Lernen durch Bewegung Wie Babys, Kinder und Erwachsene lernen aus der Sicht von Body-Mind Centering Als Lernen bezeichnet man Vorgänge, bei denen sich der Mensch neue Verhaltensweisen aneignet, die ihn befähigen, auf neue Art und Weise zu reagieren, d.h. sein Verhalten je nach dem, was gerade passiert, zu variieren. Das kann “Lesen Lernen” sein, aber auch “Fahrrad Fahren”, “Sich nicht immer so aufregen”, “Sich ausruhen”, oder “seinen Körper entdecken”. Dabei kann die Information sowohl von außen (unserer Umgebung) kommen, als auch von Innen (unserem eigenen Körper). Neben Reizen also, die uns durch unsere Sinnesorgane erreichen, wie Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten, erhalten wir von unserem Körper ständig Informationen darüber, in welcher Haltung er sich gerade befindet (Stehend, liegend, etwas greifen, etc.) oder ob wir uns im Gleichgewicht befinden, wie warm unser Körper ist, wie wir atmen, ob unser Herz schnell oder langsam schlägt, oder ob wir gerade etwas verdauen. Und wie wir uns fühlen, unser “Gefühle” und Emotionen, innere Bewegungen. Diese Informationen sind besonders wichtig, ja überlebensnotwendig, weil wir durch diese Informationen über den Zustand unseres Körpers auf dem Laufenden gehalten werden. Der ganze Körper ist mit Bewusstsein durchdrungen. Jede Zelle, alle Gewebe, Organe und Körpersysteme atmen Leben. Wir sind uns dieser Tatsache nicht immer bewusst, können jedoch durch Aufmerksamkeitsübungen und Berührung wieder Zugang zu diesem Wissen finden. Dadurch fühlt sich unser Körper insgesamt vitaler, leichter und beweglicher an. Bewegung, auch minimalster Art, auf den verschiedenen Körperebenen zu finden, hilft Bewegungseinschränkungen zu überwinden. Das bedeutet auch, zu lernen, seinen Körper auf neue Art und Weise wahrzunehmen. Wir können also Lernen zweifach verstehen, als Lernen von Vorgängen außerhalb von uns und als Lernen von Vorgängen in unserem Körper. Diese Unterscheidung ist sehr wichtig, weil erst durch ein starkes Gefühl für sich selbst (“Selbst-WertGefühl” und “Selbst-Bewusst-Sein”) der Mensch in Beziehung zu seiner äußeren Umwelt und damit zu anderen Menschen treten kann. Beide Arten von Lernen beeinflussen sich gegenseitig. Dabei müssen die innere Vorgänge mit den Äußeren in Einklang gebracht werden. Nehmen z.B. die inneren Vorgänge sehr viel Raum und Energie ein - wie z.B. bei körperlichen Heilungsprozessen (nach Krankheit, Trauma oder Schockerlebnissen) oder bei Babys und Kindern, die einen schweren Start hatten - dann bleibt oft nicht genug Energie übrig, um mit der Umwelt in Kontakt zu treten. Dann ist es wichtig, diesen Prozess zu unterstützen und die äußere Stimulierung erst einmal zurückzunehmen. Die kann bedeuten, sich zurück zu ziehen, ein Kur zu machen, das Kind nicht in die Schule zu schicken, Termine absagen etc. Damit kann eine Reorganisation und Restrukturierung statt finden. Es entsteht Zeit und Raum, sich selbst deutlicher wahrzunehmen. Dies gilt insbesondere für kleine Kinder und Babys, die nach der Geburt von ihrer Mutter getrennt wurden oder die durch Krankheit oder Behinderung eine verhinderte “Hinbewegung” zur Mutter erlebt haben. Dadurch kann das sogenannte “bonding” nachhaltig gestört werden. Lernen diese Kinder oder Babys wieder eine Beziehung zu sich selbst herzustellen, dann sind sie auch eher wieder in der Lage mit ihrer Mutter und anderen Bezugspersonen zu “bonden”. Daher ist eines der wichtigsten Ziele, dem Kind ein Gefühl des Wohlbefindens zu vermitteln, das oft durch einseitige Problematisierung und intensive krankengymnastische Behandlungen gestört wird. Dabei die Beziehung des Kindes zur Mutter (“bonding”) gestört, da sie ihr Kind oft nur noch als “Objekt” mit zahlreichen “Mängeln” sieht, die es zu beseitigen gilt. Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder, die eine einfache Spieltherapie erhalten, sich wesentlich besser entwickeln als Kinder, die einer intensiven krankengymnastischen Behandlung ausgesetzt sind, bei der die Mutter täglich, oft mehrmals, das Kind behandelt. Das erste Jahr im Leben eines Menschen ist auschlaggebend dafür, wie sich das Kind und später der Erwachsene entwickelt. Während dieser Zeit formen sich die Muster von Bewegung, Wahrnehmung und Informationsverarbeitung, auf deren Grundlage der Mensch die Beziehung zu sich und anderen aufbaut (“bonding”) und sein grundlegendes Lernverhalten geprägt wird. In diesem frühen Stadium ist Bewegungsentwicklung, geistige und emotionale Entwicklung noch eins. Daher kann die Förderung von Babys gerade im ersten Lebensjahr so effektiv sein. Durch Berührung und Bewegung nimmt bereits das Ungeborene im Mutterleib mit seiner Umwelt Kontakt auf. Sie bilden das Fundament für das spätere Lernen von komplizierteren Vorgängen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir einem Baby oder Kleinkind körperliches sowie emotionales Wohlgefühl vermitteln, dass es Spaß am Leben und der Bewegung lernt, Neugierde, Vertrauen und die Fähigkeit, mit der Umwelt in Beziehung zu treten, entwickeln kann. Effektives Lernen kann nur geschehen, wenn diese grundlegenden Lernvorgänge optimiert werden, d.h. dass eine Veränderung früher Bewegungs- und Organisationsmuster auch neue Wege des Lernens aufzeigen kann, z.B. bei Lernproblemen oder Legasthenie. Entscheidend für diese Lernprozesse ist Bewegung. Erst durch Bewegung kann sich das Nervensystem organisieren und Strukturen abspeichern. Diese Strukturen erlauben es dem Körper, komplizierte Abläufe in Mustern zusammenzufassen, um ein schnelleres und einfacheres Arbeiten zu ermöglichen. Dadurch wird Bewegung auf einer immer höheren Ebene abgespeichert und automatisiert. Dabei kommt es aber immer wieder vor, dass Bewegunsstrukturen abgespeichert werden, die nur für einen kurzen Zeitraum von Nutzen waren oder die als Kompensation für eine vorübergehende Einschränkung gelernt wurden. Andereseits gibt es neurologische Grundmuster, die als Potentiale im Menschen angelegt sind und seine Entwicklung vorantreiben. Diese Entwicklungsmuster leiten den Menschen in seinem Wachstum vom Verschmelzen von Ei- und Samenzelle bis zum aufrechten Gang. Durch die Förderung und Unterstützung dieser frühen Bewegungsorganisation können Entwicklungs- verzögerung manchmal sehr rasch aufgeholt werden. Lernen findet auch auf der zellulären Ebene statt. Dies bedeutet, dass das Wissen des Körpers auf allen Ebenen gespeichert ist und nicht nur im Gehirn. Wenn wir eine neue Erfahrung machen, wenn wir etwas Neues lernen, verändert dies die Körperchemie jeder einzelnen Zelle. Die Rezeptoren an der Zelloberfläche vermehren oder reduzieren sich je nach Stimulation von außen. Sie passen sich den veränderten Bedingungen an. Das heißt, wenn es gelingt, auf der körperlichen und damit zellulären Ebene eine Veränderung herbeizuführen, dann kann sich das auch in “neuem Wissen” im Nervensystem ausdrücken. Besondere Bedeutung kommt den Prozessen innerhalb der Zelle zu. Die einzelnen Zellbestandteile - Organellen wie Mitochondrien, Ribosomen oder der Zellkern mit DNA und RNA sowie das Zellskelett und die zelluläre Flüssigkeit - sind ein Spiegel der Körpersysteme. Veränderungen auf der Zellebene haben immer auch einen Einfluss auf Veränderungen auf der Organ- und Ganzkörperebene. Besondere Bedeutung kommt der Wahrnehmung als Teil der Entwicklung und Reifung des Nervensystems zu. Die Sinnesorgane sind unser Tor, durch das wir mit der Welt in Beziehung treten. Darüber hinaus erwecken die Sinne seelische Qualitäten in uns, die unsere Entwicklung beeinflussen. Sie ermöglichen erst den Zugang zu uns selbst. Der Tastsinn entwickelt sich als erstes Sinnesorgan bereits im Mutterleib und gibt uns über die Haut ein Gefühl unserer eigenen Grenzen. Die Geburt ist ein Übergang von der geschützten Umgebung im Mutterleib zu einer völlig fremden Umwelt. Dieser Verlust des Verbundenseins mit der Mutter äußerst sich oft in Angst, Unsicherheit oder Unruhe. Besonders Kinder mit einem schweren Start, die von ihrer Mutter gleich nach der Geburt getrennt wurden, brauchen Unterstützung diese Verbindung zu sich selbst und der Mutter wieder herzustellen. Die Eigenwahrnehmung umfasst Gefühle wie Hunger, Durst, Wohlbefinden oder Unbehagen, die uns über jede einzelnen Zelle und das vegetative Nervensystem den Zustand unseres Körpers mitteilen. Sie umfasst außerdem den Bewegungssinn, der uns unsere Position bzw. die Veränderung unserer Position im Raum vermittelt - dies ist vor allem mit Freude an der Bewegung assoziiert - und den Gleichgewichtssinn, der uns neben einer aufrechten Haltung auch ein Gefühl von verschiedenen Rhythmen wie Tag/ Nacht oder den Jahreszeiten vermittelt. Weitere Sinne sind Geruchs- und Geschmackssinn sowie Gehör- und Gesichtssinn. Die Bedeutung dieser Sinne liegt vor allem in der Anregung durch äußere Reize. Sie sind entscheiden für die Motivation, die eigene, begrenzte Sphäre zu verlassen und den Wunsch zu entwickeln, die Welt zu entdecken und Dinge aus der Umwelt in die eigene Sphäre zu ziehen (Essen, Trinken, Sachen mit dem Mund entdecken, etc.). Neue Information erreicht den Menschen über die Pforten der Wahrnehmung und ermöglicht erst Lernen. Dadurch bietet die Arbeit mit den Sinnen viele Anregungen, Kindern und auch Erwachsenen mit Bewegungsdefiziten und neurologischen Beschwerden in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Restrukturierung von Wissen - Neues Lernen In der Körper- und Bewegungstherapie nach Bonnie Bainbridge Cohen (Body-Mind Centering) gibt es viele Wege, das Lernen anzuregen. Die Grundidee ist, verborgene Potentiale ans Licht zu befördern, wie eine Blütenknospe zum Erblühen zu verhelfen. Neues zu lernen, hat auch viele Entsprechungen auf der körperlichen Ebene. Lernen geschieht durch die Anerkennung vorhandener und die Förderung unerkannter Fähigkeiten. durch das Initiieren von Bewegungen in den Körpersystemen. durch die Unterstützung neuer und unmittelbarer Bewegungserfahrungen. durch die Verstärkung und Kanalisierung von Flüssen im Nervensystem, so dass die Nerven neue Erfahrungen speichern und abrufen können. durch die Ermutigung, ineffiziente Bewegungsmustern aufzugeben, die zur Gewohnheit geworden sind, so dass neue und effizientere Muster ablaufen können. durch die Unterstützung bereits angelegter Bewegungsstrukturen (die sogenannten “basic neurological patterns”), welche als Potentiale im Nervensystem gespeichert sind. durch die Stimulierung der Wahrnehmung als Tor zu den inneren Welten und zu neuen Bewegungserfahrungen. durch das Erwecken des Verlangens, die Welt zu entdecken und zu erforschen. Besonders wichtig ist dabei die Bewegungsorganisation: Wie organisiert die Person Bewegung in den drei Körperebenen und welche Körpersysteme sind im Vordergrund, welche im Hintergrund? Warum tut die Person etwas, und warum kann sie bestimmte Dinge nicht in die Tat umsetzten? Welche Reflexe, Richtungsreaktionen und Stellreaktionen sind aktiv oder können aktiviert werden? Welche Neurologischen Muster sind aktiviert, welche können erweckt werden? Was will die Person und was macht es, um das zu bekommen? Wie ist die Beziehung und das Gleichgewicht zwischen: Kopf und Rumpf? Rechter und linker Körperseite? Ober- und Unterkörper? Vorder- und Rückseite des Körpers? Zentrum (Kopf und Wirbelsäule) und Peripherie (Brustkorb, Arme, Becken, Beine)? All diese Beobachtungen führen zu einem Gesamtbild, das Körper, Seele und Geist mit einschließt. Diese Beobachtungen werden gemäß den oben genannten Prinzipien in jeder Einzelstunde umgesetzt. Jedes Kind und jeder Erwachsene ist so wie er ist in Ordnung unabhängig von seiner Einschränkung - genau so wie er ist. Er ist “heil” und ein wunderbares Wesen. Diese Einzigartigkeit zu entdecken und der Schönheit ans Licht zu verhelfen, ist eine wundervolle Herausforderung. In einer Einzelsitzung geht es darum, genau hin zu sehen, ja oft jenseits des Sichtbaren wahrzunehmen, was das Potential des Kindes oder des Erwachsenen ist, um heraus zu finden, was es gemeinsam zu entdecken gibt und dann neue Möglichkeiten zu erforschen, auf eine Situation, auf einen Stimulus, auf neue Art und Weise zu reagieren, neue Verhaltensweisen auszuprobieren und Wege zu finden, die inneren Wünsche in die Tat umzusetzen.