Das Aktivität-Konstruktivismus-Dogma Im traditionellen Unterricht nehmen Schüler eine passive und rezeptive Rolle ein. Lernen ist jedoch ein aktiver Konstruktionsprozess von Wissen, deswegen sollte traditioneller Unterricht durch Lehr-Lern-Formen ersetzt werden, welche die Aktivität der Schüler fördern. Kritik 1. Sinnvolle und problematische Konstruktivismus-Interpretationen - Wurzeln des Konstruktivismuswelle der letzten 20 Jahre: aus Philosophie und Erkenntnistheorie stammende Analysen (z.B. Glaserfeld, 1985) und Piagets Theorie - Zentrale Botschaften des Konstruktivismus o Bedeutung von Sinnesinformationen ist nicht an sich gegeben, sondern wird in Abhängigkeit von der wahrnehmenden Person konstruiert (Bedeutungskonstruktion) o Wissensaufbau (basiert auf konstruierten Bedeutungen) ist ein aktiver Konstruktionsprozess (aktive Wissenskonstruktion) o Das konstruierte Wissen entspricht nicht zwangsläufig der objektiven Realität (Subjektivität von Wissen) bedeutet jedoch nicht, dass angenommen wird, dass es keine objektive Realität gibt! - Typische Argumentationslinie: Laut Konstruktivismus ist Lernen ein aktiver Konstruktionsprozess. Da in traditionellen Lehr-Lern-Formen die Schüler eher passiv sind und eine rezeptive Rolle einnehmen, sind diese Lehr-Lern-Formen nichtkonstruktivistisch! o Logischer Widerspruch: Wenn Lernen immer ein aktiver Konstruktionsprozess von Bedeutung und Wissen ist, kann Lernen nicht nicht-konstruktivistisch sein! - Weitere Annahme: Der Lernende muss aktiv sein (Dinge manipulieren, sich an einem Diskurs beteiligen) o Aber: es zählt die mentale Aktivität, nicht die sichtbare Aktivität (active processing Theorie vs. Active-responding-Theorie) o Sichtbare Aktivität kann, muss aber nicht mit mentaler Aktivität einhergehen und sie kann letztere sogar verhindern Lernende formulieren bei freiem explorativem Lernen oft keine Hypothesen Um mentale Aktivität anzuleiten bedarf es meistens der Strukturierung (gelenktes Entdecken statt freier Exploration) Laut Renkl (1996) lernten Schüler, die eine grade erst erlernten Stoff in einer aktiven Rolle als Lehrer an einen anderen Schüler weitervermitteln sollten, weniger als die passiv zuhörenden Schüler Befunde zum Lernen aus Lösungsbeispielen zeigen, dass das Durchlesen von mehreren Beispielen (scheinbar passiv) zu besseren Lernergebnissen führt als der Versuch nach dem ersten Beispiel schon eine Aufgabe zu lösen (scheinbar aktive Problemlösung) mentale Aktivitäten beim Beispielstudium wie z.B. Selbsterklärungen sind entscheidend. 2. Lernen als Wissenskonstruktionsprozess aus kognitiver Perspektive a) Lernen und Gedächtnis - Grundlage: Gedächtnismodell von Atkinson und Shiffrin mit drei Speichern - Für dieses Dogma wichtig: Interpretation (keine reine Wahrnehmung) der Daten, die aus dem sensorischen Register ins Arbeitsgedächtnis aufgenommen werden diese Interpretation vorwissensabhängig(Bsp. Ein Arzt sieht auf einer Röntgenaufnahme etwas anderes als ein Patient) - Durch vorwissensbasierte Interpretation im Arbeitsspeicher wird o Bedeutungshaltigkeit der Informationen hergestellt o Information zu chunks organisiert (vgl. Schachforschung) - Abspeicherung von Wissen im Langzeitgedächtnis o Damit Wissen dort wiedergefunden werden kann, sollte es mehrere Zugangswege (assoziative Verknüpfungen) geben Lernen= Informationen mit bereits vorhandenen Wissenselementen zu vernetzen (Elaboration) konstruktiver Prozess, da Verbindung zwischen neuem und altem Wissen konstruiert werden muss - nicht alles Lernen muss im Schulunterricht als konstruktiver Prozess vermittelt werden: einige Lernprozesse können über Konditionierung oder Wiederholung laufen (affektive Reaktionen auf Stoffinhalte, die Schwierigkeiten auslösen z.B. Rechenprozeduren) - aber: Lernen= Erwerb bedeutungshaltigen Wissens, der eine aktive Informationsverarbeitung im Arbeitsgedächtnis erfordert b) Lernförderliche Funktionen der Informationsverarbeitung im Arbeitsgedächtnis Lernprozess findet im Arbeitsspeicher statt, im Langzeitgedächtnis ist nur das Ergebnis abgelegt Taxonomie lernbezogener Funktionen der Informationsverarbeitung im Arbeitsgedächtnis (Erweiterung des SOI-Modells von Mayer) - Selektion: Festlegung welche Reize als wichtig erachtet werden und ins Arbeitsgedächtnis weitergeleitet werden um dort weiter und tiefer verarbeitet zu werden - Organisation: Bewusstmachen von Zusammenhängen zwischen einzelnen Informationen - Elaboration: neue Infos mit vorhandenem (fachlichem oder Erfahrungs-)Wissen in Verbindung setzen - Stärkungen: Stärkung von Gedächtnisinhalten und ihren Verknüpfungen durch Wiederholung - Interpretieren: Dinge werden nicht nur wahrgenommen sondern (vorwissensabhängig) interpretiert Qualität der Interpretation einer Problemstellung ist häufig für weitere Lernprozesse entscheidend (z.B. können Schüler eine Textaufgabe als zu ergänzende Geschichte auffassen oder als Übung, bei der es allein ums Ausführen einer Rechenop. geht) - Generieren: neues Wissen wird von Lernenden geschaffen o beim entdeckenden Lernen im Vordergrund, ist aber auch beim „rezeptiven“ Lernen bekannt (z.B. das Ziehen von Inferenzen im Textverstehensmodell von Kintsch, 1996) o Wichtig für Wissenserwerb: Generieren/Konstruktion abstrakter Wissenstrukturen/Schemata aus Beispielen o Generieren deklarativen Wissens durch wiederholte Ausführung einer Tätigkeit, wodurch Durchführung der Tätigkeit überflüssig gemacht wird - o Generieren spezifischer Bedingungs-Handlungs-Regeln durch die Ausführung von Fertigkeiten (durch Automatisierung werden weniger Aufmerksamkeitsressourcen gebraucht) Metakognitives Planen, Überwachen und Regulieren: Steuerung und Überwachung der kognitiven Prozesse Die letzten drei Funktionen (Interpretieren, Generieren, Metakognition) sind wichtig um Lerneffekte in den verschiedenen Lernformen zu erklären Funktionen statt Lernstrategien! o Eine Vorgehensweise/Lernstrategie kann mehrere Funktionen erfüllen (z.B. könnte „etwas in eigenen Worten darstellen“ sowohl Elaboration als auch Organisation sein) 3. Komplexe Aufgabenstellung, mentale Schülerinitiative und externe Strukturierung: der richtige Mix macht´s! - unterschiedliche (Unter-)Lernziele bei den beiden prototypischen Lehr-Lern-Formen (Konstruktivistisch vs. Traditionell) z.B. ist bei offenen Lernformen ein Ziel die Lernstrategieförderung - gemeinsames Hauptziel ist jedoch generell das Verständnis des Lernstoffs Traditionelles (Lehrergesteuertes) Konstruktivistisches Vorgehen (offenes) Vorgehen - Probleminterpretation (genaue Vorteile Welche Erläuterung wohldefinierter Probleme) Prozesse werden - Elaboration (Beispiele aus dem Alltag durch den Lehrer geben) erleichtert? - Organisation (Herausstellen von Hauptpunkten) - Metakog. Überwachung (Verständniskontrolle mithilfe von Fragen) - Interpretation (Probleme mit geringem - Interpretation (bei zu Nachteile Was kann Interpretationsspielraum offener Struktur keine erschwert werden? Wiedererkennen genügt, kein eigenes sinnvolle Interpretation der Generieren von Interpretation Aufgabenstellung) - Elaboration: vom Lehrer genannte - Elaboration (passendes Bsp. Beispiele passen vielleicht nicht zum wird nicht gefunden) Vorwissensniveau aller Schüler aktive Wissenskonstruktion & Verständnis des Lernstoffes wird ermöglicht, wenn so wenig Struktur wie möglich und so viel wie nötig vorgegeben wird (abhängig von vorhandenem Vorwissen und Lernstrategien der Schüler) - Vorsicht: aktive mentale Auseinandersetzung mit Lernstoff reicht nicht: Erkennen, Interpretieren, Organisieren und Elaborieren zentraler Fakten ist nötig o Ansonsten Gefahr der zu großen Beachtung und Speicherung von seductive Details oder der stärkeren Gewichtung nebensächlicher Aspekte im Vergleich zu zentralen Aspekten (malpriorized concepts) Effektives Lehren evoziert aktive Informationsverarbeitung - kann gewährleistet werden durch komplexe Aufgabenstellung (Anreiz/Notwendigkeit tiefer IVA), Schaffen von Freiräumen der IVA (Gelegenheit zur tiefen IVA und Einbringen von Vorwissen) und ausreichende Vorgabe externer Struktur (Ermöglichung produktiver Verarbeitung zentraler Aspekte)