hat...“ Der alte Mann sackte noch ein
wenig mehr in sich zusammen.
„Wann haben Sie mit Frau von Mertesheimer telefoniert?“ Ich hatte
meinen Dienst gerade wieder angetreten,“ überlegte er. „Es muss so
gegen 14 Uhr gewesen sein.“ „Dann kann ich Sie beruhigen, nach
meinem bisherigen Kenntnisstand ist Herr von Mertesheimer bereits
tot gewesen, als Sie seinen Mörder vom Hof fahren ließen.“ „Aber ich
wusste doch nicht...,“ stammelte der Wachmann. „Es sollte auch kein
Vorwurf sein.“ Ich sah auf die Monitore, die den Eingangsbereich und
den Innenhof zeigten, der als Parkplatz genutzt wurde. „Werden die
Bilder irgendwo aufgezeichnet?“, fragte ich mit einem kurzen
Fingerdeut auf die Mattscheiben. „Ach ja,“ seufzte der Alte, „das habe
ich vollkommen vergessen. Beim Hausmeister steht so ein
Aufzeichnungsgerät, wo jeweils die letzten 24 Stunden festgehalten
werden. Vielleicht ist ja noch etwas darauf zu sehen.“
Er griff hastig zum Telefon und tippte eine kurze Nummer ein.
Wenige Minuten später saß ich bereits im Büro des Hausmeisters und
starrte gebannt auf den dort aufgebauten Monitor. „Warum befindet
sich der Recorder bei Ihnen und nicht in der Pförtnerloge?“, wollte ich
von dem kahlköpfigen Mann wissen, während er das Band auf den
Anfang zurückspulte. „Keine Ahnung, ich werde dafür bezahlt, hier
meinen Job zu machen, nicht dafür, Fragen zu stellen, die mich nichts
angehen.“ „Und ich ärgere mich immer über Leute, die mir durch ihr
unfreundliches Verhalten den Job noch schwerer machen, als er es
ohnehin schon ist.“
Leider waren auf dem Band tatsächlich nur die letzten 24 Stunden zu
sehen. Die unten links auf dem Bildschirm mitlaufende Uhrzeit ließ
keinen Zweifel zu. Ich beschloss, mir die Bänder dennoch
aushändigen zu lassen. Wer weiß, vielleicht gab es darauf doch noch
etwas interessantes zu sehen. Immerhin standen wir noch ganz am
Anfang unserer Ermittlungen. Da ist man über jede, noch so vage
Möglichkeit dankbar, aus der sich eine Spur ergeben könnte. „Ist die
Eingangstür rund um die Uhr verschlossen?“, fragte ich beim
Hinausgehen, meinen Blick auf das Schlüsselbrett gerichtet, welches
sich an der Wand neben der Tür befand. „Normalerweise schon, aber
der alte Wachmann ist schon derart senil, dass er es oft genug
vergisst.“ „Sie scheinen nicht gerade viel von Herrn Grünlich zu
halten,“ wertete ich seine Aussage. „Mein Chef ist gerade getötet
worden, weil der Kerl wahrscheinlich mal wieder gepennt hat, gut
möglich, dass jetzt alles hier den Bach runter geht und Sie fragen mich
allen Ernstes, ob ich viel von Grünlich halte?“ Ich dachte mir meinen
Teil und ließ den Glatzkopf stehen.
Die Villa der von Mertesheimer befand sich in einer der gehobeneren
Wohngegenden von Bremen Vegesack. In der offenen Doppelgarage,
rechts neben dem Haus, stand ein Audi Sport Coupe Cabriolet.
Daneben, noch in der Hofeinfahrt, ein Mercedes der A Klasse. Eine
Rückfrage über die Einsatzzentrale hatte ergeben, dass die Frau des
Toten bislang keine Vermisstenanzeige erstattet hatte. Ich fragte mich,
warum.
Auf mein Läuten öffnete eine junges, äußerst attraktives Mädchen von
höchstens achtzehn Jahren. Ihre Haare waren blond und berührten in
langen, weichen Wellen die Schultern. Das Gesicht war fein
geschnitten, mit großen braunen Rehaugen und mit einer leicht nach
oben geschwungenen kleinen Nase. Ihre schlanke Figur mit den
schmalen Hüften wirkte recht knabenhaft. Sie hatte sich in einen
engen Rock aus dünnem weichen Leder gezwängt, der recht viel von
ihren langen schlanken Beinen frei gab. Mit einem lieblich
klingenden: bitte schön, erkundigte sie sich nach dem Grund meines
Besuches.
Als ich meinen Ausweis sehen ließ, erschrak sie. „Um Himmels
Willen, Sie sind von der Mordkommission?“ Ich wagte kaum zu
nicken. „Ist etwas mit meinem Vater?“ „Wie kommen Sie darauf?“,
fragte ich ziemlich verwundert. „Was ist mit Vater?“ „Es tut mir leid,“
antwortete ich betreten, „aber ich hätte zunächst gern mit Ihrer Mutter
gesprochen.“ „Sie ist nicht meine Mutter,“ antwortete sie gereizt. „Die
Frau meines Vaters befindet sich im Gewächshaus im Garten.“
Sie trat beiseite, und bat mich ins Haus. „Und jetzt sagen Sie mir
endlich was mit meinem Vater ist:“ Noch in der Diele stehend ließ sie
mir keine andere Wahl. „Herr Ferdinand von Mertesheimer ist einem
Verbrechen zum Opfer gefallen.“ Im nächsten Augenblick sackte das
Mädchen in sich zusammen. Ich konnte sie gerade noch auffangen
und auf einem der Biedermeierstühle absetzen, die so etwas wie einen
Wartebereich zierten. Sie kam nur sehr zögerlich wieder zu sich. Ihre
rehbraunen Augen sahen mich flehentlich an. „Bitte sagen Sie mir,
dass das nicht wahr ist.“ „Es tut mir Leid.“
Das Mädchen schluchzte bitterliche Tränen. Rat und Hilfe suchend
blickte ich mich um. Ich konnte sie doch jetzt unmöglich allein lassen.
„Dann hat dieses Miststück nun also doch erreicht, was sie wollte!“
Ich war überrascht und verwundert zu gleich. „Wie meinen Sie das?“,
nutzte ich ihre offensichtliche Unbedachtheit, um Dinge von ihr zu
erfahren, die sie unter normalen Umständen vielleicht nicht ausgesagt
hätte. Sicher nicht die feine englische Art, aber ein durchaus probates
Mittel um an Infos zu kommen. Sie jappte nach Luft, stand
wahrscheinlich unter einem Schock und doch ließ sie es sich nicht
nehmen, genau die Dinge loszuwerden, die ihr in diesem Augenblick
auf der Seele brannten.
„Diese Schlampe ist doch Schuld an allem! Zuerst macht sie meinen
Vater hörig, drängt sich in die Ehe meiner Eltern, sorgt dafür, dass
meine Mutter davon erfährt und in ihrer Verzweiflung gegen einen
Baum rast und dann bringt sie meinen Vater auch noch dazu sie zu
heiraten:“ „Das war harter Tobak, aber ich verstehe nicht, weshalb Sie
meinen, Ihre Stiefmutter hätte mit dem Tod ihres Ehemannes erreicht,
was sie wollte.“ Das Mädchen sah mich hysterisch lachend an. So viel
ich weiß, hat er ihr vergangene Woche das Haus und wer weiß was
nicht noch alles überschrieben. Alles nur, weil es im Center zur Zeit
nicht so gut läuft.“
„Darf ich fragen, wer Sie sind?“, unterbrach uns die energische
Stimme einer Frau Mitte Dreißig. Noch ehe ich mich ausweisen
konnte, schoss das Mädchen in die Höhe und machte einen Satz nach
vorn. Erst unmittelbar vor ihrer Stiefmutter hielt sie inne. „Du kannst
dich beglückwünschen! Vater ist tot, du hast ausgesorgt!“ Die Ehefrau
des Ermordeten stand da, als habe sie ein Gespenst gesehen. Ich
beobachtete sie genau. „Bist du jetzt völlig verrückt geworden?“,
herrschte sie ihrer Stieftochter entgegen, während sie das Mädchen bei
den Schultern ergriff und schüttelte. Noch ließ ich die Sache laufen,
aber schon im nächsten Moment musste ich eingreifen.
Die Achtzehnjährige begann, wie von Sinnen auf ihre Stiefmutter
einzuschlagen. Ich hatte Mühe, die beiden Furien voneinander zu
lösen. Sie zogen sich gegenseitig in die Haare, kratzten und bissen
sich. Es wäre sicher leichter gewesen, ein Rudel Wölfe von einem
Schaf loszueisen. Wie so oft, wenn man hilfreich eingreifen will,
geriet ich zwischen die Fronten, wobei ich mir eine Schelle einfing,
die nicht eben von schlechten Eltern war. „Jetzt reicht es aber!“, fuhr
ich energisch dazwischen. „Wenn Sie sich jetzt nicht zurückhalten,
nehme ich Sie beide mit ins Präsidium!“ Das zog. Die Damen stellten
umgehend ihre Aktivitäten ein.
„Wer sind Sie denn eigentlich?“, fragte die Witwe. „Mein Name ist
Mike Winter, Mordkommission 2. Wie Ihnen ihre Stieftochter ja
bereits mitteilte, ist ihr Gatte das Opfer eines Verbrechens geworden.“
Die Frau sah mich mit großen Augen an. Sie schien erst in diesem
Augenblick zu realisieren. „Dann hat Sina nicht nur einen ihrer
dummen Späße gemacht?“ Ich schüttelte wortlos den Kopf. „Ich darf
ihnen Beiden mein aufrichtiges Beileid aussprechen.“ Während das
Mädchen weinend aus der Diele rannte, ließ sich die Witwe auf einem
der Stühle nieder. Ich war beeindruckt, mit welchem Willen sie ihre
Fassung zu wahren versuchte.
„Wie ist er ums Leben gekommen?“ „Ihr Gatte ist in der Nacht zum
Sonntag in seinem Büro erschossen worden.“ Die sehr animalisch
wirkende Frau starrte mich verwirrt an. „Aber..., aber das kann doch
nicht sein. Gestern Nachmittag habe ich doch noch mit dem Pförtner
gesprochen, weil Ferdinand nicht nach Hause gekommen war.“
„Geschah es öfter, dass Ihr Mann so spät noch arbeitete?", unterbrach
ich sie. „Anfangs nicht, aber in der letzten Zeit lief es im Center nicht
so gut. Die Investoren saßen Ferdi arg im Nacken, da kam es schon
mal vor, dass es spät wurde.“
Es war ihr deutlich anzumerken, wie sehr es hinter ihrer hübschen
Stirn rumorte. „Aber der Pförtner, er sagte doch Ferdi habe gegen 3
Uhr das Center verlassen.“ Ich schüttelte mit dem Kopf. „Die Person,
die der Pförtner für Ihren Mann hielt, war aller Wahrscheinlichkeit
nach der Mörder Ihres Gatten.“ Das Entsetzen stand ihr deutlich ins
Gesicht geschrieben. Entweder war sie eine hervorragende
Schauspielerin, oder aber sie hatte Ferdinand von Mertesheimer
wirklich geliebt. Dann allerdings musste sich die Tochter des Toten in
einem großen Irrtum befinden und das wollte ich zu diesem Zeitpunkt
ebenso wenig glauben. Was ich brauchte, waren erheblich mehr
Antworten, als ich sie bislang erhalten hatte.
„Hat mein Mann sehr gelitten?“, fragte die Witwe mit zittriger
Stimme. „Der Bericht des Rechtsmediziners liegt zwar noch nicht vor,
aber ich gehe eigentlich davon aus, dass er sofort tot war.“ Plötzlich
starrte sie mich aus schreckgeweiteten Augen an. „Sie dürfen ihn nicht
aufschneiden!“ „Es tut mir außerordentlich Leid, Frau von
Mertesheimer, aber in diesem Fall ist eine Obduktion zwingend
vorgeschrieben.“ „Ich möchte meinen Mann noch einmal sehen.“
„Natürlich. An der Identität Ihres Gatten besteht zwar kein Zweifel,
aber die Identifizierung durch einen nahen Verwandten oder
dergleichen, ist ohnehin notwendig.“
Sie schien sich wieder einigermaßen beruhigt zu haben. Schließlich
wurde ihr sogar bewusst, dass wir uns immer noch in der Diele
befanden. „Entschuldigen Sie bitte, Sie müssen mich ja für unmöglich
halten, dass ich Sie nicht hereinbitte.“ „Aber nein,“ beruhigte ich sie.
„Im Gegenteil, ich bewundere es, wie Sie sich diesem
Schicksalsschlag stellen.“ „Bitte folgen Sie mir, Herr Winter.“
Während ich mich auf ihr Geheiß in einer ultramodernen
Rundsitzgruppe niederließ, schenkte sie uns einen Drink ein. Ich hatte
mich für ein Mineralwasser entschieden.
„Fühlen Sie sich in der Lage, mir noch einige Fragen zu
beantworten?“ Die Frau mit dem kastanienbraunen Haar setzte sich
mir gegenüber und schlug ihre gertenschlan-ken Beine übereinander.
Von Mertesheimer musste um die zwanzig Jahre älter als sie gewesen
sein. „Wenn es hilft, den Schuldigen hinter Schloss und Riegel zu
bringen?“ „Ich wurde vorhin Zeuge einer recht heftigen
Auseinandersetzung zwischen Ihrer Stieftochter und Ihnen. Vielleicht
sind Sie so nett und erklären mir, was sie damit meinte, als sie Ihnen
vorwarf: Sie hätten Ihr Ziel erreicht.“ Die Witwe verdrehte die Augen.
„Sie dürfen dem, was Sina von sich gibt, nicht all zu viel Bedeutung
beimessen, sie ist ein kleines Biest, was nur auf ihren eigenen Vorteil
aus ist. Ferdinand und ich waren annähernd zwei Jahre miteinander
verheiratet. In dieser Zeit hat sie uns das Leben mitunter zur Hölle
gemacht. Ihrer Ansicht nach trugen Ferdi und ich am Tode ihrer
Mutter die Schuld.“ „Und, trugen Sie?“, fragte ich provozierend nach.
„Wo denken Sie hin! Ferdis Ehe existierte doch nur noch auf dem
Papier. Erst als er mich traf, bekam das Leben für ihn wieder einen
Sinn. Dies kleine Biest hat immer wieder versucht, einen Keil
zwischen uns zu treiben. Aber dazu war unsere Liebe zu tief.“
Gloria von Mertesheimer war jetzt geradezu bemerkens-wert gefasst.
Sie nippte immer wieder an ihrem Martini, während ich mir Notizen
machte. „Hm, eine Sache liegt mir nun doch noch am Herzen. Darf
ich fragen, in wie weit Sie nach dem Tode Ihres Gatten finanziell
abgesichert sind?“ Sie leerte ihr Glas und stellte es auf den kleinen
Marmortisch, der sich neben der Sitzecke befand. „Wir hatten
Gütertrennung, ich bestand darauf, als wir heirateten. Es sollte nicht
heißen, dass ich Ferdi nur seines Geldes wegen genommen hätte. Aber
das wollten Sie ja gar nicht wissen,“ lächelte sie theatralisch. „So viel
ich weiß, gibt es eine Lebensversicherung zu meinen Gunsten. Um
wie viel es sich dabei handelt, kann ich Ihnen leider nicht sagen.“ Ich
steckte Block und Kuli ein und erhob mich. „Also gut, dann soll es
mir zunächst reichen. Wo kann ich Sie wegen der Identifizierung
erreichen, oder falls weitere Fragen auftauchen?“ Die attraktive Witwe
erhob sich ebenfalls. „Ich denke, ich werde das Haus in den nächsten
Tagen nicht verlassen.“ „Gut, ich werde mich bei Ihnen melden.“
Während der Fahrt ins Präsidium wollte mir das Bild der sich
prügelnden Frauen nicht aus dem Sinn gehen. Immer wieder suchte
ich nach dem Grund für meinen Argwohn. Irgend etwas schmeckte
mir an dieser Szene nicht, aber so sehr ich auch darüber grübelte, die
Erleuchtung blieb aus.
-4Braunschweig, Münzhandelshaus Koch,
Montag Morgen, 3:15 Uhr
Der Löwe warf den Lastensack mit der schweren Ausrüstung wütend
auf den Küchentisch. Alles hatte so gut begonnen, war wie am
Schnürchen gelaufen, bis er unfreiwilliger Zeuge eines Mordes wurde.
Tatenlos hatte er mit ansehen müssen, wie keine fünf Meter von ihm
entfernt ein Mensch getötet wurde. Und das schlimmste an dieser
Sache war, dass man ihm dieses Verbrechen anlasten würde. Das war
so sicher, wie das Amen in der Kirche. Das Zeichen, welches er stets
in der Euphorie gelungener Beutezüge am Tatort zurückgelassen hatte,
um sich von den gemeinen Dieben abzuheben, würde ihm nun zum
Verhängnis werden. Wie sollte er die Bullen davon überzeugen, dass
er mit dem Mord nichts zu tun hatte?
Zwar ahnte niemand, dass er jener Meisterdieb war, aber auch wenn es
nur ein Pseudonym war, welches er sich selbst gegeben hatte, eine
derart niederträchtige Tat würde alles in den Dreck ziehen. An diesem
Morgen fand der Löwe nicht in den verdienten Schlaf. Jedes Mal,
wenn er seine Augen schloss, hatte er das Bild des sterbenden Mannes
im Pyjama vor Augen. Immer und immer wieder fragte er sich, ob er
den Tod des Mannes nicht doch hätte verhindern können. Nicht etwa
deshalb, weil er seinen Sinn für Gerechtigkeit plötzlich wieder
entdeckt hatte, nein, darum ging es ihm nun wirklich nicht. Sein Ruf
als Meisterdieb durfte nicht besudelt werden.
Immer wieder rief er die Bilder des Mordes vor seinem geistigen
Auge ab, doch so sehr er sich auch auf jede einzelne Szene
konzentrierte, das Gesicht des Mörders konnte er nicht erkennen. Er
sah sich im Geiste hinter dem Lüftungsgitter liegen. Sah sich, wie er
den Killer durch die schmalen Schlitze beobachtete, wie er
zurückwich, als ihm die kleine Lampe aus den Fingern glitt und der
Mann mit der Waffe misstrauisch auf ihn zukam, doch nicht ein
einziges Mal sah er in das Gesicht des Mörders. Bestenfalls konnte er
ihn von der Seite beschreiben, aber würde eine solch vage
Beschreibung ausreichen, um die Bullen von seiner Unschuld zu
überzeugen? Sicher nicht, gab er sich selbst die Antwort. Es gab nur
einen Ausweg aus dem Schlamassel – er musste den Mörder auf
eigene Faust suchen und ihn den Bullen auf einem Silbertablett
servieren. Damit würde er nicht nur den Ruf des Löwen retten,
sondern eine Art Robin Hood der Neuzeit werden.
Nur welchen Grund hatte der Killer, Sebastian von Mertesheimer zu
töten? Alles was der Löwe aus seinem Gedächtnis abrufen konnte,
waren Worte der Rache, mit denen der Mörder sein Opfer in Panik
versetzte. Der Löwe stutzte. Hatte der Killer nicht auch von dem
Bruder seines Opfers gesprochen? Hatte er nicht davon gesprochen,
dass den Mitinhaber des Münzhandelshau-ses das gleiche Schicksal
ereilen würde, wie es seinem Bruder in der Nacht zuvor bereits
widerfahren war? Der Löwe kombinierte weiter. Nur so kann es sein,
die Brüder von Mertesheimer mussten ihrem Mörder etwas
schreckliches angetan haben. Des Rätsels Lösung musste also in der
Vergangenheit der Brüder begründet sein, da war sich der Löwe
sicher. Nur so konnte es sein. Es würde nicht leicht werden unerkannt
zu recherchieren, aber wenn er etwas bewirken wollte, musste er auch
etwas riskieren.
-5Bremen, Polizeipräsidium, Montag Vormittag.
„Brrrrr, dieser elende Automatenkaffee bringt mich eines Tages noch
mal ins Grab,“ schimpfte ich. „Edda schüttelte verständnislos mit dem
Kopf. „Du weißt doch wie er schmeckt, was holst du dir das braune
Gebräu immer wieder.“ „Die Hoffnung stirbt bekanntlich zu letzt,“
bekundete ich voller Überzeugung. „So ein leckerer Kaffee, wie ihn
Helga zubereitet, wäre jetzt genau das richtige,“ schwärmte ich
fasziniert.
Helga war die Sekretärin unseres Chefs, des Kriminalrats Gerd
Kretzer, oder der Bluthund, wie wir ihn früher nannten, als er noch als
Leiter der MK 2 in vorderster Front neben mir stand und wir
gemeinsam, Seite an Seite das Verbrechen bekämpften. Sie war im
ganzen Präsidium berühmt für ihren erlesenen Kaffee. Immer dann,
wenn die Dinge nicht so gut liefen und wir zu einer Besprechung beim
Chef zitiert waren, war er so etwas wie ein Licht am
wolkenverhangenen Himmel.
Die ersten 24 Stunden nach einem Mord sind für die Aufklärung des
Falles oft von entscheidender Wichtig-keit. Nicht selten werden
solche Verbrechen in dieser Zeitspanne aufgeklärt. In unserem Fall
fehlten diese ersten 24 Stunden leider völlig. Daher musste das
Ermittlungsschema, nach dem wir uns vortasteten, ein völlig anderes
als gewöhnlich sein. Zunächst wurde das Umfeld des Opfers sondiert.
Jeder, der unmittelbar mit dem Toten zu tun hatte, wurde genaustens
abgeklopft. All diejenigen, die nur mittelbar mit ihm zu tun hatten,
wurden rastermäßig und nach Gefühl überprüft.
„Hat sich im Space Center etwas ergeben?“, fragte ich meine
Dienstpartnerin Edda Blache. „Sehr beliebt war Ferdinand von
Mertesheimer nicht gerade,“ resümierte sie. „Zu erst gab es nur den
üblichen Kollegentratsch, aber dann wurde doch immer deutlicher,
dass sich der Big Boss durch seine Heirat mit Gloria Hackspiel vor
allem unter der weiblichen Belegschaft nicht gerade viele Freundinnen
gemacht hatte.“ „Lass mich raten,“ unter-brach ich ihre Ausführungen.
„Gloria Hackspiel tanzte vor ihrer Hochzeit auf der gleichen Bühne,
wie deine Informantinnen.“ Edda hob bewundernd die Brauen.
„Volltreffer! Seine jetzige Frau war seine damalige Sekretärin. Man
munkelt sie habe ihn nur wegen des Geldes geheiratet. Die werte
Dame soll so kalt sein, wie eine Hundeschnauze.“
Das Klappen der Tür zum Büro meiner beiden Kollegen unterbrach
unser Gespräch. Es war Aron, der einige Zettel und einen
Kaffeebecher in der Hand hielt. Er kam durch die offen stehende
Verbindungstür zu uns herüber. „Ich war noch schnell bei den
Kollegen der Spurensicherung. Die ersten Ergebnisse habe ich bereits
mitgebracht,“ erklärte er und mit den Zetteln winkend. „Und?“, fragte
ich erwartungsvoll, „irgend etwas verwertbares dabei?“ „Wenn du
meinst ob der Mörder seinen Pass vergessen hat, muss ich dich
enttäuschen, aber es wurden jede Menge Fingerabdrücke
sichergestellt. Die meisten auf den Müllsäcken und dem Mobilart. Es
wird eine Wahnsinns Arbeit werden, die alle zuzuordnen.“ „Wenn wir
überhaupt jemals die passenden Finger dazu finden,“ warf Edda
nachdenklich ihr langes, zu einem Zopf gebundenes Haar nach hinten.
„War das alles was die Jungs von der Kriminaltechnik gefunden
haben?“, fragte unsere Kollegin enttäuscht. Ich zündete mir eine
Zigarette an und verzog ebenfalls das Gesicht. „Kann es sein, dass du
dieses unselige Laster irgendwann einmal aufgibst?“, feixte sie ohne
es wirklich witzig zu meinen. Edda war leidenschaftliche
Nichtraucherin und Verfechterin eines rauchfreien Arbeitsplatzes.
Obwohl wir uns in meinem Büro befanden, schaffte sie es immer
wieder, dass ich mich wie ein Egoist fühlte, wenn ich in ihrer
Gegenwart rauchte. „Entschuldige, ich war ganz im Gedanken.“ „So
viel kann man doch gar nicht denken,“ konterte sie respektlos. Das
war mal wieder eine dieser Situationen, in denen ich mir wünschte,
einer von denen zu sein, die mehr Autorität auf ihre Mitstreiter
ausüben. Andererseits war ich weder der Typ zu einem Disputen noch
der Freund einer sogenannten Hackordnung. Mir ist es wichtiger,
wenn ich mich auf meine Dienstpartner verlassen kann.
„Hallo,“ unterbrach Aron unser Zwiegespräch. „Seit ihr gar nicht
neugierig was Stocki sonst noch für uns hat?“ „Ich bin ganz Ohr,“
wandte ich mich meinem Partner und langjährigen Freund zu.
„Volltreffer!“, frohlockte er. „Du hast den Nagel auf den Kopf
getroffen.“ Ich starrte er ihn, dann Edda verwirrt an. Aber die hatte
unseren Kollegen eben so wenig verstanden. „An der Tür zu
Mertesheimers Büro gibt es einen Abdruck.“ „Na und?“, haderte Edda
enttäuscht. „Es handelt sich um einen Ohrabdruck.“ Ich war sprachlos,
was nicht gerade häufig vorkommt.
Die Ohrabdrucktechnik ist eine deutsche Erfindung, die erst seit
einigen Jahren Furore macht. Der Abdruck eines Ohres ist ebenso
unverwechselbar, wie der gute alte Fingerabdruck. Selbst im fernen
Amerika sind mit Hilfe dieser neuartigen Technik bereits Erfolge
erzielt worden. Warum sollte diese Technik also nicht auch uns dabei
helfen, den möglichen Täter zu überführen? Leider ist es im
Bundesland Bremen bei der erkennungsdienstlichen Behandlung
überführter Straftäter noch nicht Usus, neben den Fingerprints auch
gleich deren Ohrabdrucke zu nehmen. Was wiederum dazu führt, dass
es erst eine relativ kleine Datenbank gibt. Eine Überprüfung des
gefundenen Abdrucks würde somit zwar sehr schnell vonstatten
gehen, ein positives Ergebnis wäre allerdings auch einem Sechser im
Lotto gleichzusetzen.
„Ingo Klee hat den Abdruck schon durch den blechernen Kollegen
gejagt, aber leider ohne Erfolg,“ erklärte Aron. „Hm, das war
eigentlich vorauszusehen.“ Aron zuckte mit den Schultern. „Hätte ja
trotzdem sein können.“ „Auf jeden Fall wird uns dieser Abdruck von
Nutzen sein, wenn es darum geht, den Täter oder die Täterin zu
überführen,“ resümierte Edda betont sachlich. „Nur haben müssten
wir ihn halt erst einmal,“ seufzte Aron. Meine Stirn krauste sich.
„Womit wir also wieder beim Thema wären.“ Ich leerte nachdenklich
die lauwarme Neige in meinem Plastikbecher und wartete auf
Wortmeldungen.
„Nach Auskunft der Telekom wurde der letzte Anruf aus dem Büro
Ferdinand von Mertesheimers um exakt 2:36 Uhr in der Nacht von
Samstag auf Sonntag getätigt. Es handelte sich dabei um den
Anschluss seines Bruders, den ich durch Aktivieren der
Wahlwiederholung erreichte,“ fasste Aron zusammen. „Seines toten
Bruders, wie wir inzwischen wissen,“ ergänzte Edda. „Gut möglich,
dass es sich bei diesem Anruf um einen Hilferuf handelte,“ mutmaßte
mein Partner. „Wenn es so war,“ überlegte ich, „verstehe ich
allerdings nicht, weshalb er seinen Bruder im über zweihundert
Kilometer entfernten Braunschweig anruft und nicht den
Polizeinotruf?“ „Demnach glaubst du nicht an einen Hilferuf?“, wog
Aron abschätzend den Kopf. Edda zog die Mundwinkel nach unten.
„Denkbar ist grundsätzlich alles.“ „Richtig,“ pflichtete ich der
Kriminalhauptwachtmeisterin bei. Aron machte ein nachdenkliches
Gesicht. „Demnach wäre es auch denkbar, dass er, den sicheren Tod
vor Augen, seinen Bruder warnen wollte.“ „Das setzt natürlich voraus,
dass es sich um denselben Täter handelt,“ bekräftigte Edda. „Nicht
unbedingt um denselben Täter,“ widersprach ich. „Aber zumindest ist
mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass beide
Verbrechen in irgendeiner Form miteinander zu tun haben.“
„Du warst doch bei den Angehörigen des Getöteten, wie war dein
Eindruck von der Witwe?“, wollte Edda von mir wissen. Ich winkte
ab. Gloria von Mertesheimer repräsentiert nicht gerade die Dame von
Welt, wenn ihr mich fragt. Womit ich nicht gesagt haben will, dass sie
nicht durchaus reizvolle Züge hätte, aber nachdem, was ich von ihrer
Stieftochter Sina gehört habe, soll sie doch sehr berechnend sein.“
„Sag ich doch!“ bekundete Edda. „Das deckt sich mit dem, was man
mir im Space Center von der Dame erzählte.“ „Auf jeden Fall hat die
gute Frau nach dem Tode ihres geliebten Gatten ausgesorgt. Sina von
Mertesheimer erzählte mir, dass ihr Vater erst vor wenigen Tagen
Haus und Hof auf ihre Stiefmutter überschrieben hat.“ „Na, das passt
sich ja,“ spottete unsere Kollegin mit schiefem Grinsen.
Genau in dem Moment, in dem ich unser weiteres Vorgehen
miteinander koordinieren wollte, läutete das Telefon. Es meldete sich
der Kollege Wolters aus Braunschweig. Er hatte einige neue
Erkenntnisse für uns, die meine Theorie kräftig ins Wanken brachten.
Demnach ginge der Mord an dem Münzhändler wohl eher auf das
Konto eines berüchtigten Einbrechers, der im Volksmund nur der
‚Löwe‘ genannt wurde. Die Kollegen waren erst bei der Besichtigung
der Verkaufsräume auf Einbruchsspuren gestoßen. Dort hatte besagter
‚Löwe‘ seine Visitenkarte hinterlassen. Auch wenn sich die
Ausführungen des Oberkommissars recht plausibel anhörten und ich
mich der Theorie des Kollegen nicht gänzlich verschließen konnte, so
war ich, nachdem unser Gespräch beendet war, doch noch nicht
restlos überzeugt.
Meinen Partnern ging es da nicht anders. Sie hatten das Gespräch mit
dem Kollegen der Braunschweiger Mordkommission über den
zugeschalteten Lautsprecher unseres Telefons mitgehört. „Und nun?“,
fragte Aron denn auch ziemlich bedröppelt. „Hm, nichts genaues weiß
man nicht,“ zuckte ich mit den Schultern. „Also wenn ihr mich fragt,
kommt mir die Sache mit der Witwe doch recht merkwürdig vor,“
verkniff Edda ihr Gesicht. „Geht mir auch so,“ pflichtete Aron ihr bei.
„Also gut, dann wirst du, Aron, den Unfall der verstorbenen Ehefrau
des Ferdinand von Mertesheimer noch einmal genau unter die Lupe
nehmen und du, Edda, wirst dir die jetzigen Vermögensverhältnisse
der Witwe ein wenig genauer ansehen. Ich werde mich inzwischen
noch mal mit der Tochter unterhalten.“
-6-
Irgendwo in Niedersachsen, Montag Vormittag.
Mehr als ein heruntergekommener Resthof war es nicht mehr, jenes
Anwesen, zu dem vor noch nicht allzu langer Zeit ein kleiner Wald,
ein idyllisch gelegener See und ein gutes Stück des besten
Ackerlandes der gesamten Gegend gehörte. Ein alter Familienbesitz,
der bereits seit geraumer Zeit vom Vater auf den Sohn übergeben
wurde. Dem Mann in dem weißen Mercedes verkrampfte sich jedes
Mal, wenn er an diesen Ort zurückkehrte, das Herz in der Brust. Dies
sollte auch einmal sein Erbe werden und er sollte es an seinen Sohn
weitergeben, doch alles was ihm geblieben war, war die Erinnerung an
seinen Vater und an die Armut, in der er aufwuchs.
Erst auf dem Sterbebett hatte sein Vater ihm von dem Unrecht erzählt,
welches ihm die Brüder Mertesheimer angetan hatten und er begriff,
dass der sterbende Mann in dem Bett vor ihm nicht nur körperlich,
sondern vor allem seelisch schwer gelitten hatte. Das einzige, was er
jetzt noch für seinen sterbenden Vater tun konnte, war in seinem
Namen Rache zu üben. Der Mann nahm die Beretta aus dem
Handschuhfach und schob sie in die Sporttasche, die neben ihm auf
dem Beifahrersitz stand. Dann stieg er aus und öffnete das
Scheunentor um den Wagen hineinzufahren. Niemand würde den
Wagen darin vermuten. Niemand würde den Wagen mit Ferdinand
von Mertesheimer in Verbindung bringen. Die Kennzeichen hatte er
schon Wochen vorher von einem anderen Mercedes abmontiert und so
gut verfälscht, dass es der Polizei nicht einmal dann auffallen würde,
wenn sie direkt davor stünden.
„Schön, dass du mich besuchen kommst,“ begrüßte ihn die von harter
Arbeit gezeichnete Frau. Der Mann setzte wortlos die Sporttasche ab,
schob sie mit dem Fuß unter die Kücheneckbank und setzte sich.
Große Gefühle waren weder seine noch die Sache seiner Mutter. Zu
sehr hatte sie das schwere Leben auf dem Lande geprägt. Die Frau in
der Kittelschürze klapperte mit den Töpfen. „Kommst genau richtig,
es wird für uns beide reichen. Ohne eine Miene zu verziehen, schob
sie ihrem Sohn den Teller über die abgewetzte Holzplatte des
Küchentisches. Gemeinsam aßen sie, was der Garten hergegeben
hatte. „Damit ist jetzt Schluss, Mutter,“ sagte der Mann auf der
Eckbank. „Der Hof wird verkauft und du kommst mit mir in die Stadt.
Du sollst ein besseres Leben haben.“ „Kein normaler Mensch wird
diesen Hof kaufen,“ entgegnete die Frau in der Kittelschürze. Ein
hartes, von Verzweif-lung gezeichnetes Lächeln huschte über ihr
faltiges Gesicht. „Ich weiß, du meinst es gut, Junge, aber hier liegt
dein Vater begraben, hier will auch ich sterben.“
„Aber Mutter,“ ließ ihr Sohn nicht locker. „So nimm doch Vernunft
an. Hast du all die Jahre nicht genug gelitten? Ich werde für dich
sorgen und wenn du irgendwann einmal sterben solltest, dann werde
ich dich neben Vater begraben.“ Er hob Zeige und Mittelfinger, als
wenn er einen feierlichen Eid ablegen wollte. „Das verspreche ich dir,
bei der Ehre meines Vaters.“ Seine Mutter strich ihm sanft lächelnd
über das Haar. „Wenn du wirklich etwas Gutes tun willst, dann bleib
hier und hilf mir den Hof zu halten.“ Der Mann erhob sich, durchmaß
einige Male die Küche und blieb schließlich hinter dem Stuhl seiner
Mutter stehen, um ihr seine Hände auf die Schultern zu legen.
„Du weißt, dass ich nicht hier bleiben kann.“ Seine Mutter wandte den
Kopf und sah zu ihm auf, um in das Gesicht ihres Sohnes sehen zu
können. „Ich weiß, aber um so mehr musst du auch mich verstehen.
Es war der sehnlichste Wunsch meines Vaters, dass der Hof in der
Familie bleibt. So lange ich es kann, werde ich diesen Wunsch
respektieren.“ „Ich wusste, dass du nicht anders reagieren würdest,
aber dann erlaube mir, dass ich dir wenigstens von Zeit zu Zeit etwas
Geld zukommen lasse.“ „Ich freue mich über jeden deiner Besuche,
ob du mir nun etwas mitbringst oder nicht, wichtig ist, dass ich dich
gelegentlich sehe.“ Noch immer ruhten seine Hände auf ihren
Schultern, nur dass er ihr inzwischen den Nacken massierte. Sie
genoss den sanften Druck seiner kräftigen Hände, fühlten sie sich
doch genau so an, wie die, die sie vor vielen Jahren zärtlich auf ihrer
damals noch jungen Haut verspürte. Es gab so vieles, was der Junge
von seinem Vater hatte und doch gab es da etwas in ihm, das ihr
Angst machte. Sie konnte nicht erklären, was es war, doch das Gefühl
war da und jedes Mal, wenn sie in seinen Augen danach forschte, stieß
sie auf eine dunkle Mauer des Schweigens, die alles verbarg.
„Ich habe dich mit einem neuen Auto auf den Hof fahren sehen, seit
wann hast du es?“ „Ein paar Tage,“ gab er vor und öffnete den
Kühlschrank. „Kein Bier da?“ „Die Beerdigung deines Vaters hat
meine gesamten Ersparnisse verschlungen.“ „Schreib auf, was du
brauchst, ich fahre ins Dorf.“ Der Mann mit dem schmalen
Oberlippenbart zog die blaue Sporttasche unter der Eckbank hervor
und setzte sie auf dem Tisch ab. Bedächtig zog er den Reisverschluss
auf, akribisch darauf bedacht, die Waffe, die er darin verstaut hatte,
vor seiner Mutter versteckt zu halten. Schließlich zog er einen
Umschlag aus der Tasche, griff hinein und entnahm einige Scheine,
die er wortlos seiner Mutter reichte. Dann stellte er die Tasche zurück
unter die Bank und verließ das Haus.
„Meine Güte, dich habe ich hier ja schon ewig nicht mehr gesehen,“
begrüßte ihn der Glatzkopf mit dem weißen Kittel. „Wie geht es
deiner Mutter?“ „Geht so,“ brummte der Mann mit dem Einkaufskorb.
„Ich will schnell noch ein paar Dinge einkaufen, bevor Sie schließen.“
Der Glatzkopf grinste verächtlich und rieb Daumen und Zeigefinger
seiner rechten Hand gegeneinander. „Ohne Moos nichts los.“ „Kann
es sein, dass meine Mutter bei Ihnen in der Kreide steht?.“
„Allerdings,“ entgegnete ihm der Kolonialwarenhändler schnippisch.
„Gut, dann machen Sie die Rechnung fertig!“ Der Glatzkopf stutzte.
„Alles?“ Der Mann ihm Sportjackett, den der Einzelhändler von
Kindesbeinen kannte, zog den Umschlag aus der Innentasche und
entnahm drei Hunderter, die er seinem verblüfft dreinschauenden
Gegenüber genüsslich unter die Nase hielt. „Reicht das? „Gewiss,
gewiss,“ dienerte der Mann im weißen Kittel, um schon im nächsten
Augenblick mit dem Geld in der Hand hinter der Kasse zu
verschwinden. „Den Rest schreiben Sie bitte als Guthaben auf.“
„Natürlich, ganz wie du möchtest.“
Es dauerte eine Weile, bis der Mann im Sportjackett alles zusammen
hatte, was ihm seine Mutter aufgeschrieben hatte. Schließlich legte er
alles aufs Band und sah dem Glatzkopf zu, wie dieser die Preise in die
Tasten der alten Registrierkasse tippte. „Was macht eigentlich
Andrea?“, fragte er den Mann an der Kasse unvermittelt. Der
Glatzkopf stellte augenblicklich seine Arbeit ein und starrte seinen
Kunden entsetzt an. „Es geht ihr wieder gut und ich möchte, dass es so
bleibt. Als du damals bei Nacht und Nebel das Dorf verlassen hast, hat
sie sehr darunter gelitten. Es hat Monate gedauert, bis sie wieder
ausgegangen ist. Ich bin froh, dass sie dich vergessen hat. Bitte belass
es dabei!“ „Wenn dies auch der Wunsch deiner Tochter ist, ist es
okay, aber dann soll sie es mir selber sagen.“ Der Glatz-kopf nahm all
seinen Mut zusammen. Seine Fäuste ballten sich und er sah dem
Mann, der seiner Tochter übel mitgespielt hatte, fest in die Augen. „In
dem Augenblick, in dem ich dich durch die Tür meines Ladens
hereinkommen sah, wusste ich, dass es wieder Ärger mit dir geben
würde. Ich warne dich, lass meine Tochter in Ruhe!“
Der Killer lachte hämisch und gefährlich zugleich. Er erwiderte den
Blick des Kolonialwarenhändlers, doch der Hass in seinen Augen war
ungleich größer, als der Wille des Mannes an der Kasse. Irgendwann
wandte sich der Glatzkopf ab. In diesem Moment wurde ihm bewusst,
dass er den Kampf um seine Tochter zum zweiten Mal verloren hatte.
„Sie brauchen keine Angst haben, dass ich Andrea ein zweites mal
hier sitzen lasse.“ Der Mann im weißen Kittel wusste nicht so recht
wie er die Aussage deuten sollte, aber als sein Gegenüber begann die
bereits eingetippte Waren in einer Tüte zu verstauen, widmete auch er
sich wieder dem Laufband zu.
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